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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg

Rußland war seit der Zeit der Revolution politisch im Innern zu einer
vollkommenen Stagnation gekommen. Das Oktobermanifest, das bestimmt
gewesen war, den Russen jene Grundfreiheiten zu geben, die im übrigen Europa
die Völker schon seit Menschenaltern besaßen, war durch die reaktionären Matz¬
nahmen Stolnpins und feiner Nachfolger zur Bedeutungslosigkeit zusammen¬
geschrumpft. Kein einziges der großen Ausführungsgesetze, die den einzelnen
Bestimmungen der Verfassungsurkunde das eigentliche Leben einhauchen, ihnen
Wesen geben sollten, war aus dem Schoße der Dumakommifsionen heraus¬
gekommen, die Administrativwillkür herrschte nach wie vor, die Selbstherrschaft
verstand es sich überall mit dem Verfassungsleben so abzufinden, daß sie mit
oder gegen den Buchstaben der Gesetze genau so ihren autokratischen Willen
durchsetzte, wie vor der Revolution. Die Duma arbeitete mit großer Sach¬
kenntnis auf dem einzigen Gebiete, das ihr wirklich überlassen war, auf dem
der Budgetbewilligung, war aber auch da von so vielen Beschränkungen.
Panzerungen und Gesetzeshintertüren gehemmt, daß das Volk sich im Grunde
einer Sysiphusarbeit gegenüber sah. Man arbeitete also so, wie es Tolstoi
nicht wünscht, daß man arbeitet, man ließ die höheren großen Ziele beiseite
und begnügte sich damit, daß es dem Volke wirtschaftlich anfing gut zu gehen
-- die Regierung hatte es verstanden, die Geister durch die Materie zu töten.

Dieser Zustand hatte wiederum die Führer der politischen ebenso wie der
literarischen Intelligenz in eine gewisse stumpfe Verzweiflung gebracht, aus der
sie keinen Ausweg mehr sahen. Der führenden Geister hatte sich entweder Ekel
oder Überdruß vor solchem politischen Treiben bemächtigt -- diejenigen Kreise,
deren Ideale oberflächlicher waren, hatten sich nach der Enttäuschung in der
Politik den Idealen eines Artzvbascheff zugewendet.

Hier nun schien der große Krieg einen Ausweg -- eine Rettung zu
bieten, die man freudig ergriff. Man sollte es nicht für möglich halten, es ist
aber nicht zu leugnen, daß die russische Intelligenz von der Durchführung
eines siegreichen Krieges die endliche Realisierung der großen liberalen Gedanken
erträumte, die die Revolution nicht hatte bringen können. Man lese die Vorträge
eines Winogradow in England, man versetze sich in die Gedankengänge eines
Burtzew, Gorki, einer Vera Figner, sie alle sind von den gleichen Ideen beseelt:
die union saLröe wird die Regierung dem Volke nähern, die Regierung wird
nicht anders können, als die großen Dienste, die die Gesellschaft ihr geleistet
hat, anzuerkennen, und dem Volke großmütig jede Freiheit gewähren, die sie
ihm bisher vorenthalten hat. Der Krieg ist daher nach der Idee der russischen
Intelligenz nicht nur ein Befreiungskrieg nach außen für die slawischen Brüder¬
völker vom teutonischen Joch, sondern auch ein Befreiungskrieg nach innen, ein
Befreiungskrieg für das eigene Volk.

Einem kühlen Beobachter wird es nicht entgangen sein, daß auf diese
Blütenträume, deren Gedankengang von Anfang an hinkte, schon mancher
Rauhreif gefallen ist. Eine kühlere Überlegung hätte den liberalen Schichten


Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg

Rußland war seit der Zeit der Revolution politisch im Innern zu einer
vollkommenen Stagnation gekommen. Das Oktobermanifest, das bestimmt
gewesen war, den Russen jene Grundfreiheiten zu geben, die im übrigen Europa
die Völker schon seit Menschenaltern besaßen, war durch die reaktionären Matz¬
nahmen Stolnpins und feiner Nachfolger zur Bedeutungslosigkeit zusammen¬
geschrumpft. Kein einziges der großen Ausführungsgesetze, die den einzelnen
Bestimmungen der Verfassungsurkunde das eigentliche Leben einhauchen, ihnen
Wesen geben sollten, war aus dem Schoße der Dumakommifsionen heraus¬
gekommen, die Administrativwillkür herrschte nach wie vor, die Selbstherrschaft
verstand es sich überall mit dem Verfassungsleben so abzufinden, daß sie mit
oder gegen den Buchstaben der Gesetze genau so ihren autokratischen Willen
durchsetzte, wie vor der Revolution. Die Duma arbeitete mit großer Sach¬
kenntnis auf dem einzigen Gebiete, das ihr wirklich überlassen war, auf dem
der Budgetbewilligung, war aber auch da von so vielen Beschränkungen.
Panzerungen und Gesetzeshintertüren gehemmt, daß das Volk sich im Grunde
einer Sysiphusarbeit gegenüber sah. Man arbeitete also so, wie es Tolstoi
nicht wünscht, daß man arbeitet, man ließ die höheren großen Ziele beiseite
und begnügte sich damit, daß es dem Volke wirtschaftlich anfing gut zu gehen
— die Regierung hatte es verstanden, die Geister durch die Materie zu töten.

Dieser Zustand hatte wiederum die Führer der politischen ebenso wie der
literarischen Intelligenz in eine gewisse stumpfe Verzweiflung gebracht, aus der
sie keinen Ausweg mehr sahen. Der führenden Geister hatte sich entweder Ekel
oder Überdruß vor solchem politischen Treiben bemächtigt — diejenigen Kreise,
deren Ideale oberflächlicher waren, hatten sich nach der Enttäuschung in der
Politik den Idealen eines Artzvbascheff zugewendet.

Hier nun schien der große Krieg einen Ausweg — eine Rettung zu
bieten, die man freudig ergriff. Man sollte es nicht für möglich halten, es ist
aber nicht zu leugnen, daß die russische Intelligenz von der Durchführung
eines siegreichen Krieges die endliche Realisierung der großen liberalen Gedanken
erträumte, die die Revolution nicht hatte bringen können. Man lese die Vorträge
eines Winogradow in England, man versetze sich in die Gedankengänge eines
Burtzew, Gorki, einer Vera Figner, sie alle sind von den gleichen Ideen beseelt:
die union saLröe wird die Regierung dem Volke nähern, die Regierung wird
nicht anders können, als die großen Dienste, die die Gesellschaft ihr geleistet
hat, anzuerkennen, und dem Volke großmütig jede Freiheit gewähren, die sie
ihm bisher vorenthalten hat. Der Krieg ist daher nach der Idee der russischen
Intelligenz nicht nur ein Befreiungskrieg nach außen für die slawischen Brüder¬
völker vom teutonischen Joch, sondern auch ein Befreiungskrieg nach innen, ein
Befreiungskrieg für das eigene Volk.

Einem kühlen Beobachter wird es nicht entgangen sein, daß auf diese
Blütenträume, deren Gedankengang von Anfang an hinkte, schon mancher
Rauhreif gefallen ist. Eine kühlere Überlegung hätte den liberalen Schichten


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[0402] Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg Rußland war seit der Zeit der Revolution politisch im Innern zu einer vollkommenen Stagnation gekommen. Das Oktobermanifest, das bestimmt gewesen war, den Russen jene Grundfreiheiten zu geben, die im übrigen Europa die Völker schon seit Menschenaltern besaßen, war durch die reaktionären Matz¬ nahmen Stolnpins und feiner Nachfolger zur Bedeutungslosigkeit zusammen¬ geschrumpft. Kein einziges der großen Ausführungsgesetze, die den einzelnen Bestimmungen der Verfassungsurkunde das eigentliche Leben einhauchen, ihnen Wesen geben sollten, war aus dem Schoße der Dumakommifsionen heraus¬ gekommen, die Administrativwillkür herrschte nach wie vor, die Selbstherrschaft verstand es sich überall mit dem Verfassungsleben so abzufinden, daß sie mit oder gegen den Buchstaben der Gesetze genau so ihren autokratischen Willen durchsetzte, wie vor der Revolution. Die Duma arbeitete mit großer Sach¬ kenntnis auf dem einzigen Gebiete, das ihr wirklich überlassen war, auf dem der Budgetbewilligung, war aber auch da von so vielen Beschränkungen. Panzerungen und Gesetzeshintertüren gehemmt, daß das Volk sich im Grunde einer Sysiphusarbeit gegenüber sah. Man arbeitete also so, wie es Tolstoi nicht wünscht, daß man arbeitet, man ließ die höheren großen Ziele beiseite und begnügte sich damit, daß es dem Volke wirtschaftlich anfing gut zu gehen — die Regierung hatte es verstanden, die Geister durch die Materie zu töten. Dieser Zustand hatte wiederum die Führer der politischen ebenso wie der literarischen Intelligenz in eine gewisse stumpfe Verzweiflung gebracht, aus der sie keinen Ausweg mehr sahen. Der führenden Geister hatte sich entweder Ekel oder Überdruß vor solchem politischen Treiben bemächtigt — diejenigen Kreise, deren Ideale oberflächlicher waren, hatten sich nach der Enttäuschung in der Politik den Idealen eines Artzvbascheff zugewendet. Hier nun schien der große Krieg einen Ausweg — eine Rettung zu bieten, die man freudig ergriff. Man sollte es nicht für möglich halten, es ist aber nicht zu leugnen, daß die russische Intelligenz von der Durchführung eines siegreichen Krieges die endliche Realisierung der großen liberalen Gedanken erträumte, die die Revolution nicht hatte bringen können. Man lese die Vorträge eines Winogradow in England, man versetze sich in die Gedankengänge eines Burtzew, Gorki, einer Vera Figner, sie alle sind von den gleichen Ideen beseelt: die union saLröe wird die Regierung dem Volke nähern, die Regierung wird nicht anders können, als die großen Dienste, die die Gesellschaft ihr geleistet hat, anzuerkennen, und dem Volke großmütig jede Freiheit gewähren, die sie ihm bisher vorenthalten hat. Der Krieg ist daher nach der Idee der russischen Intelligenz nicht nur ein Befreiungskrieg nach außen für die slawischen Brüder¬ völker vom teutonischen Joch, sondern auch ein Befreiungskrieg nach innen, ein Befreiungskrieg für das eigene Volk. Einem kühlen Beobachter wird es nicht entgangen sein, daß auf diese Blütenträume, deren Gedankengang von Anfang an hinkte, schon mancher Rauhreif gefallen ist. Eine kühlere Überlegung hätte den liberalen Schichten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/402>, abgerufen am 22.07.2024.