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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Arieg

Rußlands sagen sollen, daß die herrschende Autokratie und Hierachie nicht daran
denkt, auch nur ein wesentliches Titelchen von ihrer Macht anders als der Not
gehorchend dem Volke abzugeben, daß aber gar ein stegreicher Krieg ihr im
Gegenteil neue Macht geben muß. Die letzten hochinteressanter Ereignisse sind
dafür durchaus kennzeichnend. Es bedürfte des Falles von Przemvsl und
der Schwierigkeiten in der inneren Organisation des Landes, um der Regierung
die Wünsche der Gesellschaft verständlich zu machen. Offenbar haben diese
Spannungen, die vielleicht durch eine Einberufung der Duma ein Sicherheits¬
ventil finden werden, zum Sturze von Maklakow beigetragen.

Die Zukunft wird zeigen, wie die russische Gesellschaft sich-weiter zum
Kriege stellen wird, ob die wie es scheint bevorstehende Einberufung der Volks¬
vertretung zu einer strafferen Organisation des Krieges im Sinne der Lloyd
Georgeschen Ideen führen wird, oder ob in die russische Gesellschaft die Erkenntnis
eindringen wird, daß sie im Grunde in ihrer Begeisterung für den Krieg, bei
dre gewiß viele edle Gefühle neben chauvinistischen und Haßgedanken zum Aus¬
druck gekommen sind, sich einer ungeheuren Täuschung hingegeben hat. Eine
beginnende Revision der Gesichtspunkte deuten gewisse Gedanken an, die sich in
der letzten Zeit mehrfach in der russischen Presse fanden, Gedanken darüber, daß im
Grunde Rußland bei seinen Verbündeten nicht ganz das gefunden Hot, was es
suchte. Alle Joffreschen Durchbruchsversuche haben die große Offensive der
Deutschen im Osten nicht hindern können, die bescheidenen Anstrengungen, die
England an den Dardanellen und in Frankreich macht, haben die Erfüllung
dessen, was Rußland von diesem Kriege erträumte, nicht um einen Schritt näher
gebracht, und es ist keine Aussicht dafür vorhanden, daß das anders wird.
Rußland hat in gewiß tüchtig geschlagenen Schlachten ungeheure Opfer an
Menschen und Material gebracht -- pour w roi ä'^nAletsl-rs. Als Rußland
finanzielle Unterstützung von England wünschte, mußte es Gold nach England
exportieren, jetzt muß es seine großen Anleihen im Lande selbst unterzubringen
versuchen. Auch die Träume einer wirksamen englisch-französischen Finanz¬
unterstützung sind zu Schaum geworden.

So wird auch sür die russische Intelligenz dieser Krieg schließlich ein
großer Lehrmeister sein. Die äußere Entwicklung der Weltereignisse ebenso wie
die innere Entwicklung des politischen Lebens in Rußland wird die alten Ideale
prüfen, bestätigen oder verwerfen.

Sollte das letztere eintreten, so wird die gewaltige Enttäuschung die
Platz greifen muß, für die äußere Politik des russischen Reiches und für
das innervölitische Leben des Landes nicht ohne tiefsteinschneidc'nde Folgen
bleiben können.




Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Arieg

Rußlands sagen sollen, daß die herrschende Autokratie und Hierachie nicht daran
denkt, auch nur ein wesentliches Titelchen von ihrer Macht anders als der Not
gehorchend dem Volke abzugeben, daß aber gar ein stegreicher Krieg ihr im
Gegenteil neue Macht geben muß. Die letzten hochinteressanter Ereignisse sind
dafür durchaus kennzeichnend. Es bedürfte des Falles von Przemvsl und
der Schwierigkeiten in der inneren Organisation des Landes, um der Regierung
die Wünsche der Gesellschaft verständlich zu machen. Offenbar haben diese
Spannungen, die vielleicht durch eine Einberufung der Duma ein Sicherheits¬
ventil finden werden, zum Sturze von Maklakow beigetragen.

Die Zukunft wird zeigen, wie die russische Gesellschaft sich-weiter zum
Kriege stellen wird, ob die wie es scheint bevorstehende Einberufung der Volks¬
vertretung zu einer strafferen Organisation des Krieges im Sinne der Lloyd
Georgeschen Ideen führen wird, oder ob in die russische Gesellschaft die Erkenntnis
eindringen wird, daß sie im Grunde in ihrer Begeisterung für den Krieg, bei
dre gewiß viele edle Gefühle neben chauvinistischen und Haßgedanken zum Aus¬
druck gekommen sind, sich einer ungeheuren Täuschung hingegeben hat. Eine
beginnende Revision der Gesichtspunkte deuten gewisse Gedanken an, die sich in
der letzten Zeit mehrfach in der russischen Presse fanden, Gedanken darüber, daß im
Grunde Rußland bei seinen Verbündeten nicht ganz das gefunden Hot, was es
suchte. Alle Joffreschen Durchbruchsversuche haben die große Offensive der
Deutschen im Osten nicht hindern können, die bescheidenen Anstrengungen, die
England an den Dardanellen und in Frankreich macht, haben die Erfüllung
dessen, was Rußland von diesem Kriege erträumte, nicht um einen Schritt näher
gebracht, und es ist keine Aussicht dafür vorhanden, daß das anders wird.
Rußland hat in gewiß tüchtig geschlagenen Schlachten ungeheure Opfer an
Menschen und Material gebracht — pour w roi ä'^nAletsl-rs. Als Rußland
finanzielle Unterstützung von England wünschte, mußte es Gold nach England
exportieren, jetzt muß es seine großen Anleihen im Lande selbst unterzubringen
versuchen. Auch die Träume einer wirksamen englisch-französischen Finanz¬
unterstützung sind zu Schaum geworden.

So wird auch sür die russische Intelligenz dieser Krieg schließlich ein
großer Lehrmeister sein. Die äußere Entwicklung der Weltereignisse ebenso wie
die innere Entwicklung des politischen Lebens in Rußland wird die alten Ideale
prüfen, bestätigen oder verwerfen.

Sollte das letztere eintreten, so wird die gewaltige Enttäuschung die
Platz greifen muß, für die äußere Politik des russischen Reiches und für
das innervölitische Leben des Landes nicht ohne tiefsteinschneidc'nde Folgen
bleiben können.




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[0403] Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Arieg Rußlands sagen sollen, daß die herrschende Autokratie und Hierachie nicht daran denkt, auch nur ein wesentliches Titelchen von ihrer Macht anders als der Not gehorchend dem Volke abzugeben, daß aber gar ein stegreicher Krieg ihr im Gegenteil neue Macht geben muß. Die letzten hochinteressanter Ereignisse sind dafür durchaus kennzeichnend. Es bedürfte des Falles von Przemvsl und der Schwierigkeiten in der inneren Organisation des Landes, um der Regierung die Wünsche der Gesellschaft verständlich zu machen. Offenbar haben diese Spannungen, die vielleicht durch eine Einberufung der Duma ein Sicherheits¬ ventil finden werden, zum Sturze von Maklakow beigetragen. Die Zukunft wird zeigen, wie die russische Gesellschaft sich-weiter zum Kriege stellen wird, ob die wie es scheint bevorstehende Einberufung der Volks¬ vertretung zu einer strafferen Organisation des Krieges im Sinne der Lloyd Georgeschen Ideen führen wird, oder ob in die russische Gesellschaft die Erkenntnis eindringen wird, daß sie im Grunde in ihrer Begeisterung für den Krieg, bei dre gewiß viele edle Gefühle neben chauvinistischen und Haßgedanken zum Aus¬ druck gekommen sind, sich einer ungeheuren Täuschung hingegeben hat. Eine beginnende Revision der Gesichtspunkte deuten gewisse Gedanken an, die sich in der letzten Zeit mehrfach in der russischen Presse fanden, Gedanken darüber, daß im Grunde Rußland bei seinen Verbündeten nicht ganz das gefunden Hot, was es suchte. Alle Joffreschen Durchbruchsversuche haben die große Offensive der Deutschen im Osten nicht hindern können, die bescheidenen Anstrengungen, die England an den Dardanellen und in Frankreich macht, haben die Erfüllung dessen, was Rußland von diesem Kriege erträumte, nicht um einen Schritt näher gebracht, und es ist keine Aussicht dafür vorhanden, daß das anders wird. Rußland hat in gewiß tüchtig geschlagenen Schlachten ungeheure Opfer an Menschen und Material gebracht — pour w roi ä'^nAletsl-rs. Als Rußland finanzielle Unterstützung von England wünschte, mußte es Gold nach England exportieren, jetzt muß es seine großen Anleihen im Lande selbst unterzubringen versuchen. Auch die Träume einer wirksamen englisch-französischen Finanz¬ unterstützung sind zu Schaum geworden. So wird auch sür die russische Intelligenz dieser Krieg schließlich ein großer Lehrmeister sein. Die äußere Entwicklung der Weltereignisse ebenso wie die innere Entwicklung des politischen Lebens in Rußland wird die alten Ideale prüfen, bestätigen oder verwerfen. Sollte das letztere eintreten, so wird die gewaltige Enttäuschung die Platz greifen muß, für die äußere Politik des russischen Reiches und für das innervölitische Leben des Landes nicht ohne tiefsteinschneidc'nde Folgen bleiben können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/403>, abgerufen am 22.07.2024.