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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg

mit Deutschland -- wirtschaftlich und finanziell so schnell erholt hat, wie Rußland
nach dem japanischen Kriege. Aber der glänzende Stand von Wirtschaft und
Finanzen mußten zugleich für eine Regierung, in der sich nicht mehr die Männer
befanden, die ihre ganze Mühe seit Jahrzehnten für diese wirtschaftlichen
Ideale eingesetzt hatten, eine ungeheure Versuchung sein.

Der gute Stand der Wirtschaft, das Vorhandensein eines gewaltigen Bar¬
vorrats in den Kassen des Reiches hat den russischen Staatsmännern das Rückgrat
zu der aggressiven Politik gestützt, die sie während der großen europäischen Krisis
vom Beginn ab gegen die Zentralmächte konsequent durchführten. Natürlich
kann man das russische Volk, die russische Gesellschaft nicht für die Politik seiner
Staatsmänner während der Krise schlechtweg verantwortlich machen. Genau
wie in dem demokratischen England und dem republikanischen Frankreich ist es
das Werk weniger Männer gewesen, das schließlich den Krieg herbeigeführt hat,
aber man kann wohl sagen, daß die Aufnahme der angeblichen deutschen Heraus¬
forderung -- so wurde dem russischen Volk das deutsche Ultimatum dargestellt --
durchaus nach dein Sinne der russischen Intelligenz war.

Es war ein Krieg nach dem Herzen der russischen Intelligenz -- ein
vaterländischer Krieg. Aber nicht nur Widerwille gegen die Deutschen oder
außerpolitische Gegensätze allein waren für ihre Haltung maßgebend. Die
russische Intelligenz wies noch aus anderem Grunde den Gedanken eines
Krieges mit Deutschland nicht zurück. Diese Intelligenz war immer westlich
demokratisch orientiert. Sonderbar mutet es uns an, zu denken, daß der Krieg
der slawischen Frauen, der Großfürstenpartei zugleich ein Krieg der demokratischen
russischen Gebildeten oder Halbgebildeten ist. Aber die Tatsache ist nicht zu
bestreiten. Deutschland hatte im Grunde nur noch wenige politische Freunde
in Rußland: wir müssen sie bei den Vertretern des reaktionären Großgrund¬
besitztums, des feudalen Konservativismus suchen. Die Intelligenz fühlte sich
ihrem politischen Denken nach den demokratischen Idealen des Wesens viel näher.
In dem Preußentume fah der russische Kadett etwas seiner eigenen Regierung.
Wesensverwandtes, dazu kamen die allzuguten Beziehungen zwischen der russischen
Regierung und der deutschen stets ihren Wünschen gefälligen Polizei, die für
viele Russen den Aufenthalt in Deutschland mit unangenehmen Erinnerungen
belasteten, während auf der andern Seite die freie englische Tradition und
französisches Republikanertmn ihn mächtig anzogen. Es bestanden also keine
Fäden der Sympathie, die hätten zerrissen werden müssen, um den Gedanken
eines Waffenganges mit Deutschland den Gemütern vertraut zu machen. Im
Gegenteil, gerade an dem Beispiel Professor Mitrofanows steht man, wie selbst
ein Mann, der seine ganze wissenschaftliche Ausbildung der deutschen Wissenschaft
verdankt, den enge Freundschaft mit deutschen Gelehrten verband, diesen Gedanken
nicht nur nicht abwies, sondern ihn mit logischer Konsequenz entwickelte.

Schließlich darf man neben allen anderen Gesichtspunkten die innerpolitischen
Gedankengänge des liberalen Rußlands nicht außer acht lassen.


Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg

mit Deutschland — wirtschaftlich und finanziell so schnell erholt hat, wie Rußland
nach dem japanischen Kriege. Aber der glänzende Stand von Wirtschaft und
Finanzen mußten zugleich für eine Regierung, in der sich nicht mehr die Männer
befanden, die ihre ganze Mühe seit Jahrzehnten für diese wirtschaftlichen
Ideale eingesetzt hatten, eine ungeheure Versuchung sein.

Der gute Stand der Wirtschaft, das Vorhandensein eines gewaltigen Bar¬
vorrats in den Kassen des Reiches hat den russischen Staatsmännern das Rückgrat
zu der aggressiven Politik gestützt, die sie während der großen europäischen Krisis
vom Beginn ab gegen die Zentralmächte konsequent durchführten. Natürlich
kann man das russische Volk, die russische Gesellschaft nicht für die Politik seiner
Staatsmänner während der Krise schlechtweg verantwortlich machen. Genau
wie in dem demokratischen England und dem republikanischen Frankreich ist es
das Werk weniger Männer gewesen, das schließlich den Krieg herbeigeführt hat,
aber man kann wohl sagen, daß die Aufnahme der angeblichen deutschen Heraus¬
forderung — so wurde dem russischen Volk das deutsche Ultimatum dargestellt —
durchaus nach dein Sinne der russischen Intelligenz war.

Es war ein Krieg nach dem Herzen der russischen Intelligenz — ein
vaterländischer Krieg. Aber nicht nur Widerwille gegen die Deutschen oder
außerpolitische Gegensätze allein waren für ihre Haltung maßgebend. Die
russische Intelligenz wies noch aus anderem Grunde den Gedanken eines
Krieges mit Deutschland nicht zurück. Diese Intelligenz war immer westlich
demokratisch orientiert. Sonderbar mutet es uns an, zu denken, daß der Krieg
der slawischen Frauen, der Großfürstenpartei zugleich ein Krieg der demokratischen
russischen Gebildeten oder Halbgebildeten ist. Aber die Tatsache ist nicht zu
bestreiten. Deutschland hatte im Grunde nur noch wenige politische Freunde
in Rußland: wir müssen sie bei den Vertretern des reaktionären Großgrund¬
besitztums, des feudalen Konservativismus suchen. Die Intelligenz fühlte sich
ihrem politischen Denken nach den demokratischen Idealen des Wesens viel näher.
In dem Preußentume fah der russische Kadett etwas seiner eigenen Regierung.
Wesensverwandtes, dazu kamen die allzuguten Beziehungen zwischen der russischen
Regierung und der deutschen stets ihren Wünschen gefälligen Polizei, die für
viele Russen den Aufenthalt in Deutschland mit unangenehmen Erinnerungen
belasteten, während auf der andern Seite die freie englische Tradition und
französisches Republikanertmn ihn mächtig anzogen. Es bestanden also keine
Fäden der Sympathie, die hätten zerrissen werden müssen, um den Gedanken
eines Waffenganges mit Deutschland den Gemütern vertraut zu machen. Im
Gegenteil, gerade an dem Beispiel Professor Mitrofanows steht man, wie selbst
ein Mann, der seine ganze wissenschaftliche Ausbildung der deutschen Wissenschaft
verdankt, den enge Freundschaft mit deutschen Gelehrten verband, diesen Gedanken
nicht nur nicht abwies, sondern ihn mit logischer Konsequenz entwickelte.

Schließlich darf man neben allen anderen Gesichtspunkten die innerpolitischen
Gedankengänge des liberalen Rußlands nicht außer acht lassen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/401>, abgerufen am 22.07.2024.