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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg

Aufnahme, die die Potsdamer Besprechungen in der russischen öffentlichen
Meinung fanden, konnten den Unbefangenen erkennen lassen, daß sich hier
allmählich ein steinerner Wall des gegenseitigen Mißtrauens zwischen den beiden
benachbarten Reichen aufgerichtet hatte, den zu überbrücken von Jahr zu Jahr
schwieriger wurde. An diesem Walle hatten nicht zum wenigsten die Engländer
mit bauen helfen, die sich der Partei um die Nowoje Wremja herum versichert
hatten, um die russische Gesellschaft vor den Wagen der englischen Politik zu
spannen. Das Gefühl des Mißtrauens und Unbehagens, das in der
russischen Gesellschaft dem Deutschen gegenüber bestand, machte sie blind
gegen die wahren Absichten der englischen Politik. Die Zusammenkunft von
Reval, die böhmische Krise, die Gründung von Albanien hatten alle Wohl¬
taten vergessen lassen, die die deutsche Politik Rußland zur Zeit des russisch-
japanischen Krieges erwiesen hatte. Jeder Schritt, den Deutschland zur Ent¬
wicklung seiner Handelsinteressen in Persien, in der Türkei tat, wurde mit
Mißtrauen beobachtet, hinter der Gründung jeder neuen Fabrik witterte man
imperialistische Ausdehnungsgelüste Deutschlands. Der österreich-russische Gegen¬
satz auf dem Balkan, so fühlte man, erhielt nur dadurch überhaupt eine
Bedeutung für Rußland, daß Deutschland kraft der bestehenden Bündnis¬
verträge schützend hinter Österreich - Ungarn stehen mußte. Alle Be¬
mühungen Deutschlands, hier aussöhnend und vermittelnd zu wirken, blieben
ohne Anerkennung, denn schon die Vermittlung mußte einem Lande, das um
jeden Preis, nach der Liquidation aller seiner Unternehmungen im Osten, die
alten russischen Balkanträume verwirklichen wollte, unwillkommen sein. Es war
die Macht Deutschlands, die hier den russischen allslawischen Bestrebungen
hindernd in den Weg trat und deshalb hatte sich bei der russischen Gesellschaft
allmählich der Gedanke festgesetzt, wie ihn uns Professor Mitrofanow in seinem
bekannten Briefe an Delbrück geschildert hat. der Gedanke, daß Berlins Macht
vernichtet werden müsse, wenn man Wien zerschmettern wolle.

Zu diesen Anschauungen kam bas Bewußtsein der eigenen Macht und
staatlichen Fähigkeit, das sich der russischen Gesellschaft seit dem japanischen
Kriege bemächtigt hatte. Die guten Erntejahre, der beispiellose Aufschwung in
Handel und Wandel hatten Rußland nicht nur ermöglicht, die schlimme Erbschaft
des japanischen Abenteuers ohne Schwankungen zu liquidieren, sondern auch
bei immer wachsenden Staatsausgaben ohne große ausländische Anleihen allein
aus eigener Kraft die Reorganisation von Heer und Flotte vorzunehmen und
auch einen guten Teil von Kulturaufgaben zu verwirklichen, an die heranzugehen
noch vor einem Jahrzehnt ein frommer Wunsch gewesen wäre. Stolypins
großer Gedanke, die Agrarreform, wurde von dem sympathischen Kriwoschein
mit ganzer Energie und Liebe angepackt und das Land war auf dem besten
Wege, den Grundstein zu einem allseitigen künftigen Gedeihen zu legen. Man
kann es wohl sagen, daß kaum je ein Land sich nach einem unglücklichen Kriege
und nach einer Revolution -- trotz oder vielleicht wegen der Handelsverträge


Die russische Gesellschaft und der gegenwärtige Krieg

Aufnahme, die die Potsdamer Besprechungen in der russischen öffentlichen
Meinung fanden, konnten den Unbefangenen erkennen lassen, daß sich hier
allmählich ein steinerner Wall des gegenseitigen Mißtrauens zwischen den beiden
benachbarten Reichen aufgerichtet hatte, den zu überbrücken von Jahr zu Jahr
schwieriger wurde. An diesem Walle hatten nicht zum wenigsten die Engländer
mit bauen helfen, die sich der Partei um die Nowoje Wremja herum versichert
hatten, um die russische Gesellschaft vor den Wagen der englischen Politik zu
spannen. Das Gefühl des Mißtrauens und Unbehagens, das in der
russischen Gesellschaft dem Deutschen gegenüber bestand, machte sie blind
gegen die wahren Absichten der englischen Politik. Die Zusammenkunft von
Reval, die böhmische Krise, die Gründung von Albanien hatten alle Wohl¬
taten vergessen lassen, die die deutsche Politik Rußland zur Zeit des russisch-
japanischen Krieges erwiesen hatte. Jeder Schritt, den Deutschland zur Ent¬
wicklung seiner Handelsinteressen in Persien, in der Türkei tat, wurde mit
Mißtrauen beobachtet, hinter der Gründung jeder neuen Fabrik witterte man
imperialistische Ausdehnungsgelüste Deutschlands. Der österreich-russische Gegen¬
satz auf dem Balkan, so fühlte man, erhielt nur dadurch überhaupt eine
Bedeutung für Rußland, daß Deutschland kraft der bestehenden Bündnis¬
verträge schützend hinter Österreich - Ungarn stehen mußte. Alle Be¬
mühungen Deutschlands, hier aussöhnend und vermittelnd zu wirken, blieben
ohne Anerkennung, denn schon die Vermittlung mußte einem Lande, das um
jeden Preis, nach der Liquidation aller seiner Unternehmungen im Osten, die
alten russischen Balkanträume verwirklichen wollte, unwillkommen sein. Es war
die Macht Deutschlands, die hier den russischen allslawischen Bestrebungen
hindernd in den Weg trat und deshalb hatte sich bei der russischen Gesellschaft
allmählich der Gedanke festgesetzt, wie ihn uns Professor Mitrofanow in seinem
bekannten Briefe an Delbrück geschildert hat. der Gedanke, daß Berlins Macht
vernichtet werden müsse, wenn man Wien zerschmettern wolle.

Zu diesen Anschauungen kam bas Bewußtsein der eigenen Macht und
staatlichen Fähigkeit, das sich der russischen Gesellschaft seit dem japanischen
Kriege bemächtigt hatte. Die guten Erntejahre, der beispiellose Aufschwung in
Handel und Wandel hatten Rußland nicht nur ermöglicht, die schlimme Erbschaft
des japanischen Abenteuers ohne Schwankungen zu liquidieren, sondern auch
bei immer wachsenden Staatsausgaben ohne große ausländische Anleihen allein
aus eigener Kraft die Reorganisation von Heer und Flotte vorzunehmen und
auch einen guten Teil von Kulturaufgaben zu verwirklichen, an die heranzugehen
noch vor einem Jahrzehnt ein frommer Wunsch gewesen wäre. Stolypins
großer Gedanke, die Agrarreform, wurde von dem sympathischen Kriwoschein
mit ganzer Energie und Liebe angepackt und das Land war auf dem besten
Wege, den Grundstein zu einem allseitigen künftigen Gedeihen zu legen. Man
kann es wohl sagen, daß kaum je ein Land sich nach einem unglücklichen Kriege
und nach einer Revolution — trotz oder vielleicht wegen der Handelsverträge


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/400>, abgerufen am 22.07.2024.