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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Arisis des deutschbaltischen Menschen

zu mancherlei MißHelligkeiten. Das akademisch gebildete Bürgertum, der
"Literatenstand", kam zwar ursprünglich in der großen Gilde der Städte zu
angemessener Geltung, war aber dem Adel gegenüber in seiner Einflußsphäre
doch schon stark benachteiligt, insofern er auf dem die Geschicke der Landschaft
leitenden Landtag nur eine indirekte Vertretung fand, die noch dazu später in
Wegfall kam (außer für Riga). Auch artete adliger Standesgeist nicht selten in
Standesdünkel aus und führte so zu gegenseitiger Erbitterung. Trotz alledem
muß aber festgestellt und aufs schärfste betont werden, daß gerade das baltische
Bürger- und Literatentum der Geschichte einen besonderen Dank schuldet, die
ihm hier einmal den lebendigen Anteil am edelmännischen Pathos in seltener
Weise vergönnt hat. Denn alles im allem fiel eben doch auch die Haltung
dieser in der neuzeitlich-liberalen Lebensordnung der Gefahr der Verproletarisierung
besonders ausgesetzten Gruppe innerhalb der Schichtung, die das baltische Leben
bestimmte, durchaus auf die Seite des Herrenstandes. Mit einer gewissen Härte
standen sich eben, wie in einem Kolonistenlande natürlich, Aristokratie und
Plebs gegenüber. Der Mittelstand -- sonst leicht eine Entspannung der sozialen
Gegensätzlichkeit herbeiführend -- wirkte hier, soweit er überhaupt vorhanden
war, vielmehr als Isolierschicht. Die Mischung unterblieb. So nahm der
baltische Charakter nicht wie etwa der ostpreußische die historisch gewiß äußerst
fruchtbare Richtung auf eine wohldisziplinierte Untertänigkeit, wie sie Preußen
groß gemacht hat, sondern nährte die Herrentugenden des unabhängigen Stolzes*),
der leicht in Hochmut ausartet, der seigneuralen Lässigkeit in wirtschaftlichen
Dingen, des nicht immer gezügelten wilden Draufgängertums, zugleich aber
der aristokratisch gehaltenen Lebensform, die auf Reserve, Takt und Diskretion,
zumal aber auf unbedingte persönliche Zuverlässigkeit und Anständigkeit der
Gesinnung das denkbar größte Gewicht legt. Es verdient in diesem Zusammenhang
Erwähnung, daß von der Universität Dorpat her schon seit der Mitte des
vorigen Jahrhunderts sich eine Regelung der Ehrenstreitigkeiten in der ganzen
Gesellschaft des Landes durchgesetzt hat, die auch dem grundsätzlichen Gegner
des Zweikampfes eine vollkommen befriedigende Genugtuung durch ehrengerichtlichen
Schiedsspruch sichert.

Wenn auch die Tatsache keineswegs verschleiert werden soll, daß die ganze
Verfassung des Landes, soweit sie nicht von außen aufgenötigt war, auf dem
Prinzip der Schichtung aufbaute, derzufolge die deutsche Geburth- und Bildungs¬
aristokratie die im wesentlichen bäuerliche landesbürtige Plebs, die ihr zahlen¬
mäßig um das Vielfache überlegen war, vollkommen beherrschte, so wäre es
doch ganz verfehlt, diese Herrschaft als besonders ausgeprägte Tyrannei anzu¬
sehen, wie es die junglettische Intelligenz mit begreiflicher Tendenz darzustellen



") Seinen intellektuellen Ausdruck hat dieser deutsche Stolz des baltischen Menschen in
der prachtvoll männlichen "Livländischen Antwort an Herrn Juri Samarin* (Leipzig 18S9)
gefunden, in der ein panslawistisches Pamphlet durch den Dorpater Historiker Carl Schirren
eine vernichtende Abfertigung erfährt.
Die Arisis des deutschbaltischen Menschen

zu mancherlei MißHelligkeiten. Das akademisch gebildete Bürgertum, der
„Literatenstand", kam zwar ursprünglich in der großen Gilde der Städte zu
angemessener Geltung, war aber dem Adel gegenüber in seiner Einflußsphäre
doch schon stark benachteiligt, insofern er auf dem die Geschicke der Landschaft
leitenden Landtag nur eine indirekte Vertretung fand, die noch dazu später in
Wegfall kam (außer für Riga). Auch artete adliger Standesgeist nicht selten in
Standesdünkel aus und führte so zu gegenseitiger Erbitterung. Trotz alledem
muß aber festgestellt und aufs schärfste betont werden, daß gerade das baltische
Bürger- und Literatentum der Geschichte einen besonderen Dank schuldet, die
ihm hier einmal den lebendigen Anteil am edelmännischen Pathos in seltener
Weise vergönnt hat. Denn alles im allem fiel eben doch auch die Haltung
dieser in der neuzeitlich-liberalen Lebensordnung der Gefahr der Verproletarisierung
besonders ausgesetzten Gruppe innerhalb der Schichtung, die das baltische Leben
bestimmte, durchaus auf die Seite des Herrenstandes. Mit einer gewissen Härte
standen sich eben, wie in einem Kolonistenlande natürlich, Aristokratie und
Plebs gegenüber. Der Mittelstand — sonst leicht eine Entspannung der sozialen
Gegensätzlichkeit herbeiführend — wirkte hier, soweit er überhaupt vorhanden
war, vielmehr als Isolierschicht. Die Mischung unterblieb. So nahm der
baltische Charakter nicht wie etwa der ostpreußische die historisch gewiß äußerst
fruchtbare Richtung auf eine wohldisziplinierte Untertänigkeit, wie sie Preußen
groß gemacht hat, sondern nährte die Herrentugenden des unabhängigen Stolzes*),
der leicht in Hochmut ausartet, der seigneuralen Lässigkeit in wirtschaftlichen
Dingen, des nicht immer gezügelten wilden Draufgängertums, zugleich aber
der aristokratisch gehaltenen Lebensform, die auf Reserve, Takt und Diskretion,
zumal aber auf unbedingte persönliche Zuverlässigkeit und Anständigkeit der
Gesinnung das denkbar größte Gewicht legt. Es verdient in diesem Zusammenhang
Erwähnung, daß von der Universität Dorpat her schon seit der Mitte des
vorigen Jahrhunderts sich eine Regelung der Ehrenstreitigkeiten in der ganzen
Gesellschaft des Landes durchgesetzt hat, die auch dem grundsätzlichen Gegner
des Zweikampfes eine vollkommen befriedigende Genugtuung durch ehrengerichtlichen
Schiedsspruch sichert.

Wenn auch die Tatsache keineswegs verschleiert werden soll, daß die ganze
Verfassung des Landes, soweit sie nicht von außen aufgenötigt war, auf dem
Prinzip der Schichtung aufbaute, derzufolge die deutsche Geburth- und Bildungs¬
aristokratie die im wesentlichen bäuerliche landesbürtige Plebs, die ihr zahlen¬
mäßig um das Vielfache überlegen war, vollkommen beherrschte, so wäre es
doch ganz verfehlt, diese Herrschaft als besonders ausgeprägte Tyrannei anzu¬
sehen, wie es die junglettische Intelligenz mit begreiflicher Tendenz darzustellen



") Seinen intellektuellen Ausdruck hat dieser deutsche Stolz des baltischen Menschen in
der prachtvoll männlichen „Livländischen Antwort an Herrn Juri Samarin* (Leipzig 18S9)
gefunden, in der ein panslawistisches Pamphlet durch den Dorpater Historiker Carl Schirren
eine vernichtende Abfertigung erfährt.
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[0385] Die Arisis des deutschbaltischen Menschen zu mancherlei MißHelligkeiten. Das akademisch gebildete Bürgertum, der „Literatenstand", kam zwar ursprünglich in der großen Gilde der Städte zu angemessener Geltung, war aber dem Adel gegenüber in seiner Einflußsphäre doch schon stark benachteiligt, insofern er auf dem die Geschicke der Landschaft leitenden Landtag nur eine indirekte Vertretung fand, die noch dazu später in Wegfall kam (außer für Riga). Auch artete adliger Standesgeist nicht selten in Standesdünkel aus und führte so zu gegenseitiger Erbitterung. Trotz alledem muß aber festgestellt und aufs schärfste betont werden, daß gerade das baltische Bürger- und Literatentum der Geschichte einen besonderen Dank schuldet, die ihm hier einmal den lebendigen Anteil am edelmännischen Pathos in seltener Weise vergönnt hat. Denn alles im allem fiel eben doch auch die Haltung dieser in der neuzeitlich-liberalen Lebensordnung der Gefahr der Verproletarisierung besonders ausgesetzten Gruppe innerhalb der Schichtung, die das baltische Leben bestimmte, durchaus auf die Seite des Herrenstandes. Mit einer gewissen Härte standen sich eben, wie in einem Kolonistenlande natürlich, Aristokratie und Plebs gegenüber. Der Mittelstand — sonst leicht eine Entspannung der sozialen Gegensätzlichkeit herbeiführend — wirkte hier, soweit er überhaupt vorhanden war, vielmehr als Isolierschicht. Die Mischung unterblieb. So nahm der baltische Charakter nicht wie etwa der ostpreußische die historisch gewiß äußerst fruchtbare Richtung auf eine wohldisziplinierte Untertänigkeit, wie sie Preußen groß gemacht hat, sondern nährte die Herrentugenden des unabhängigen Stolzes*), der leicht in Hochmut ausartet, der seigneuralen Lässigkeit in wirtschaftlichen Dingen, des nicht immer gezügelten wilden Draufgängertums, zugleich aber der aristokratisch gehaltenen Lebensform, die auf Reserve, Takt und Diskretion, zumal aber auf unbedingte persönliche Zuverlässigkeit und Anständigkeit der Gesinnung das denkbar größte Gewicht legt. Es verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung, daß von der Universität Dorpat her schon seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts sich eine Regelung der Ehrenstreitigkeiten in der ganzen Gesellschaft des Landes durchgesetzt hat, die auch dem grundsätzlichen Gegner des Zweikampfes eine vollkommen befriedigende Genugtuung durch ehrengerichtlichen Schiedsspruch sichert. Wenn auch die Tatsache keineswegs verschleiert werden soll, daß die ganze Verfassung des Landes, soweit sie nicht von außen aufgenötigt war, auf dem Prinzip der Schichtung aufbaute, derzufolge die deutsche Geburth- und Bildungs¬ aristokratie die im wesentlichen bäuerliche landesbürtige Plebs, die ihr zahlen¬ mäßig um das Vielfache überlegen war, vollkommen beherrschte, so wäre es doch ganz verfehlt, diese Herrschaft als besonders ausgeprägte Tyrannei anzu¬ sehen, wie es die junglettische Intelligenz mit begreiflicher Tendenz darzustellen ") Seinen intellektuellen Ausdruck hat dieser deutsche Stolz des baltischen Menschen in der prachtvoll männlichen „Livländischen Antwort an Herrn Juri Samarin* (Leipzig 18S9) gefunden, in der ein panslawistisches Pamphlet durch den Dorpater Historiker Carl Schirren eine vernichtende Abfertigung erfährt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/385>, abgerufen am 22.07.2024.