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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die XrPs des deutschbaltischen Menschen

liebt*). Selbstverständlich hat es. wie zum Beispie! zur Zeit des niedergehenden
Ordenslebens, an Bedrückungen der Bauern so wenig gefehlt, wie sonst in
Deutschland. Dagegen hat im Vergleich zum übrigen Rußland das baltische
Deutschtum dem unterworfenen Volk eine ganz wesentlich bessere Bildung und
Zivilisation vermittelt. Auf eigene Initiative hat sogar der Adel gegen den
Widerstand der Regierung die Aufhebung der Leibeigenschaft vierzig Jahre
früher als im Innern des Reiches durchgesetzt. Ferner schlug er Ende der
achtziger Jahre der Regierung vergeblich Reformen vor, die eine stärkere Be¬
teiligung des Bauernstandes in den unteren Organen der Selbstverwaltung
bezweckten. Der ständische Verwaltungsapparat war noch nicht soweit verhärtet,
daß er den veränderten Zeitumständen nicht in gewissem Ausmaß sich hätte
anpassen können. Freilich fanden diese Fortbildungsbestrebungen ihre Grenze
an dem unverrückbaren Grundsatze, daß dem Land sein kulturelle? Deutschtum
erhalten bleiben müsse. Demgegenüber suchte die russische Regierung ein
höhnisches Vergnügen darin, durch Einführung nivellierender Reformen etwa in
den Stadtverwaltungen mit Hilfe des Majoritätsprinzips der politisch und
wirtschaftlich unreifen Unterschicht das Übergewicht, ja an manchen Orten
wie der alten Hansestadt Reval die volle Herrschaft in die Hand zu
spielen. --

Die nähere Darlegung der ständischen Verfassung des baltischen Landes,
seiner rechtlichen und kommunalen Verhältnisse vor der "tatarischen Invasion"
-- diesen launigen Ausdruck prägte ein russischer Kultusminister auf die
Rusfifizierung der achtziger Jahre! -- muß ich mir hier versagen. Ich möchte
diesen Abschnitt mit dem Versuch schließen, die vitalen Grundlagen dieser
kulturellen Ausformungen, die in einigen bezeichnenden Richtungen veranschaulicht
wurden, nun als tragende Stütze der baltischen Geistigkeit aufzuzeigen. Es war
schon von dem eigentümlichen Verhältnis die Rede, in das die Elemente der
ausgesprochen historisch gefärbten Bildung des baltischen Menschen seinem
Gemeinschaftsleben gegenüber gerückt waren. Man könnte von einer volunta-
"istischen Gerichtetheit aller Bildungsbestrebungen sprechen; aber man müßte
dann doch noch die Einschränkung hinzufügen, daß die Richtung auf das Edle
-- nicht in sentimentalen, sondern einem viel körnigeren Sinne -- alle Päda¬
gogik, aber auch alle persönliche Wertschätzung und soziale Anerkennung
bestimmte. Das skrupellos Durchsetzerische des pfiffigen Verstandes, das im
modernen Europa so breiten Einfluß gewonnen hat, fand hier weder öffentliche
noch geheime Billigung. Die Nutzhaftigkeit beherrschte noch nicht das Leben,



*) Ein besonders schamloses Pamphlet dieser Art, einen geradezu mit historischen Ent¬
stellungen wirkenden Brief eines Jungletten, hat sich Herr Romain Rolland bemüßigt gesehen,
im Journal de Genöve (12. Oktober 1914) mit anerkennendem Begleitschreiben zu veröffent¬
liche". Es ist ein eigenartiges Schauspiel, den Vertreter der alten stolzen französischen Nation
"inen kleinen ressentimenterfüllten Letten als Kronzeugen in ihrer welthistorischen Auseinander-
setzung mit dem Deutschtum heranschleppen zu sehen.
Die XrPs des deutschbaltischen Menschen

liebt*). Selbstverständlich hat es. wie zum Beispie! zur Zeit des niedergehenden
Ordenslebens, an Bedrückungen der Bauern so wenig gefehlt, wie sonst in
Deutschland. Dagegen hat im Vergleich zum übrigen Rußland das baltische
Deutschtum dem unterworfenen Volk eine ganz wesentlich bessere Bildung und
Zivilisation vermittelt. Auf eigene Initiative hat sogar der Adel gegen den
Widerstand der Regierung die Aufhebung der Leibeigenschaft vierzig Jahre
früher als im Innern des Reiches durchgesetzt. Ferner schlug er Ende der
achtziger Jahre der Regierung vergeblich Reformen vor, die eine stärkere Be¬
teiligung des Bauernstandes in den unteren Organen der Selbstverwaltung
bezweckten. Der ständische Verwaltungsapparat war noch nicht soweit verhärtet,
daß er den veränderten Zeitumständen nicht in gewissem Ausmaß sich hätte
anpassen können. Freilich fanden diese Fortbildungsbestrebungen ihre Grenze
an dem unverrückbaren Grundsatze, daß dem Land sein kulturelle? Deutschtum
erhalten bleiben müsse. Demgegenüber suchte die russische Regierung ein
höhnisches Vergnügen darin, durch Einführung nivellierender Reformen etwa in
den Stadtverwaltungen mit Hilfe des Majoritätsprinzips der politisch und
wirtschaftlich unreifen Unterschicht das Übergewicht, ja an manchen Orten
wie der alten Hansestadt Reval die volle Herrschaft in die Hand zu
spielen. —

Die nähere Darlegung der ständischen Verfassung des baltischen Landes,
seiner rechtlichen und kommunalen Verhältnisse vor der „tatarischen Invasion"
— diesen launigen Ausdruck prägte ein russischer Kultusminister auf die
Rusfifizierung der achtziger Jahre! — muß ich mir hier versagen. Ich möchte
diesen Abschnitt mit dem Versuch schließen, die vitalen Grundlagen dieser
kulturellen Ausformungen, die in einigen bezeichnenden Richtungen veranschaulicht
wurden, nun als tragende Stütze der baltischen Geistigkeit aufzuzeigen. Es war
schon von dem eigentümlichen Verhältnis die Rede, in das die Elemente der
ausgesprochen historisch gefärbten Bildung des baltischen Menschen seinem
Gemeinschaftsleben gegenüber gerückt waren. Man könnte von einer volunta-
»istischen Gerichtetheit aller Bildungsbestrebungen sprechen; aber man müßte
dann doch noch die Einschränkung hinzufügen, daß die Richtung auf das Edle
— nicht in sentimentalen, sondern einem viel körnigeren Sinne — alle Päda¬
gogik, aber auch alle persönliche Wertschätzung und soziale Anerkennung
bestimmte. Das skrupellos Durchsetzerische des pfiffigen Verstandes, das im
modernen Europa so breiten Einfluß gewonnen hat, fand hier weder öffentliche
noch geheime Billigung. Die Nutzhaftigkeit beherrschte noch nicht das Leben,



*) Ein besonders schamloses Pamphlet dieser Art, einen geradezu mit historischen Ent¬
stellungen wirkenden Brief eines Jungletten, hat sich Herr Romain Rolland bemüßigt gesehen,
im Journal de Genöve (12. Oktober 1914) mit anerkennendem Begleitschreiben zu veröffent¬
liche«. Es ist ein eigenartiges Schauspiel, den Vertreter der alten stolzen französischen Nation
«inen kleinen ressentimenterfüllten Letten als Kronzeugen in ihrer welthistorischen Auseinander-
setzung mit dem Deutschtum heranschleppen zu sehen.
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[0386] Die XrPs des deutschbaltischen Menschen liebt*). Selbstverständlich hat es. wie zum Beispie! zur Zeit des niedergehenden Ordenslebens, an Bedrückungen der Bauern so wenig gefehlt, wie sonst in Deutschland. Dagegen hat im Vergleich zum übrigen Rußland das baltische Deutschtum dem unterworfenen Volk eine ganz wesentlich bessere Bildung und Zivilisation vermittelt. Auf eigene Initiative hat sogar der Adel gegen den Widerstand der Regierung die Aufhebung der Leibeigenschaft vierzig Jahre früher als im Innern des Reiches durchgesetzt. Ferner schlug er Ende der achtziger Jahre der Regierung vergeblich Reformen vor, die eine stärkere Be¬ teiligung des Bauernstandes in den unteren Organen der Selbstverwaltung bezweckten. Der ständische Verwaltungsapparat war noch nicht soweit verhärtet, daß er den veränderten Zeitumständen nicht in gewissem Ausmaß sich hätte anpassen können. Freilich fanden diese Fortbildungsbestrebungen ihre Grenze an dem unverrückbaren Grundsatze, daß dem Land sein kulturelle? Deutschtum erhalten bleiben müsse. Demgegenüber suchte die russische Regierung ein höhnisches Vergnügen darin, durch Einführung nivellierender Reformen etwa in den Stadtverwaltungen mit Hilfe des Majoritätsprinzips der politisch und wirtschaftlich unreifen Unterschicht das Übergewicht, ja an manchen Orten wie der alten Hansestadt Reval die volle Herrschaft in die Hand zu spielen. — Die nähere Darlegung der ständischen Verfassung des baltischen Landes, seiner rechtlichen und kommunalen Verhältnisse vor der „tatarischen Invasion" — diesen launigen Ausdruck prägte ein russischer Kultusminister auf die Rusfifizierung der achtziger Jahre! — muß ich mir hier versagen. Ich möchte diesen Abschnitt mit dem Versuch schließen, die vitalen Grundlagen dieser kulturellen Ausformungen, die in einigen bezeichnenden Richtungen veranschaulicht wurden, nun als tragende Stütze der baltischen Geistigkeit aufzuzeigen. Es war schon von dem eigentümlichen Verhältnis die Rede, in das die Elemente der ausgesprochen historisch gefärbten Bildung des baltischen Menschen seinem Gemeinschaftsleben gegenüber gerückt waren. Man könnte von einer volunta- »istischen Gerichtetheit aller Bildungsbestrebungen sprechen; aber man müßte dann doch noch die Einschränkung hinzufügen, daß die Richtung auf das Edle — nicht in sentimentalen, sondern einem viel körnigeren Sinne — alle Päda¬ gogik, aber auch alle persönliche Wertschätzung und soziale Anerkennung bestimmte. Das skrupellos Durchsetzerische des pfiffigen Verstandes, das im modernen Europa so breiten Einfluß gewonnen hat, fand hier weder öffentliche noch geheime Billigung. Die Nutzhaftigkeit beherrschte noch nicht das Leben, *) Ein besonders schamloses Pamphlet dieser Art, einen geradezu mit historischen Ent¬ stellungen wirkenden Brief eines Jungletten, hat sich Herr Romain Rolland bemüßigt gesehen, im Journal de Genöve (12. Oktober 1914) mit anerkennendem Begleitschreiben zu veröffent¬ liche«. Es ist ein eigenartiges Schauspiel, den Vertreter der alten stolzen französischen Nation «inen kleinen ressentimenterfüllten Letten als Kronzeugen in ihrer welthistorischen Auseinander- setzung mit dem Deutschtum heranschleppen zu sehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/386>, abgerufen am 24.08.2024.