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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Krisis des deutschbaltischen Menschen

stehen scheint, obschon das Fehlen des dörflichen Siedlungstyps den Ursprung
dieses umfriedeten Einzeldaseins in der wehrhaften mittelalterlichen Burg deutlich
offenbart, so bleibt es doch sehr auffällig, daß auch in der Stadt der außer¬
häusliche Verkehr, wie etwa der Wirtshausstammtisch oder das Cass, eine gan^
geringe Bedeutung hat. So konzentrierte sich sogar das studentische Leben
durchaus auf das "Konventsquartier" (Korpshaus) und auf die "Burgen", die
eine große Zahl von Studentenbuden in sich vereinigten. Die Folge dieser
herrschenden Form des geselligen Verkehrs war die außerordentliche Gastfreiheit
des baltischen Hauses. Seine Breiträumigkeit und sein auf das Halten größerer
Vorräte angewiesener Wirtschaftstyp*) machten der Hausfrau Unterbringung
und Verpflegung selbst einer größeren Zahl unerwarteter Gäste möglich. So
waren nicht nur Gutshaus und Pastorat, sondern auch die städtische Bürger¬
wohnung Brennpunkte eines regen Verkehrs. Dieser Zustand war zugleich
Ausdruck und Folgeerscheinung des durch die kolonisatorisch-aristokratische
Abhebung der kleinen Oberschicht geschaffenen Zusammenhalts. Einmal kannte
jedermann fast alle Namen der im Lande ansässigen Familien. Dann aber
erzeugten der Landtag, zu dessen Besuch nach altgermanischer Sitte der grünt"
säßige Adel bei hoher Strafe verpflichtet war, und die anderen Funktionen der
Selbstverwaltung einerseits, zum anderen Teil die gemeinsame Landesuniversität
mit ihren Korporationen**) eine weitausgebreitete persönliche Bekanntschaft und
Freundschaft, die durch häufig erneute Berührung warm gehalten wurde.
Freilich darf demgegenüber nicht übersehen werden, daß die ständische und
landschaftliche Gliederung den gut deutschen Partikularismus zu üppiger Wucherung
brachte. Nicht nur schlössen sich die drei Territorien, die oftmals durch die
großen politischen Mächte getrennt waren, durchaus voneinander ab, sondern
der alte Gegensatz von Stadt und Land, der schon hinter dem Antagonismus-
zwischen Bischof und Orden gestanden hatte, erwirkte auch der Stadt Riga eine
ausgesprochene Sonderstellung. So verteilte sich ursprünglich auch die korporelle
Studentenschaft auf die vier landsmannschaftlichen Verbindungen Livonia, Curonia,
Estonia, Fraternitas Rigensts. Erst nach der Mitte des neunzehnten Jahr¬
hunderts, als die aufkeimende nationalistische Bewegung der Unterschicht eine
stärkere Besinnung des Deutschtums auf seine nationale und soziale Geschlossenheit
zur Folge hatte, konnten Gründungen wie die Neobaltia den baltischen Gemeinsinn
ins Licht rücken. Aber auch innerhalb der einzelnen Landschaften bot der
zeitweise schroff zutagetretende Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum Anlaß




*) Als bezeichnendes Kuriosum führe ich eine Stelle an, die aus einem älteren Koch-
und Haushund des Landes überliefert Wird: Wenn Plötzlich Gäste kommen und es ist nichts
den Hause, dann gehe die Hausfrau in die Schafferei (Handkammer) und schneide kalten
Kalbsbraten auf.
**) Der Einfluß der Korporationen erstreckte sich früher aus die gesamte deutsche
Studentenschaft. Alle deutschen Kommilitonen duzten sich untereinander und zwar oft noch
ihr ganzes ferneres Leben.
Die Krisis des deutschbaltischen Menschen

stehen scheint, obschon das Fehlen des dörflichen Siedlungstyps den Ursprung
dieses umfriedeten Einzeldaseins in der wehrhaften mittelalterlichen Burg deutlich
offenbart, so bleibt es doch sehr auffällig, daß auch in der Stadt der außer¬
häusliche Verkehr, wie etwa der Wirtshausstammtisch oder das Cass, eine gan^
geringe Bedeutung hat. So konzentrierte sich sogar das studentische Leben
durchaus auf das „Konventsquartier" (Korpshaus) und auf die „Burgen", die
eine große Zahl von Studentenbuden in sich vereinigten. Die Folge dieser
herrschenden Form des geselligen Verkehrs war die außerordentliche Gastfreiheit
des baltischen Hauses. Seine Breiträumigkeit und sein auf das Halten größerer
Vorräte angewiesener Wirtschaftstyp*) machten der Hausfrau Unterbringung
und Verpflegung selbst einer größeren Zahl unerwarteter Gäste möglich. So
waren nicht nur Gutshaus und Pastorat, sondern auch die städtische Bürger¬
wohnung Brennpunkte eines regen Verkehrs. Dieser Zustand war zugleich
Ausdruck und Folgeerscheinung des durch die kolonisatorisch-aristokratische
Abhebung der kleinen Oberschicht geschaffenen Zusammenhalts. Einmal kannte
jedermann fast alle Namen der im Lande ansässigen Familien. Dann aber
erzeugten der Landtag, zu dessen Besuch nach altgermanischer Sitte der grünt»
säßige Adel bei hoher Strafe verpflichtet war, und die anderen Funktionen der
Selbstverwaltung einerseits, zum anderen Teil die gemeinsame Landesuniversität
mit ihren Korporationen**) eine weitausgebreitete persönliche Bekanntschaft und
Freundschaft, die durch häufig erneute Berührung warm gehalten wurde.
Freilich darf demgegenüber nicht übersehen werden, daß die ständische und
landschaftliche Gliederung den gut deutschen Partikularismus zu üppiger Wucherung
brachte. Nicht nur schlössen sich die drei Territorien, die oftmals durch die
großen politischen Mächte getrennt waren, durchaus voneinander ab, sondern
der alte Gegensatz von Stadt und Land, der schon hinter dem Antagonismus-
zwischen Bischof und Orden gestanden hatte, erwirkte auch der Stadt Riga eine
ausgesprochene Sonderstellung. So verteilte sich ursprünglich auch die korporelle
Studentenschaft auf die vier landsmannschaftlichen Verbindungen Livonia, Curonia,
Estonia, Fraternitas Rigensts. Erst nach der Mitte des neunzehnten Jahr¬
hunderts, als die aufkeimende nationalistische Bewegung der Unterschicht eine
stärkere Besinnung des Deutschtums auf seine nationale und soziale Geschlossenheit
zur Folge hatte, konnten Gründungen wie die Neobaltia den baltischen Gemeinsinn
ins Licht rücken. Aber auch innerhalb der einzelnen Landschaften bot der
zeitweise schroff zutagetretende Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum Anlaß




*) Als bezeichnendes Kuriosum führe ich eine Stelle an, die aus einem älteren Koch-
und Haushund des Landes überliefert Wird: Wenn Plötzlich Gäste kommen und es ist nichts
den Hause, dann gehe die Hausfrau in die Schafferei (Handkammer) und schneide kalten
Kalbsbraten auf.
**) Der Einfluß der Korporationen erstreckte sich früher aus die gesamte deutsche
Studentenschaft. Alle deutschen Kommilitonen duzten sich untereinander und zwar oft noch
ihr ganzes ferneres Leben.
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[0384] Die Krisis des deutschbaltischen Menschen stehen scheint, obschon das Fehlen des dörflichen Siedlungstyps den Ursprung dieses umfriedeten Einzeldaseins in der wehrhaften mittelalterlichen Burg deutlich offenbart, so bleibt es doch sehr auffällig, daß auch in der Stadt der außer¬ häusliche Verkehr, wie etwa der Wirtshausstammtisch oder das Cass, eine gan^ geringe Bedeutung hat. So konzentrierte sich sogar das studentische Leben durchaus auf das „Konventsquartier" (Korpshaus) und auf die „Burgen", die eine große Zahl von Studentenbuden in sich vereinigten. Die Folge dieser herrschenden Form des geselligen Verkehrs war die außerordentliche Gastfreiheit des baltischen Hauses. Seine Breiträumigkeit und sein auf das Halten größerer Vorräte angewiesener Wirtschaftstyp*) machten der Hausfrau Unterbringung und Verpflegung selbst einer größeren Zahl unerwarteter Gäste möglich. So waren nicht nur Gutshaus und Pastorat, sondern auch die städtische Bürger¬ wohnung Brennpunkte eines regen Verkehrs. Dieser Zustand war zugleich Ausdruck und Folgeerscheinung des durch die kolonisatorisch-aristokratische Abhebung der kleinen Oberschicht geschaffenen Zusammenhalts. Einmal kannte jedermann fast alle Namen der im Lande ansässigen Familien. Dann aber erzeugten der Landtag, zu dessen Besuch nach altgermanischer Sitte der grünt» säßige Adel bei hoher Strafe verpflichtet war, und die anderen Funktionen der Selbstverwaltung einerseits, zum anderen Teil die gemeinsame Landesuniversität mit ihren Korporationen**) eine weitausgebreitete persönliche Bekanntschaft und Freundschaft, die durch häufig erneute Berührung warm gehalten wurde. Freilich darf demgegenüber nicht übersehen werden, daß die ständische und landschaftliche Gliederung den gut deutschen Partikularismus zu üppiger Wucherung brachte. Nicht nur schlössen sich die drei Territorien, die oftmals durch die großen politischen Mächte getrennt waren, durchaus voneinander ab, sondern der alte Gegensatz von Stadt und Land, der schon hinter dem Antagonismus- zwischen Bischof und Orden gestanden hatte, erwirkte auch der Stadt Riga eine ausgesprochene Sonderstellung. So verteilte sich ursprünglich auch die korporelle Studentenschaft auf die vier landsmannschaftlichen Verbindungen Livonia, Curonia, Estonia, Fraternitas Rigensts. Erst nach der Mitte des neunzehnten Jahr¬ hunderts, als die aufkeimende nationalistische Bewegung der Unterschicht eine stärkere Besinnung des Deutschtums auf seine nationale und soziale Geschlossenheit zur Folge hatte, konnten Gründungen wie die Neobaltia den baltischen Gemeinsinn ins Licht rücken. Aber auch innerhalb der einzelnen Landschaften bot der zeitweise schroff zutagetretende Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum Anlaß *) Als bezeichnendes Kuriosum führe ich eine Stelle an, die aus einem älteren Koch- und Haushund des Landes überliefert Wird: Wenn Plötzlich Gäste kommen und es ist nichts den Hause, dann gehe die Hausfrau in die Schafferei (Handkammer) und schneide kalten Kalbsbraten auf. **) Der Einfluß der Korporationen erstreckte sich früher aus die gesamte deutsche Studentenschaft. Alle deutschen Kommilitonen duzten sich untereinander und zwar oft noch ihr ganzes ferneres Leben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/384>, abgerufen am 24.08.2024.