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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

Worte natürlich weit hinaus; nie ist so viel und so töricht geschmäht worden.
Aber -- die Frage der Utilität beiseite gelassen -- meint der Verfasser, das
deutsche Volk muß nun mal so genommen werden, es ist nicht zum Lügen geboren.
Ein Vergleich der Sprache der deutschen Staatsmänner und Diplomaten und
derjenigen des Dreiverbandes, sowie eine Gegenüberstellung der amtlichen Ver¬
öffentlichungen der beiden Parteien kann nur zugunsten des sittlichen Geistes
der deutschen Diplomatie ausfallen. Woraus aber erklärt sich, fragt Labbertou,
dann der allgemeine Deutschenhaß? Tugend in der Welt wird nun einmal
immer gehaßt, und die Wahrheit ist von jeher gekreuzigt und verbrannt worden.
Haß kann man sich zuziehen durch ein Manko oder durch ein Plus an Sittlichkeit;
wie es mit Deutschland damit steht, das wird ja wohl im Schmelztiegel dieses
Weltkrieges zum Vorschein kommen. Immerhin, so schließt dieses dem eigent¬
lichen Thema eingefügte Kapitel, a priori kann der Beweis von sittlicher
Genialität nicht erbracht werden, in einem aber wird man ihn erkennen müssen:
in der großen Nachgiebigkeit Deutschlands, die vielleicht nur zu weit gegangen
ist. Nur ein Genie kann sie sich erlauben in allem, was seine Berufung nicht
in Gefahr bringt; erst dann kommt seine Persönlichkeit zur Geltung. Der
Reichskanzler hat in seiner Rede vom 4. August nicht gesagt, Deutschland kämpft
um seine Existenz, sondern es kämpft um sein Höchstes, und Labberton deutet
dies: um seine sittliche Berufung......"das Leben ist der Güter Höchstes
nicht --".

In Verfolgung des eigentlichen Themas "Lag für Deutschland im Falle
Belgiens eine höhere sittliche Pflicht vor?" nimmt Labberton nun also die
Hypothese an: Deutschland stellt eine ethische Genialität dar, es handelte im
Dienste eines sittlichen Staatenideals, nämlich für die Erneuerung des Rechts,
für die Schaffung neuer Bedingungen zur Entfaltung der freien Sittlichkeit.
Hierzu muß der Staat zunächst überhaupt bestehen, ferner aber muß er auch
bestehen können unter Umständen, die für die Durchführung seiner sittlichen
Misston unerläßlich sind. Dieser Verwirklichung eines sittlichen Ideals der
großen Völkergemeinschaft müssen auch die anderen Staaten dienen, auch sie
müssen unter Umständen zu Opfern bereit sein, nötigenfalls müssen sie dazu
gezwungen werden, wobei der Zwang sittlich berechtigt erscheint, weil er ihrem
eigenen Heile dient; berechtigt indes nur in der Hand eines ethisch-genialen
Staates, nicht bloß eines stärkeren. Ist diese Pflicht sittlich-genialer Berufung
nun absolut? lautet die weitere Frage. Nein, denn auch das genial ver¬
anlagte Individuum, hier Staat, darf selbst im Dienste seines Ideals ein
anderes Individuum oder einen anderen Staat, der ihn nicht bedroht, nicht
vernichten. Deutschland durfte deshalb in Belgien, wenn es sich nicht aktiv
feindlich zu ihm stellte, nicht einmarschieren, eine Voraussetzung, die ja das
bekannte deutsche Ultimatum auch klar zum Ausdruck brachte.

Wie stand nun für Deutschland die Sache? Sein Höchstes stand auf dem
Spiel, es durfte und mußte den großartigen Vorteil seines vollendeten


Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

Worte natürlich weit hinaus; nie ist so viel und so töricht geschmäht worden.
Aber — die Frage der Utilität beiseite gelassen — meint der Verfasser, das
deutsche Volk muß nun mal so genommen werden, es ist nicht zum Lügen geboren.
Ein Vergleich der Sprache der deutschen Staatsmänner und Diplomaten und
derjenigen des Dreiverbandes, sowie eine Gegenüberstellung der amtlichen Ver¬
öffentlichungen der beiden Parteien kann nur zugunsten des sittlichen Geistes
der deutschen Diplomatie ausfallen. Woraus aber erklärt sich, fragt Labbertou,
dann der allgemeine Deutschenhaß? Tugend in der Welt wird nun einmal
immer gehaßt, und die Wahrheit ist von jeher gekreuzigt und verbrannt worden.
Haß kann man sich zuziehen durch ein Manko oder durch ein Plus an Sittlichkeit;
wie es mit Deutschland damit steht, das wird ja wohl im Schmelztiegel dieses
Weltkrieges zum Vorschein kommen. Immerhin, so schließt dieses dem eigent¬
lichen Thema eingefügte Kapitel, a priori kann der Beweis von sittlicher
Genialität nicht erbracht werden, in einem aber wird man ihn erkennen müssen:
in der großen Nachgiebigkeit Deutschlands, die vielleicht nur zu weit gegangen
ist. Nur ein Genie kann sie sich erlauben in allem, was seine Berufung nicht
in Gefahr bringt; erst dann kommt seine Persönlichkeit zur Geltung. Der
Reichskanzler hat in seiner Rede vom 4. August nicht gesagt, Deutschland kämpft
um seine Existenz, sondern es kämpft um sein Höchstes, und Labberton deutet
dies: um seine sittliche Berufung......„das Leben ist der Güter Höchstes
nicht —".

In Verfolgung des eigentlichen Themas „Lag für Deutschland im Falle
Belgiens eine höhere sittliche Pflicht vor?" nimmt Labberton nun also die
Hypothese an: Deutschland stellt eine ethische Genialität dar, es handelte im
Dienste eines sittlichen Staatenideals, nämlich für die Erneuerung des Rechts,
für die Schaffung neuer Bedingungen zur Entfaltung der freien Sittlichkeit.
Hierzu muß der Staat zunächst überhaupt bestehen, ferner aber muß er auch
bestehen können unter Umständen, die für die Durchführung seiner sittlichen
Misston unerläßlich sind. Dieser Verwirklichung eines sittlichen Ideals der
großen Völkergemeinschaft müssen auch die anderen Staaten dienen, auch sie
müssen unter Umständen zu Opfern bereit sein, nötigenfalls müssen sie dazu
gezwungen werden, wobei der Zwang sittlich berechtigt erscheint, weil er ihrem
eigenen Heile dient; berechtigt indes nur in der Hand eines ethisch-genialen
Staates, nicht bloß eines stärkeren. Ist diese Pflicht sittlich-genialer Berufung
nun absolut? lautet die weitere Frage. Nein, denn auch das genial ver¬
anlagte Individuum, hier Staat, darf selbst im Dienste seines Ideals ein
anderes Individuum oder einen anderen Staat, der ihn nicht bedroht, nicht
vernichten. Deutschland durfte deshalb in Belgien, wenn es sich nicht aktiv
feindlich zu ihm stellte, nicht einmarschieren, eine Voraussetzung, die ja das
bekannte deutsche Ultimatum auch klar zum Ausdruck brachte.

Wie stand nun für Deutschland die Sache? Sein Höchstes stand auf dem
Spiel, es durfte und mußte den großartigen Vorteil seines vollendeten


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[0379] Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung Worte natürlich weit hinaus; nie ist so viel und so töricht geschmäht worden. Aber — die Frage der Utilität beiseite gelassen — meint der Verfasser, das deutsche Volk muß nun mal so genommen werden, es ist nicht zum Lügen geboren. Ein Vergleich der Sprache der deutschen Staatsmänner und Diplomaten und derjenigen des Dreiverbandes, sowie eine Gegenüberstellung der amtlichen Ver¬ öffentlichungen der beiden Parteien kann nur zugunsten des sittlichen Geistes der deutschen Diplomatie ausfallen. Woraus aber erklärt sich, fragt Labbertou, dann der allgemeine Deutschenhaß? Tugend in der Welt wird nun einmal immer gehaßt, und die Wahrheit ist von jeher gekreuzigt und verbrannt worden. Haß kann man sich zuziehen durch ein Manko oder durch ein Plus an Sittlichkeit; wie es mit Deutschland damit steht, das wird ja wohl im Schmelztiegel dieses Weltkrieges zum Vorschein kommen. Immerhin, so schließt dieses dem eigent¬ lichen Thema eingefügte Kapitel, a priori kann der Beweis von sittlicher Genialität nicht erbracht werden, in einem aber wird man ihn erkennen müssen: in der großen Nachgiebigkeit Deutschlands, die vielleicht nur zu weit gegangen ist. Nur ein Genie kann sie sich erlauben in allem, was seine Berufung nicht in Gefahr bringt; erst dann kommt seine Persönlichkeit zur Geltung. Der Reichskanzler hat in seiner Rede vom 4. August nicht gesagt, Deutschland kämpft um seine Existenz, sondern es kämpft um sein Höchstes, und Labberton deutet dies: um seine sittliche Berufung......„das Leben ist der Güter Höchstes nicht —". In Verfolgung des eigentlichen Themas „Lag für Deutschland im Falle Belgiens eine höhere sittliche Pflicht vor?" nimmt Labberton nun also die Hypothese an: Deutschland stellt eine ethische Genialität dar, es handelte im Dienste eines sittlichen Staatenideals, nämlich für die Erneuerung des Rechts, für die Schaffung neuer Bedingungen zur Entfaltung der freien Sittlichkeit. Hierzu muß der Staat zunächst überhaupt bestehen, ferner aber muß er auch bestehen können unter Umständen, die für die Durchführung seiner sittlichen Misston unerläßlich sind. Dieser Verwirklichung eines sittlichen Ideals der großen Völkergemeinschaft müssen auch die anderen Staaten dienen, auch sie müssen unter Umständen zu Opfern bereit sein, nötigenfalls müssen sie dazu gezwungen werden, wobei der Zwang sittlich berechtigt erscheint, weil er ihrem eigenen Heile dient; berechtigt indes nur in der Hand eines ethisch-genialen Staates, nicht bloß eines stärkeren. Ist diese Pflicht sittlich-genialer Berufung nun absolut? lautet die weitere Frage. Nein, denn auch das genial ver¬ anlagte Individuum, hier Staat, darf selbst im Dienste seines Ideals ein anderes Individuum oder einen anderen Staat, der ihn nicht bedroht, nicht vernichten. Deutschland durfte deshalb in Belgien, wenn es sich nicht aktiv feindlich zu ihm stellte, nicht einmarschieren, eine Voraussetzung, die ja das bekannte deutsche Ultimatum auch klar zum Ausdruck brachte. Wie stand nun für Deutschland die Sache? Sein Höchstes stand auf dem Spiel, es durfte und mußte den großartigen Vorteil seines vollendeten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/379>, abgerufen am 24.08.2024.