Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

für den Deutschen in gewissen Kreisen Hollands lautet) nachgerade einfach Mode
geworden, die gedankenlos mitgemacht wird. . . . "nichts als ein Symptom
für die Geistlosigkeit der Masse".

Der Deutsche soll ferner, heißt es immer, keine Achtung vor anderer
Persönlichkeit, kein Verständnis für anderer Menschen Wert haben, stets nur
"mit dem Korporalstock" arbeiten usw., wie er denn auch kein Glück habe in
der Behandlung seiner Gebiete mit fremder Bevölkerung und seiner Kolonien.
Labberton meint, dies alles besage nichts anderes, als daß der Deutsche als
Kolonisator seine Aufgabe eben zu ernst, zu tief auffaßt, daß er mehr will als
eine oberflächliche "Zivilisierung" fremder Gebiete mittels einer ganz äußerlichen
Organisation, mittels einer politischen und ökonomischen Maschinerie ohne
wahren Kulturinhalt -- wie die berühmten englischen "Kolonisatoren", die
allerdings damit schneller zum Ziele kommen. Die Deutschen verfallen in
ihrer etwas fchulmeisterlichen Gründlichkeit leicht in zwei Fehler. Erstens
streben sie zu sehr danach, andere nach ihrem eigenen Vorbild zu erziehen, und
zweitens überschätzen sie nicht selten ihr Kolonisationsobjekt. Aber fehlt ihnen
auch noch häufig das richtige Verständnis für die Wahrheit des Wortes "Eines
schickt sich nicht für alle," fo sind sie dafür auch nicht der blinden Losung jenes
bedenklichen Grundsatzes "KIZlit c"r ^vronZ, in^ Lountr^" verfallen. Der
Verfasser widmet hierbei auch dem berühmten deutschen "Militarismus" einige
Betrachtungen. Im Gegensatz zu dem banalen und törichten Geschwätz von
ertötendem Kadavergehorsam und von Unfreiheit, sieht er das Wesen des
Militarismus einfach darin: wirklich und tief gefühlte Bereitschaft der übergroßen
Mehrheit eines ganzen Volkes zur Aufopferung von Gut und Leben für die Gemein¬
schaft, wobei Zwang zu freiem Willen wird; eine Bereitschaft, die nun schon
mehr als zehn Monate unerhörten Anforderungen und Verhältnissen gegenüber
standhält, eine Leistung, die man nicht anders bezeichnen kann als "ein Wunder
geradezu von festem Willen, von ernster und unbegrenzter Opferfreudigkeit".

Einen weiteren beredten Beweis für den hohen sittlichen Ernst der Deutschen
erblickt der Verfasser in der diesem Volke eigenen Objektivität gegenüber seinen
eigenen Fehlern und in feiner offenherzigen Bereitwilligkeit, seine Schuld, und
wäre es auch nur eine tragische, anzuerkennen, eben in der ausgeprägten
Betonung des Gewissens in seiner Brust. In diesem Lichte vor allem verdienen
auch die viel zitierten Worte des Reichskanzlers am 4. August vor dem Forum
des deutschen Reichstages und damit der ganzen Welt, die Worte vom "Unrecht
gegenüber Belgien", gewürdigt zu werden. Diese Worte, sagt Labberton,
stellen -- man denke sich die bitterernsten Umstände, in denen das deutsche
Volk sich befand -- geradezu ein "Summum von sittlichem Ernst" dar, wenn
auch die geifernde Welt der Schreier sie zynisch schilt; ja sie sind so sehr ein
Summum, daß es fast ein Zuviel gewesen zu sein scheint, wiewohl die Nicht¬
anerkennung wieder eine sittliche Unterlassungssünde gewesen wäre. Über den
Begriff der dummen Maße oder über ihren Willen zum Begreifen gingen diese


Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

für den Deutschen in gewissen Kreisen Hollands lautet) nachgerade einfach Mode
geworden, die gedankenlos mitgemacht wird. . . . „nichts als ein Symptom
für die Geistlosigkeit der Masse".

Der Deutsche soll ferner, heißt es immer, keine Achtung vor anderer
Persönlichkeit, kein Verständnis für anderer Menschen Wert haben, stets nur
„mit dem Korporalstock" arbeiten usw., wie er denn auch kein Glück habe in
der Behandlung seiner Gebiete mit fremder Bevölkerung und seiner Kolonien.
Labberton meint, dies alles besage nichts anderes, als daß der Deutsche als
Kolonisator seine Aufgabe eben zu ernst, zu tief auffaßt, daß er mehr will als
eine oberflächliche „Zivilisierung" fremder Gebiete mittels einer ganz äußerlichen
Organisation, mittels einer politischen und ökonomischen Maschinerie ohne
wahren Kulturinhalt — wie die berühmten englischen „Kolonisatoren", die
allerdings damit schneller zum Ziele kommen. Die Deutschen verfallen in
ihrer etwas fchulmeisterlichen Gründlichkeit leicht in zwei Fehler. Erstens
streben sie zu sehr danach, andere nach ihrem eigenen Vorbild zu erziehen, und
zweitens überschätzen sie nicht selten ihr Kolonisationsobjekt. Aber fehlt ihnen
auch noch häufig das richtige Verständnis für die Wahrheit des Wortes „Eines
schickt sich nicht für alle," fo sind sie dafür auch nicht der blinden Losung jenes
bedenklichen Grundsatzes „KIZlit c»r ^vronZ, in^ Lountr^" verfallen. Der
Verfasser widmet hierbei auch dem berühmten deutschen „Militarismus" einige
Betrachtungen. Im Gegensatz zu dem banalen und törichten Geschwätz von
ertötendem Kadavergehorsam und von Unfreiheit, sieht er das Wesen des
Militarismus einfach darin: wirklich und tief gefühlte Bereitschaft der übergroßen
Mehrheit eines ganzen Volkes zur Aufopferung von Gut und Leben für die Gemein¬
schaft, wobei Zwang zu freiem Willen wird; eine Bereitschaft, die nun schon
mehr als zehn Monate unerhörten Anforderungen und Verhältnissen gegenüber
standhält, eine Leistung, die man nicht anders bezeichnen kann als „ein Wunder
geradezu von festem Willen, von ernster und unbegrenzter Opferfreudigkeit".

Einen weiteren beredten Beweis für den hohen sittlichen Ernst der Deutschen
erblickt der Verfasser in der diesem Volke eigenen Objektivität gegenüber seinen
eigenen Fehlern und in feiner offenherzigen Bereitwilligkeit, seine Schuld, und
wäre es auch nur eine tragische, anzuerkennen, eben in der ausgeprägten
Betonung des Gewissens in seiner Brust. In diesem Lichte vor allem verdienen
auch die viel zitierten Worte des Reichskanzlers am 4. August vor dem Forum
des deutschen Reichstages und damit der ganzen Welt, die Worte vom „Unrecht
gegenüber Belgien", gewürdigt zu werden. Diese Worte, sagt Labberton,
stellen — man denke sich die bitterernsten Umstände, in denen das deutsche
Volk sich befand — geradezu ein „Summum von sittlichem Ernst" dar, wenn
auch die geifernde Welt der Schreier sie zynisch schilt; ja sie sind so sehr ein
Summum, daß es fast ein Zuviel gewesen zu sein scheint, wiewohl die Nicht¬
anerkennung wieder eine sittliche Unterlassungssünde gewesen wäre. Über den
Begriff der dummen Maße oder über ihren Willen zum Begreifen gingen diese


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0378" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323917"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1242" prev="#ID_1241"> für den Deutschen in gewissen Kreisen Hollands lautet) nachgerade einfach Mode<lb/>
geworden, die gedankenlos mitgemacht wird. . . . &#x201E;nichts als ein Symptom<lb/>
für die Geistlosigkeit der Masse".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1243"> Der Deutsche soll ferner, heißt es immer, keine Achtung vor anderer<lb/>
Persönlichkeit, kein Verständnis für anderer Menschen Wert haben, stets nur<lb/>
&#x201E;mit dem Korporalstock" arbeiten usw., wie er denn auch kein Glück habe in<lb/>
der Behandlung seiner Gebiete mit fremder Bevölkerung und seiner Kolonien.<lb/>
Labberton meint, dies alles besage nichts anderes, als daß der Deutsche als<lb/>
Kolonisator seine Aufgabe eben zu ernst, zu tief auffaßt, daß er mehr will als<lb/>
eine oberflächliche &#x201E;Zivilisierung" fremder Gebiete mittels einer ganz äußerlichen<lb/>
Organisation, mittels einer politischen und ökonomischen Maschinerie ohne<lb/>
wahren Kulturinhalt &#x2014; wie die berühmten englischen &#x201E;Kolonisatoren", die<lb/>
allerdings damit schneller zum Ziele kommen. Die Deutschen verfallen in<lb/>
ihrer etwas fchulmeisterlichen Gründlichkeit leicht in zwei Fehler. Erstens<lb/>
streben sie zu sehr danach, andere nach ihrem eigenen Vorbild zu erziehen, und<lb/>
zweitens überschätzen sie nicht selten ihr Kolonisationsobjekt. Aber fehlt ihnen<lb/>
auch noch häufig das richtige Verständnis für die Wahrheit des Wortes &#x201E;Eines<lb/>
schickt sich nicht für alle," fo sind sie dafür auch nicht der blinden Losung jenes<lb/>
bedenklichen Grundsatzes &#x201E;KIZlit c»r ^vronZ, in^ Lountr^" verfallen. Der<lb/>
Verfasser widmet hierbei auch dem berühmten deutschen &#x201E;Militarismus" einige<lb/>
Betrachtungen. Im Gegensatz zu dem banalen und törichten Geschwätz von<lb/>
ertötendem Kadavergehorsam und von Unfreiheit, sieht er das Wesen des<lb/>
Militarismus einfach darin: wirklich und tief gefühlte Bereitschaft der übergroßen<lb/>
Mehrheit eines ganzen Volkes zur Aufopferung von Gut und Leben für die Gemein¬<lb/>
schaft, wobei Zwang zu freiem Willen wird; eine Bereitschaft, die nun schon<lb/>
mehr als zehn Monate unerhörten Anforderungen und Verhältnissen gegenüber<lb/>
standhält, eine Leistung, die man nicht anders bezeichnen kann als &#x201E;ein Wunder<lb/>
geradezu von festem Willen, von ernster und unbegrenzter Opferfreudigkeit".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1244" next="#ID_1245"> Einen weiteren beredten Beweis für den hohen sittlichen Ernst der Deutschen<lb/>
erblickt der Verfasser in der diesem Volke eigenen Objektivität gegenüber seinen<lb/>
eigenen Fehlern und in feiner offenherzigen Bereitwilligkeit, seine Schuld, und<lb/>
wäre es auch nur eine tragische, anzuerkennen, eben in der ausgeprägten<lb/>
Betonung des Gewissens in seiner Brust. In diesem Lichte vor allem verdienen<lb/>
auch die viel zitierten Worte des Reichskanzlers am 4. August vor dem Forum<lb/>
des deutschen Reichstages und damit der ganzen Welt, die Worte vom &#x201E;Unrecht<lb/>
gegenüber Belgien", gewürdigt zu werden. Diese Worte, sagt Labberton,<lb/>
stellen &#x2014; man denke sich die bitterernsten Umstände, in denen das deutsche<lb/>
Volk sich befand &#x2014; geradezu ein &#x201E;Summum von sittlichem Ernst" dar, wenn<lb/>
auch die geifernde Welt der Schreier sie zynisch schilt; ja sie sind so sehr ein<lb/>
Summum, daß es fast ein Zuviel gewesen zu sein scheint, wiewohl die Nicht¬<lb/>
anerkennung wieder eine sittliche Unterlassungssünde gewesen wäre. Über den<lb/>
Begriff der dummen Maße oder über ihren Willen zum Begreifen gingen diese</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0378] Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung für den Deutschen in gewissen Kreisen Hollands lautet) nachgerade einfach Mode geworden, die gedankenlos mitgemacht wird. . . . „nichts als ein Symptom für die Geistlosigkeit der Masse". Der Deutsche soll ferner, heißt es immer, keine Achtung vor anderer Persönlichkeit, kein Verständnis für anderer Menschen Wert haben, stets nur „mit dem Korporalstock" arbeiten usw., wie er denn auch kein Glück habe in der Behandlung seiner Gebiete mit fremder Bevölkerung und seiner Kolonien. Labberton meint, dies alles besage nichts anderes, als daß der Deutsche als Kolonisator seine Aufgabe eben zu ernst, zu tief auffaßt, daß er mehr will als eine oberflächliche „Zivilisierung" fremder Gebiete mittels einer ganz äußerlichen Organisation, mittels einer politischen und ökonomischen Maschinerie ohne wahren Kulturinhalt — wie die berühmten englischen „Kolonisatoren", die allerdings damit schneller zum Ziele kommen. Die Deutschen verfallen in ihrer etwas fchulmeisterlichen Gründlichkeit leicht in zwei Fehler. Erstens streben sie zu sehr danach, andere nach ihrem eigenen Vorbild zu erziehen, und zweitens überschätzen sie nicht selten ihr Kolonisationsobjekt. Aber fehlt ihnen auch noch häufig das richtige Verständnis für die Wahrheit des Wortes „Eines schickt sich nicht für alle," fo sind sie dafür auch nicht der blinden Losung jenes bedenklichen Grundsatzes „KIZlit c»r ^vronZ, in^ Lountr^" verfallen. Der Verfasser widmet hierbei auch dem berühmten deutschen „Militarismus" einige Betrachtungen. Im Gegensatz zu dem banalen und törichten Geschwätz von ertötendem Kadavergehorsam und von Unfreiheit, sieht er das Wesen des Militarismus einfach darin: wirklich und tief gefühlte Bereitschaft der übergroßen Mehrheit eines ganzen Volkes zur Aufopferung von Gut und Leben für die Gemein¬ schaft, wobei Zwang zu freiem Willen wird; eine Bereitschaft, die nun schon mehr als zehn Monate unerhörten Anforderungen und Verhältnissen gegenüber standhält, eine Leistung, die man nicht anders bezeichnen kann als „ein Wunder geradezu von festem Willen, von ernster und unbegrenzter Opferfreudigkeit". Einen weiteren beredten Beweis für den hohen sittlichen Ernst der Deutschen erblickt der Verfasser in der diesem Volke eigenen Objektivität gegenüber seinen eigenen Fehlern und in feiner offenherzigen Bereitwilligkeit, seine Schuld, und wäre es auch nur eine tragische, anzuerkennen, eben in der ausgeprägten Betonung des Gewissens in seiner Brust. In diesem Lichte vor allem verdienen auch die viel zitierten Worte des Reichskanzlers am 4. August vor dem Forum des deutschen Reichstages und damit der ganzen Welt, die Worte vom „Unrecht gegenüber Belgien", gewürdigt zu werden. Diese Worte, sagt Labberton, stellen — man denke sich die bitterernsten Umstände, in denen das deutsche Volk sich befand — geradezu ein „Summum von sittlichem Ernst" dar, wenn auch die geifernde Welt der Schreier sie zynisch schilt; ja sie sind so sehr ein Summum, daß es fast ein Zuviel gewesen zu sein scheint, wiewohl die Nicht¬ anerkennung wieder eine sittliche Unterlassungssünde gewesen wäre. Über den Begriff der dummen Maße oder über ihren Willen zum Begreifen gingen diese

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/378
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/378>, abgerufen am 24.08.2024.