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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

Mobilisierungssystems, in dem allein sich schon ein Reichtum an sittlichen
Qualitäten birgt, ausnutzen; die Pflicht der Ehrerbietung vor einer anderen
staatlichen Persönlichkeit trat zurück vor der Pflicht gegen sich selbst, das heißt
gegen die eigene höhere sittliche Berufung. Hierbei erinnert Labberton noch
daran, wie schwer sich Deutschland zur Verletzung der Neutralität des belgischen
Königreichs entschlossen hat; er erinnert an die Zusicherung in dem ersten
Ultimatum, an die noch größer einzuschätzende weitere Konzession, wie sie das
zweite Ultimatum nach dem Fall Lüttich, also in einer Zeit, als Belgiens
militärischer Widerstand gebrochen war, darstellt. Auch Belgien befand sich in
einem ethischen Konflikt zwischen der Pflicht, seiner staatlichen Persönlichkeit die
Unabhängigkeit zu bewahren, und der höheren Pflicht der Nachgiebigkeit als
Glied der Staatengemeinschaft gegenüber dem eine staatliche Genialität dar¬
stellenden Deutschland. Wir müssen eben, sagt der Verfasser, erst verstehen
und fühlen lernen im Sinne einer höheren Moral, die Deutschland durch seine
Handlungsweise ac tanto inauguriert hat, da uns noch zu sehr die alten starren
Begriffe vom Recht der Individualität beherrschen, die gegen den neuen Begriff
von Opferpflicht gegen das höchste sittliche Interesse streiten wollen. Daher
spricht denn auch jetzt immer noch das "Gefühl" zugunsten Belgiens.

Labberton streift hierbei die Frage, wie sich dieser Gedankengang mit dem
Völkerrecht vereinbaren läßt. Das Völkerrecht kann nach seiner vorhin schon
gekennzeichneten Auffassung eben nicht als ein eigentliches absolutes Recht gelten,
sondern nur als ein Moralkodex, dessen Regeln auf eine absolute Gültigkeit nicht
Anspruch machen können. Weil diese Regeln, ähnlich wie diejenigen des nationalen
Rechts, insgesamt von einer der Wirklichkeit widersprechenden Fiktion ausgehen,
nämlich der Fiktion der Gleichheit aller staatlichen Persönlichkeiten, denen das
Völkerrecht eine Richtschnur für das, was als sittlich anzusehen ist, vorschreibt.
Die Staaten sind aber eben nicht alle gleichwertig, sie stehen nicht alle auf dem
gleichen sittlichen Niveau, nicht alle in gleichem Maße im Dienste eines sittlichen
Ideals, wie sie auch nicht gleiche Machtfaktoren darstellen.

Hat Labberton seine Ausführungen, von denen wir im vorstehenden die
Hauptpunkte wiedergegeben haben, bis hierher mehr theoretisch, im Rahmen
einer ethischen Beleuchtung der deutschen Sache im Falle Belgien gehalten und
darzustellen versucht, daß man auch bei Anlegung eines strengen sittlichen Matz¬
stabes nicht zu einer Verurteilung 8an8 plira8e, sondern höchstens zu einem
"non liqust" gelangen muß, so erscheint es ihm fernerhin doch unerläßlich,
die Betrachtungen doch auch noch auf das Gebiet der politischen Tatsachen selbst
zu erstrecken, um die von Deutschland zu seiner Rechtfertigung angeführten
mildernden Umstände äußerer Art zu würdigen. So kommt er zu der deutschen
Behauptung aggressiver Absichten von feiten Frankreichs unter Benutzung
belgischen Gebietes und zu den bekannten Brüsseler Dokumenten.

Was die erstere Behauptung anlangt, so ist sie, meint der Verfasser,
nicht vollkommen bewiesen, und wenn sie auch bewiesen wäre, ist es nicht


Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

Mobilisierungssystems, in dem allein sich schon ein Reichtum an sittlichen
Qualitäten birgt, ausnutzen; die Pflicht der Ehrerbietung vor einer anderen
staatlichen Persönlichkeit trat zurück vor der Pflicht gegen sich selbst, das heißt
gegen die eigene höhere sittliche Berufung. Hierbei erinnert Labberton noch
daran, wie schwer sich Deutschland zur Verletzung der Neutralität des belgischen
Königreichs entschlossen hat; er erinnert an die Zusicherung in dem ersten
Ultimatum, an die noch größer einzuschätzende weitere Konzession, wie sie das
zweite Ultimatum nach dem Fall Lüttich, also in einer Zeit, als Belgiens
militärischer Widerstand gebrochen war, darstellt. Auch Belgien befand sich in
einem ethischen Konflikt zwischen der Pflicht, seiner staatlichen Persönlichkeit die
Unabhängigkeit zu bewahren, und der höheren Pflicht der Nachgiebigkeit als
Glied der Staatengemeinschaft gegenüber dem eine staatliche Genialität dar¬
stellenden Deutschland. Wir müssen eben, sagt der Verfasser, erst verstehen
und fühlen lernen im Sinne einer höheren Moral, die Deutschland durch seine
Handlungsweise ac tanto inauguriert hat, da uns noch zu sehr die alten starren
Begriffe vom Recht der Individualität beherrschen, die gegen den neuen Begriff
von Opferpflicht gegen das höchste sittliche Interesse streiten wollen. Daher
spricht denn auch jetzt immer noch das „Gefühl" zugunsten Belgiens.

Labberton streift hierbei die Frage, wie sich dieser Gedankengang mit dem
Völkerrecht vereinbaren läßt. Das Völkerrecht kann nach seiner vorhin schon
gekennzeichneten Auffassung eben nicht als ein eigentliches absolutes Recht gelten,
sondern nur als ein Moralkodex, dessen Regeln auf eine absolute Gültigkeit nicht
Anspruch machen können. Weil diese Regeln, ähnlich wie diejenigen des nationalen
Rechts, insgesamt von einer der Wirklichkeit widersprechenden Fiktion ausgehen,
nämlich der Fiktion der Gleichheit aller staatlichen Persönlichkeiten, denen das
Völkerrecht eine Richtschnur für das, was als sittlich anzusehen ist, vorschreibt.
Die Staaten sind aber eben nicht alle gleichwertig, sie stehen nicht alle auf dem
gleichen sittlichen Niveau, nicht alle in gleichem Maße im Dienste eines sittlichen
Ideals, wie sie auch nicht gleiche Machtfaktoren darstellen.

Hat Labberton seine Ausführungen, von denen wir im vorstehenden die
Hauptpunkte wiedergegeben haben, bis hierher mehr theoretisch, im Rahmen
einer ethischen Beleuchtung der deutschen Sache im Falle Belgien gehalten und
darzustellen versucht, daß man auch bei Anlegung eines strengen sittlichen Matz¬
stabes nicht zu einer Verurteilung 8an8 plira8e, sondern höchstens zu einem
„non liqust" gelangen muß, so erscheint es ihm fernerhin doch unerläßlich,
die Betrachtungen doch auch noch auf das Gebiet der politischen Tatsachen selbst
zu erstrecken, um die von Deutschland zu seiner Rechtfertigung angeführten
mildernden Umstände äußerer Art zu würdigen. So kommt er zu der deutschen
Behauptung aggressiver Absichten von feiten Frankreichs unter Benutzung
belgischen Gebietes und zu den bekannten Brüsseler Dokumenten.

Was die erstere Behauptung anlangt, so ist sie, meint der Verfasser,
nicht vollkommen bewiesen, und wenn sie auch bewiesen wäre, ist es nicht


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[0380] Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung Mobilisierungssystems, in dem allein sich schon ein Reichtum an sittlichen Qualitäten birgt, ausnutzen; die Pflicht der Ehrerbietung vor einer anderen staatlichen Persönlichkeit trat zurück vor der Pflicht gegen sich selbst, das heißt gegen die eigene höhere sittliche Berufung. Hierbei erinnert Labberton noch daran, wie schwer sich Deutschland zur Verletzung der Neutralität des belgischen Königreichs entschlossen hat; er erinnert an die Zusicherung in dem ersten Ultimatum, an die noch größer einzuschätzende weitere Konzession, wie sie das zweite Ultimatum nach dem Fall Lüttich, also in einer Zeit, als Belgiens militärischer Widerstand gebrochen war, darstellt. Auch Belgien befand sich in einem ethischen Konflikt zwischen der Pflicht, seiner staatlichen Persönlichkeit die Unabhängigkeit zu bewahren, und der höheren Pflicht der Nachgiebigkeit als Glied der Staatengemeinschaft gegenüber dem eine staatliche Genialität dar¬ stellenden Deutschland. Wir müssen eben, sagt der Verfasser, erst verstehen und fühlen lernen im Sinne einer höheren Moral, die Deutschland durch seine Handlungsweise ac tanto inauguriert hat, da uns noch zu sehr die alten starren Begriffe vom Recht der Individualität beherrschen, die gegen den neuen Begriff von Opferpflicht gegen das höchste sittliche Interesse streiten wollen. Daher spricht denn auch jetzt immer noch das „Gefühl" zugunsten Belgiens. Labberton streift hierbei die Frage, wie sich dieser Gedankengang mit dem Völkerrecht vereinbaren läßt. Das Völkerrecht kann nach seiner vorhin schon gekennzeichneten Auffassung eben nicht als ein eigentliches absolutes Recht gelten, sondern nur als ein Moralkodex, dessen Regeln auf eine absolute Gültigkeit nicht Anspruch machen können. Weil diese Regeln, ähnlich wie diejenigen des nationalen Rechts, insgesamt von einer der Wirklichkeit widersprechenden Fiktion ausgehen, nämlich der Fiktion der Gleichheit aller staatlichen Persönlichkeiten, denen das Völkerrecht eine Richtschnur für das, was als sittlich anzusehen ist, vorschreibt. Die Staaten sind aber eben nicht alle gleichwertig, sie stehen nicht alle auf dem gleichen sittlichen Niveau, nicht alle in gleichem Maße im Dienste eines sittlichen Ideals, wie sie auch nicht gleiche Machtfaktoren darstellen. Hat Labberton seine Ausführungen, von denen wir im vorstehenden die Hauptpunkte wiedergegeben haben, bis hierher mehr theoretisch, im Rahmen einer ethischen Beleuchtung der deutschen Sache im Falle Belgien gehalten und darzustellen versucht, daß man auch bei Anlegung eines strengen sittlichen Matz¬ stabes nicht zu einer Verurteilung 8an8 plira8e, sondern höchstens zu einem „non liqust" gelangen muß, so erscheint es ihm fernerhin doch unerläßlich, die Betrachtungen doch auch noch auf das Gebiet der politischen Tatsachen selbst zu erstrecken, um die von Deutschland zu seiner Rechtfertigung angeführten mildernden Umstände äußerer Art zu würdigen. So kommt er zu der deutschen Behauptung aggressiver Absichten von feiten Frankreichs unter Benutzung belgischen Gebietes und zu den bekannten Brüsseler Dokumenten. Was die erstere Behauptung anlangt, so ist sie, meint der Verfasser, nicht vollkommen bewiesen, und wenn sie auch bewiesen wäre, ist es nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/380>, abgerufen am 24.08.2024.