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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

besprochen wird, nämlich der sittliche Konflikt in der Psychologie des
Genies.

Nach einer Definition der wesentlichen Merkmale des Genies beim
Individuum und der sittlichen Genialität bei Staaten, des Höchsten, das ein
Mensch und noch mehr ein Staat in Ausübung der höchsten sittlichen Be¬
rufung erreichen kann, führt der Verfasser seine Betrachtungen zu dem Ergebnis,
daß Deutschland in der Tat eine solche ethische Genialität darstellt. "Nach
meiner innersten Überzeugung," sagt er, "ist Preußen der sittliche gesunde
Kern von Europa, von dem letzten Endes die sittliche Regeneration unserer
todkranken Welt ausgehen wird." Labberton verkennt hierbei keineswegs, daß.
dies natürlich seine subjektive, allerdings instinktmüßige Überzeugung ist, ohne
unbedingte Beweiskraft für andere. Indes findet Labberton unter anderem
im Preußischen Staatsrecht ein unbestreitbares Symptom staatlicher Genialität,
nämlich in der Tatsache, daß dieses Recht für jeden Modewechsel unempfänglich
geblieben ist und, nur dem eigenen Maßstabe gehorchend, sich in seiner
Eigenart bis heute durchgesetzt hat, fest in sich gegründet und der inneren Be¬
rechtigung sich konsequent bewußt ist. Von allen Ländern Europas ist Preußen
nach seiner Ansicht das vom Rousseauschen Atomismus und von der Herrschaft
der Lehre von der Hälfte ^ 1 am meisten entfernte. Und ganz Deutschland
hat schon die am vollendetsten ausgebauten Berufsinteressenorganisationen, die
Grundlage für die positive Politik und Rechtsformung der Zukunft nach Über¬
windung des parlamentarischen Systems. Es lassen sich aber nach Labbertons
Auffassung für die Behauptung, daß das deutsche Volk auf einem ganz
ungewöhnlich hohen sittlichen Niveau steht, auch noch verschiedene andere Beweise
erbringen. Zunächst sieht er einen solchen in der von Hause aus vorwiegend
kontemplativer, nicht aktiven, mehr ethischen als ästhetischen Veranlagung des
Volkes, die in erster Reihe nicht nach Form, sondern nach Inhalt, nach Ver-
innerlichung strebt, die die Form auf Kosten des bon Zone oft geradezu
vernachlässigt. Kommt dann ein solches Volk zu später, aber großer Aktivität,
so tut es dies nicht aus äußerlichen, egoistischen Motiven, sondern aus innerstem
Pflichtgefühl heraus, einer innerlich erlebten sittlichen Berufung folgend. Dafür^
daß heute im deutschen Volke dieser Geist lebt und wirkt, bürgt gerade die so un¬
gewöhnlich lange kontemplative, nicht Formen schaffende, sondern Inhalt denkende
Zurückgezogenheit dieses "Volkes der Dichter und Denker", das man draußen
heute so verändert glaubt und so ungern verändert sieht. Gerade aus dieser
eigenartigen Veranlagung der deutschen Volksseele heraus erklärt der Verfasser
denn auch die Tatsache, daß es im Auslande sich nicht beliebt oder auch nur
begreiflich zu machen versteht, so sehr auch gerade sein tiefes Gemütsleben es
dazu drängt, Verständnis und Sympathie zu suchen; dann aber heißt der
Deutsche aufdringlich, und zieht er sich verkannt zurück, schilt man ihn ver¬
schlossen. Im übrigen, fügt Labberton hier gelassen hinzu, ist das Schelten
über den deutschen "Boche" oder "Moff" (wie die freundschaftliche Bezeichnung.


Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

besprochen wird, nämlich der sittliche Konflikt in der Psychologie des
Genies.

Nach einer Definition der wesentlichen Merkmale des Genies beim
Individuum und der sittlichen Genialität bei Staaten, des Höchsten, das ein
Mensch und noch mehr ein Staat in Ausübung der höchsten sittlichen Be¬
rufung erreichen kann, führt der Verfasser seine Betrachtungen zu dem Ergebnis,
daß Deutschland in der Tat eine solche ethische Genialität darstellt. „Nach
meiner innersten Überzeugung," sagt er, „ist Preußen der sittliche gesunde
Kern von Europa, von dem letzten Endes die sittliche Regeneration unserer
todkranken Welt ausgehen wird." Labberton verkennt hierbei keineswegs, daß.
dies natürlich seine subjektive, allerdings instinktmüßige Überzeugung ist, ohne
unbedingte Beweiskraft für andere. Indes findet Labberton unter anderem
im Preußischen Staatsrecht ein unbestreitbares Symptom staatlicher Genialität,
nämlich in der Tatsache, daß dieses Recht für jeden Modewechsel unempfänglich
geblieben ist und, nur dem eigenen Maßstabe gehorchend, sich in seiner
Eigenart bis heute durchgesetzt hat, fest in sich gegründet und der inneren Be¬
rechtigung sich konsequent bewußt ist. Von allen Ländern Europas ist Preußen
nach seiner Ansicht das vom Rousseauschen Atomismus und von der Herrschaft
der Lehre von der Hälfte ^ 1 am meisten entfernte. Und ganz Deutschland
hat schon die am vollendetsten ausgebauten Berufsinteressenorganisationen, die
Grundlage für die positive Politik und Rechtsformung der Zukunft nach Über¬
windung des parlamentarischen Systems. Es lassen sich aber nach Labbertons
Auffassung für die Behauptung, daß das deutsche Volk auf einem ganz
ungewöhnlich hohen sittlichen Niveau steht, auch noch verschiedene andere Beweise
erbringen. Zunächst sieht er einen solchen in der von Hause aus vorwiegend
kontemplativer, nicht aktiven, mehr ethischen als ästhetischen Veranlagung des
Volkes, die in erster Reihe nicht nach Form, sondern nach Inhalt, nach Ver-
innerlichung strebt, die die Form auf Kosten des bon Zone oft geradezu
vernachlässigt. Kommt dann ein solches Volk zu später, aber großer Aktivität,
so tut es dies nicht aus äußerlichen, egoistischen Motiven, sondern aus innerstem
Pflichtgefühl heraus, einer innerlich erlebten sittlichen Berufung folgend. Dafür^
daß heute im deutschen Volke dieser Geist lebt und wirkt, bürgt gerade die so un¬
gewöhnlich lange kontemplative, nicht Formen schaffende, sondern Inhalt denkende
Zurückgezogenheit dieses „Volkes der Dichter und Denker", das man draußen
heute so verändert glaubt und so ungern verändert sieht. Gerade aus dieser
eigenartigen Veranlagung der deutschen Volksseele heraus erklärt der Verfasser
denn auch die Tatsache, daß es im Auslande sich nicht beliebt oder auch nur
begreiflich zu machen versteht, so sehr auch gerade sein tiefes Gemütsleben es
dazu drängt, Verständnis und Sympathie zu suchen; dann aber heißt der
Deutsche aufdringlich, und zieht er sich verkannt zurück, schilt man ihn ver¬
schlossen. Im übrigen, fügt Labberton hier gelassen hinzu, ist das Schelten
über den deutschen „Boche" oder „Moff" (wie die freundschaftliche Bezeichnung.


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[0377] Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung besprochen wird, nämlich der sittliche Konflikt in der Psychologie des Genies. Nach einer Definition der wesentlichen Merkmale des Genies beim Individuum und der sittlichen Genialität bei Staaten, des Höchsten, das ein Mensch und noch mehr ein Staat in Ausübung der höchsten sittlichen Be¬ rufung erreichen kann, führt der Verfasser seine Betrachtungen zu dem Ergebnis, daß Deutschland in der Tat eine solche ethische Genialität darstellt. „Nach meiner innersten Überzeugung," sagt er, „ist Preußen der sittliche gesunde Kern von Europa, von dem letzten Endes die sittliche Regeneration unserer todkranken Welt ausgehen wird." Labberton verkennt hierbei keineswegs, daß. dies natürlich seine subjektive, allerdings instinktmüßige Überzeugung ist, ohne unbedingte Beweiskraft für andere. Indes findet Labberton unter anderem im Preußischen Staatsrecht ein unbestreitbares Symptom staatlicher Genialität, nämlich in der Tatsache, daß dieses Recht für jeden Modewechsel unempfänglich geblieben ist und, nur dem eigenen Maßstabe gehorchend, sich in seiner Eigenart bis heute durchgesetzt hat, fest in sich gegründet und der inneren Be¬ rechtigung sich konsequent bewußt ist. Von allen Ländern Europas ist Preußen nach seiner Ansicht das vom Rousseauschen Atomismus und von der Herrschaft der Lehre von der Hälfte ^ 1 am meisten entfernte. Und ganz Deutschland hat schon die am vollendetsten ausgebauten Berufsinteressenorganisationen, die Grundlage für die positive Politik und Rechtsformung der Zukunft nach Über¬ windung des parlamentarischen Systems. Es lassen sich aber nach Labbertons Auffassung für die Behauptung, daß das deutsche Volk auf einem ganz ungewöhnlich hohen sittlichen Niveau steht, auch noch verschiedene andere Beweise erbringen. Zunächst sieht er einen solchen in der von Hause aus vorwiegend kontemplativer, nicht aktiven, mehr ethischen als ästhetischen Veranlagung des Volkes, die in erster Reihe nicht nach Form, sondern nach Inhalt, nach Ver- innerlichung strebt, die die Form auf Kosten des bon Zone oft geradezu vernachlässigt. Kommt dann ein solches Volk zu später, aber großer Aktivität, so tut es dies nicht aus äußerlichen, egoistischen Motiven, sondern aus innerstem Pflichtgefühl heraus, einer innerlich erlebten sittlichen Berufung folgend. Dafür^ daß heute im deutschen Volke dieser Geist lebt und wirkt, bürgt gerade die so un¬ gewöhnlich lange kontemplative, nicht Formen schaffende, sondern Inhalt denkende Zurückgezogenheit dieses „Volkes der Dichter und Denker", das man draußen heute so verändert glaubt und so ungern verändert sieht. Gerade aus dieser eigenartigen Veranlagung der deutschen Volksseele heraus erklärt der Verfasser denn auch die Tatsache, daß es im Auslande sich nicht beliebt oder auch nur begreiflich zu machen versteht, so sehr auch gerade sein tiefes Gemütsleben es dazu drängt, Verständnis und Sympathie zu suchen; dann aber heißt der Deutsche aufdringlich, und zieht er sich verkannt zurück, schilt man ihn ver¬ schlossen. Im übrigen, fügt Labberton hier gelassen hinzu, ist das Schelten über den deutschen „Boche" oder „Moff" (wie die freundschaftliche Bezeichnung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/377>, abgerufen am 24.08.2024.