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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Italienische oder slawische Jrredenta?

daß die Tage Österreichs gezählt und die nationalen Wünsche der Erfüllung
nahe seien. Seitdem der Balkankrieg die nationalen Aspirationen der Balkan¬
völker gestärkt hatte, wurde die bevorstehende Liquidation des Habsburger Reichs
auch in ernsthaften Zeitschriften erörtert. Diesen Kreisen erschien der Weltkrieg
als das Stichwort, auf das man gewartet hatte.

Eine politische Gefahr wurde die Jrredenta aber erst in ihrer Verbindung
mit größeren, imperialistischen Zwecken, wie es die gegen Österreich gerichtete
Balkanpolitik und die Bestrebungen in der Levante find. Die Gegensätze auf
diesen Gebieten leiteten immer wieder Wasser auf die Mühle des Jrredentismus,
und haben ihn recht eigentlich ins Leben gerufen. Seine Geburtsstunde fällt
in die Zeit nach dem Berliner Kongreß, als Österreich Bosnien besetzte und
diese Expansion des "Erbfeindes" im Adriagebiet die Befürchtungen der
Italiener erweckte.

Die Sorge um die "unerlösten Brüder" wurde gesteigert, als man zu
beobachten glaubte, daß die Habsburgische Monarchie im Küstengebiet das slawische
Element in seinem Vorrücken auf Kosten des italienischen begünstigte, um sich
diese Landesteile desto fester zu assimilieren. Die Haltung der Wiener Regierung
in der Frage der Gründung einer italienischen Universität hat feit Jahren
böses Blut gemacht. Noch im Mai 1914 rief die Nachricht, daß in Trieft
mehrere Italiener bei einem Kampf mit Slawen ihr Leben eingebüßt hätten,
einen Proteststreik der Studentenschaft von Turin bis Palermo hervor. Es
mehrten sich die Stimmen, die da sagten, daß nur eine baldige Annexion die
völlige Slawisierung des Küstenlandes aufhalten könne.

Die Jrredentisten führen für ihre Bestrebungen auch militärische Gründe
an: die geographisch willkürliche Ostgrenze sei schwer zu verteidigen und der
vorgeschobene Zipfel österreichischen Gebiets an der Etsch sei eine gefährliche
Einfallspforte. Einzelne nationalistische Heißsporne scheuen sich denn auch nicht,
im Interesse der militärischen Sicherung ein Gebiet zu beanspruchen, das weit
hinausgeht über die Sprachgrenzen. "Der Brenner und die Quelle der Etsch
werden die Grenzlinien sein müssen, und die 200000 Deutsche, die das obere
Etschgebiet bewohnen, werden die biblische Strafe für die Sünden ihrer
Väter auf sich nehmen müssen" (A. Colonel in der "Rivista d'Italia"
15. Jarmar 1914). Dabei liegt die Sprachgrenze Welschtirols verhältnismäßig
sehr einfach und ist meist den geographischen Verhältnissen angepaßt. Schwieriger
müßte sich gerade unter militärischen Gesichtspunkten die Regelung der Grenzen
im Adriagebiet gestalten, wenn die nationalistischen Ideale erfüllt werden sollen;
denn der schmale von Italienern bewohnte und mit Slawen durchsetzte Küsten¬
streif ist ohne das Hinterland militärisch nicht zu halten. Deswegen kann man
auf den Karten, die den vom italienischen Nationalismus erstrebten Besitz
verzeichnen, die Grenze bis hart an Laibach, die Haupstadt Krains, also wie
wir sehen werden, bis tief in slawisches Gebiet hinein, gezogen finden. Aus
geographisch-militärischen Gründen ist eben eine wirklich durchgeführte "Voll-


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Italienische oder slawische Jrredenta?

daß die Tage Österreichs gezählt und die nationalen Wünsche der Erfüllung
nahe seien. Seitdem der Balkankrieg die nationalen Aspirationen der Balkan¬
völker gestärkt hatte, wurde die bevorstehende Liquidation des Habsburger Reichs
auch in ernsthaften Zeitschriften erörtert. Diesen Kreisen erschien der Weltkrieg
als das Stichwort, auf das man gewartet hatte.

Eine politische Gefahr wurde die Jrredenta aber erst in ihrer Verbindung
mit größeren, imperialistischen Zwecken, wie es die gegen Österreich gerichtete
Balkanpolitik und die Bestrebungen in der Levante find. Die Gegensätze auf
diesen Gebieten leiteten immer wieder Wasser auf die Mühle des Jrredentismus,
und haben ihn recht eigentlich ins Leben gerufen. Seine Geburtsstunde fällt
in die Zeit nach dem Berliner Kongreß, als Österreich Bosnien besetzte und
diese Expansion des „Erbfeindes" im Adriagebiet die Befürchtungen der
Italiener erweckte.

Die Sorge um die „unerlösten Brüder" wurde gesteigert, als man zu
beobachten glaubte, daß die Habsburgische Monarchie im Küstengebiet das slawische
Element in seinem Vorrücken auf Kosten des italienischen begünstigte, um sich
diese Landesteile desto fester zu assimilieren. Die Haltung der Wiener Regierung
in der Frage der Gründung einer italienischen Universität hat feit Jahren
böses Blut gemacht. Noch im Mai 1914 rief die Nachricht, daß in Trieft
mehrere Italiener bei einem Kampf mit Slawen ihr Leben eingebüßt hätten,
einen Proteststreik der Studentenschaft von Turin bis Palermo hervor. Es
mehrten sich die Stimmen, die da sagten, daß nur eine baldige Annexion die
völlige Slawisierung des Küstenlandes aufhalten könne.

Die Jrredentisten führen für ihre Bestrebungen auch militärische Gründe
an: die geographisch willkürliche Ostgrenze sei schwer zu verteidigen und der
vorgeschobene Zipfel österreichischen Gebiets an der Etsch sei eine gefährliche
Einfallspforte. Einzelne nationalistische Heißsporne scheuen sich denn auch nicht,
im Interesse der militärischen Sicherung ein Gebiet zu beanspruchen, das weit
hinausgeht über die Sprachgrenzen. „Der Brenner und die Quelle der Etsch
werden die Grenzlinien sein müssen, und die 200000 Deutsche, die das obere
Etschgebiet bewohnen, werden die biblische Strafe für die Sünden ihrer
Väter auf sich nehmen müssen" (A. Colonel in der „Rivista d'Italia"
15. Jarmar 1914). Dabei liegt die Sprachgrenze Welschtirols verhältnismäßig
sehr einfach und ist meist den geographischen Verhältnissen angepaßt. Schwieriger
müßte sich gerade unter militärischen Gesichtspunkten die Regelung der Grenzen
im Adriagebiet gestalten, wenn die nationalistischen Ideale erfüllt werden sollen;
denn der schmale von Italienern bewohnte und mit Slawen durchsetzte Küsten¬
streif ist ohne das Hinterland militärisch nicht zu halten. Deswegen kann man
auf den Karten, die den vom italienischen Nationalismus erstrebten Besitz
verzeichnen, die Grenze bis hart an Laibach, die Haupstadt Krains, also wie
wir sehen werden, bis tief in slawisches Gebiet hinein, gezogen finden. Aus
geographisch-militärischen Gründen ist eben eine wirklich durchgeführte „Voll-


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[0367] Italienische oder slawische Jrredenta? daß die Tage Österreichs gezählt und die nationalen Wünsche der Erfüllung nahe seien. Seitdem der Balkankrieg die nationalen Aspirationen der Balkan¬ völker gestärkt hatte, wurde die bevorstehende Liquidation des Habsburger Reichs auch in ernsthaften Zeitschriften erörtert. Diesen Kreisen erschien der Weltkrieg als das Stichwort, auf das man gewartet hatte. Eine politische Gefahr wurde die Jrredenta aber erst in ihrer Verbindung mit größeren, imperialistischen Zwecken, wie es die gegen Österreich gerichtete Balkanpolitik und die Bestrebungen in der Levante find. Die Gegensätze auf diesen Gebieten leiteten immer wieder Wasser auf die Mühle des Jrredentismus, und haben ihn recht eigentlich ins Leben gerufen. Seine Geburtsstunde fällt in die Zeit nach dem Berliner Kongreß, als Österreich Bosnien besetzte und diese Expansion des „Erbfeindes" im Adriagebiet die Befürchtungen der Italiener erweckte. Die Sorge um die „unerlösten Brüder" wurde gesteigert, als man zu beobachten glaubte, daß die Habsburgische Monarchie im Küstengebiet das slawische Element in seinem Vorrücken auf Kosten des italienischen begünstigte, um sich diese Landesteile desto fester zu assimilieren. Die Haltung der Wiener Regierung in der Frage der Gründung einer italienischen Universität hat feit Jahren böses Blut gemacht. Noch im Mai 1914 rief die Nachricht, daß in Trieft mehrere Italiener bei einem Kampf mit Slawen ihr Leben eingebüßt hätten, einen Proteststreik der Studentenschaft von Turin bis Palermo hervor. Es mehrten sich die Stimmen, die da sagten, daß nur eine baldige Annexion die völlige Slawisierung des Küstenlandes aufhalten könne. Die Jrredentisten führen für ihre Bestrebungen auch militärische Gründe an: die geographisch willkürliche Ostgrenze sei schwer zu verteidigen und der vorgeschobene Zipfel österreichischen Gebiets an der Etsch sei eine gefährliche Einfallspforte. Einzelne nationalistische Heißsporne scheuen sich denn auch nicht, im Interesse der militärischen Sicherung ein Gebiet zu beanspruchen, das weit hinausgeht über die Sprachgrenzen. „Der Brenner und die Quelle der Etsch werden die Grenzlinien sein müssen, und die 200000 Deutsche, die das obere Etschgebiet bewohnen, werden die biblische Strafe für die Sünden ihrer Väter auf sich nehmen müssen" (A. Colonel in der „Rivista d'Italia" 15. Jarmar 1914). Dabei liegt die Sprachgrenze Welschtirols verhältnismäßig sehr einfach und ist meist den geographischen Verhältnissen angepaßt. Schwieriger müßte sich gerade unter militärischen Gesichtspunkten die Regelung der Grenzen im Adriagebiet gestalten, wenn die nationalistischen Ideale erfüllt werden sollen; denn der schmale von Italienern bewohnte und mit Slawen durchsetzte Küsten¬ streif ist ohne das Hinterland militärisch nicht zu halten. Deswegen kann man auf den Karten, die den vom italienischen Nationalismus erstrebten Besitz verzeichnen, die Grenze bis hart an Laibach, die Haupstadt Krains, also wie wir sehen werden, bis tief in slawisches Gebiet hinein, gezogen finden. Aus geographisch-militärischen Gründen ist eben eine wirklich durchgeführte „Voll- 23'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/367>, abgerufen am 24.08.2024.