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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Italienische oder slawische Jrredenta?

eine viel bescheidenere Aufgabe, die "unbefreiten Volksgebiete" zu gewinnen,
als eine Kolonialmacht über See zu gründen. Wenn die nordafrikanischen und
die Balkanpläne, wenn die Seeherrschaft im Mittelmeer imperialistische Ideale
sind, bedeutet der reine Jrredentismus, der nichts anderes steht als "l'relito
e l'nsZte", den Verzicht auf jeden Imperialismus. Er gibt der auswärtigen
Politik ein kleinbürgerliches Gepräge, weil er einen geringen Verlust nicht an
einen großen Gewinn zu setzen vermag. Er hat seine Voraussetzungen in
einem starken Nationalgefühl, aber zugleich doch auch in einem Mangel an
großzügigem nationalen Lebenswillen. Um uns die Seelenverfassung des
Jrredentisten klar zu machen, genügt es daran zu erinnern, daß wir Deutsche,
wenn wir der gleichen Denkweise huldigten, unser Verhältnis zu Rußland stets
danach hätten bestimmen müssen, daß in den Ostseeprovinzen unsere baltischen
Landsleute zunehmender Bedrückung unterliegen.

Es erscheint auffallend, daß der Jrredentismus gerade in Italien eine
solche Macht geworden ist, obwohl das Regno unter den Großmächten Europas
der reinste Nationalstaat ist, der die prozentual geringste Zahl von Volks¬
genossen außerhalb seiner Grenzen läßt (noch nicht 5 Prozent). Aber dieses
"obwohl" verwandelt sich tieferer Betrachtung in ein "weil": weil das Land
hinsichtlich seiner nationalen Geschlossenheit so verwöhnt ist. ist es auch gegen
kleine Unstimmigkeiten der Grenze besonders empfindlich. Den 35,3 Millionen
Italienern des Regno stehen nur 1,4 Millionen gegenüber, die andern Staaten
augehören. Davon entfallen auf französisches Staatsgebiet (Korsika und Tunis)
etwa 400000, auf Österreich-Ungarn etwa 800000 Seelen.

Zweifellos hielte das italienische Volk auch nicht den Blick gebannt auf
diese schmalen Sprachgebiete unter habsburgischer Herrschaft, wenn nicht eine
alte Gefühlsgewöhnung diese Richtung wiese. Der nationale Haß gegen
Österreich, gegen die Tedeschi. wie es wohl schlechthin heißt, ist,in der Geschichte
begründet. Das Haus Habsburg hat bis 1859 Oberitalien 'beherrscht, und
von dort aus lastete seine Macht auf dem ganzen Land. Mag auch die Ver¬
waltung der Lombardei und Venetiens die beste gewesen sein, die italienischen
Staaten damals zuteil wurde -- das erkennen auch Italiener an --. so wurde
sie doch ausgeübt mit all dem verständnislosen hoffärtigen Dünkel, den das
Österreich Metternichs in nationalen Fragen bewiesen hat*). Man erinnere sich
wie Treitschke über diese Fremdherrschaft geurteilt hat. Italiens Kampf um
die Einheit war ein Kampf um die Unabhängigkeit von Österreich. Das sind
Erlebnisse, die auf lange hinaus das politische Gefühl eines Volkes bestimmen
können. Die Auffassung Mazzinis, daß der Habsburger Staat das verkörperte
"Böse" sei, liegt jedem Italiener im Blut. In manchen Teilen der Bevölkerung
lebte schon seit langem mit der Kraft chiliastischer Überzeugung der Glaube,



*) Vergleiche den Aufsatz von or. Scina Stern "Der italienische Jrredentismus*.
Die Grenzboten Höfe 9 dieses Jahres.
Italienische oder slawische Jrredenta?

eine viel bescheidenere Aufgabe, die „unbefreiten Volksgebiete" zu gewinnen,
als eine Kolonialmacht über See zu gründen. Wenn die nordafrikanischen und
die Balkanpläne, wenn die Seeherrschaft im Mittelmeer imperialistische Ideale
sind, bedeutet der reine Jrredentismus, der nichts anderes steht als „l'relito
e l'nsZte", den Verzicht auf jeden Imperialismus. Er gibt der auswärtigen
Politik ein kleinbürgerliches Gepräge, weil er einen geringen Verlust nicht an
einen großen Gewinn zu setzen vermag. Er hat seine Voraussetzungen in
einem starken Nationalgefühl, aber zugleich doch auch in einem Mangel an
großzügigem nationalen Lebenswillen. Um uns die Seelenverfassung des
Jrredentisten klar zu machen, genügt es daran zu erinnern, daß wir Deutsche,
wenn wir der gleichen Denkweise huldigten, unser Verhältnis zu Rußland stets
danach hätten bestimmen müssen, daß in den Ostseeprovinzen unsere baltischen
Landsleute zunehmender Bedrückung unterliegen.

Es erscheint auffallend, daß der Jrredentismus gerade in Italien eine
solche Macht geworden ist, obwohl das Regno unter den Großmächten Europas
der reinste Nationalstaat ist, der die prozentual geringste Zahl von Volks¬
genossen außerhalb seiner Grenzen läßt (noch nicht 5 Prozent). Aber dieses
„obwohl" verwandelt sich tieferer Betrachtung in ein „weil": weil das Land
hinsichtlich seiner nationalen Geschlossenheit so verwöhnt ist. ist es auch gegen
kleine Unstimmigkeiten der Grenze besonders empfindlich. Den 35,3 Millionen
Italienern des Regno stehen nur 1,4 Millionen gegenüber, die andern Staaten
augehören. Davon entfallen auf französisches Staatsgebiet (Korsika und Tunis)
etwa 400000, auf Österreich-Ungarn etwa 800000 Seelen.

Zweifellos hielte das italienische Volk auch nicht den Blick gebannt auf
diese schmalen Sprachgebiete unter habsburgischer Herrschaft, wenn nicht eine
alte Gefühlsgewöhnung diese Richtung wiese. Der nationale Haß gegen
Österreich, gegen die Tedeschi. wie es wohl schlechthin heißt, ist,in der Geschichte
begründet. Das Haus Habsburg hat bis 1859 Oberitalien 'beherrscht, und
von dort aus lastete seine Macht auf dem ganzen Land. Mag auch die Ver¬
waltung der Lombardei und Venetiens die beste gewesen sein, die italienischen
Staaten damals zuteil wurde — das erkennen auch Italiener an —. so wurde
sie doch ausgeübt mit all dem verständnislosen hoffärtigen Dünkel, den das
Österreich Metternichs in nationalen Fragen bewiesen hat*). Man erinnere sich
wie Treitschke über diese Fremdherrschaft geurteilt hat. Italiens Kampf um
die Einheit war ein Kampf um die Unabhängigkeit von Österreich. Das sind
Erlebnisse, die auf lange hinaus das politische Gefühl eines Volkes bestimmen
können. Die Auffassung Mazzinis, daß der Habsburger Staat das verkörperte
„Böse" sei, liegt jedem Italiener im Blut. In manchen Teilen der Bevölkerung
lebte schon seit langem mit der Kraft chiliastischer Überzeugung der Glaube,



*) Vergleiche den Aufsatz von or. Scina Stern „Der italienische Jrredentismus*.
Die Grenzboten Höfe 9 dieses Jahres.
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[0366] Italienische oder slawische Jrredenta? eine viel bescheidenere Aufgabe, die „unbefreiten Volksgebiete" zu gewinnen, als eine Kolonialmacht über See zu gründen. Wenn die nordafrikanischen und die Balkanpläne, wenn die Seeherrschaft im Mittelmeer imperialistische Ideale sind, bedeutet der reine Jrredentismus, der nichts anderes steht als „l'relito e l'nsZte", den Verzicht auf jeden Imperialismus. Er gibt der auswärtigen Politik ein kleinbürgerliches Gepräge, weil er einen geringen Verlust nicht an einen großen Gewinn zu setzen vermag. Er hat seine Voraussetzungen in einem starken Nationalgefühl, aber zugleich doch auch in einem Mangel an großzügigem nationalen Lebenswillen. Um uns die Seelenverfassung des Jrredentisten klar zu machen, genügt es daran zu erinnern, daß wir Deutsche, wenn wir der gleichen Denkweise huldigten, unser Verhältnis zu Rußland stets danach hätten bestimmen müssen, daß in den Ostseeprovinzen unsere baltischen Landsleute zunehmender Bedrückung unterliegen. Es erscheint auffallend, daß der Jrredentismus gerade in Italien eine solche Macht geworden ist, obwohl das Regno unter den Großmächten Europas der reinste Nationalstaat ist, der die prozentual geringste Zahl von Volks¬ genossen außerhalb seiner Grenzen läßt (noch nicht 5 Prozent). Aber dieses „obwohl" verwandelt sich tieferer Betrachtung in ein „weil": weil das Land hinsichtlich seiner nationalen Geschlossenheit so verwöhnt ist. ist es auch gegen kleine Unstimmigkeiten der Grenze besonders empfindlich. Den 35,3 Millionen Italienern des Regno stehen nur 1,4 Millionen gegenüber, die andern Staaten augehören. Davon entfallen auf französisches Staatsgebiet (Korsika und Tunis) etwa 400000, auf Österreich-Ungarn etwa 800000 Seelen. Zweifellos hielte das italienische Volk auch nicht den Blick gebannt auf diese schmalen Sprachgebiete unter habsburgischer Herrschaft, wenn nicht eine alte Gefühlsgewöhnung diese Richtung wiese. Der nationale Haß gegen Österreich, gegen die Tedeschi. wie es wohl schlechthin heißt, ist,in der Geschichte begründet. Das Haus Habsburg hat bis 1859 Oberitalien 'beherrscht, und von dort aus lastete seine Macht auf dem ganzen Land. Mag auch die Ver¬ waltung der Lombardei und Venetiens die beste gewesen sein, die italienischen Staaten damals zuteil wurde — das erkennen auch Italiener an —. so wurde sie doch ausgeübt mit all dem verständnislosen hoffärtigen Dünkel, den das Österreich Metternichs in nationalen Fragen bewiesen hat*). Man erinnere sich wie Treitschke über diese Fremdherrschaft geurteilt hat. Italiens Kampf um die Einheit war ein Kampf um die Unabhängigkeit von Österreich. Das sind Erlebnisse, die auf lange hinaus das politische Gefühl eines Volkes bestimmen können. Die Auffassung Mazzinis, daß der Habsburger Staat das verkörperte „Böse" sei, liegt jedem Italiener im Blut. In manchen Teilen der Bevölkerung lebte schon seit langem mit der Kraft chiliastischer Überzeugung der Glaube, *) Vergleiche den Aufsatz von or. Scina Stern „Der italienische Jrredentismus*. Die Grenzboten Höfe 9 dieses Jahres.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/366>, abgerufen am 24.08.2024.