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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Schwedische Politik im Lichte der einheimischen Rritik

Handelsschiffe seien nach englischen Häfen verschleppt und Wochen und
Monate zurückgehalten worden. England halte die Korrespondenz mit Amerika
an und füge Schweden enorme Verluste zu. Und was macht das Auswärtige
Amt? Es beschränk sich auf Vorstellungen, die ungehört verklingen. Weshalb
ergreift man nicht das völkerrechtlich erlaubte Mittel, das man Retorfion
nennt? Weshalb läßt das Auswärtige Amt nicht die briefliche und telegraphische
Korrespondenz, die von England über Schweden nach Rußland geht, zurück¬
halten? Weshalb verhindert man nicht den zum größten Teil aus Lebens¬
mitteln und Kriegsbedarf bestehenden Warenaustausch zwischen Rußland und
England und umgekehrt via Schweden? Wäre dies alles geschehen, so würde
Schweden sich England gegenüber in einer ganz anderen Lage befinden. Aber
die Leitung sei wankend und schwach gewesen und England glaube jetzt Schweden
nach Belieben behandeln zu können.

Von sämtlichen kriegführenden Mächten hätte Rußland von einem Ein¬
greifen Schwedens am allermeisten zu befürchten gehabt. Anfangs fürchtete
man sich auch ernstlich. Wäre die äußere Leitung Schwedens ihrer Aufgabe
gewachsen gewesen, so hätte sie Rußland Bedingungen gestellt, die nicht nur
-einen augenblicklichen, sondern dauernd einen Schutz gegen Osten boten. Statt
dessen hat man nur gerade dasjenige verlangt, was Rußland am innigsten
wünschte, und die finnischen Regimenter marschierten mit fliegenden Fahnen
und klingendem Spiel gegen Deutschland. Diesem Rußland, das durch seine
militärischen Maßnahmen in Finnland und durch seine systematische Spionage
Schweden stets droht, die schwedische Rechtsordnung in Finnland vernichtet
und jetzt für Schweden Freundschaft heuchelt, erweise die schwedische Regierung
ein auffallendes Entgegenkommen, was man auch russischerseits vollkommen zu
schätzen weiß.

Das Fazit der schwedischen Neutralitätspolitik sei folgendes:

In ökonomischer Hinficht: Gewinn für eine Anzahl von ausländischen
und einheimischen Jobbern durch Lieferung von Kriegskonterbande, Kriegsbedarf
und sonstigen Bedarfsartikeln, aber große Verluste für das Land im ganzen,
und erhebliche Steigerung der Lebensmittelpreise.

In politsischer Hinficht: ein vereinsamtes Schweden, ohne wirkliche
Freunde, von den Kriegführenden als ein "quantitö nöAliAeabls" behandelt.

Betreffs der Sicherung der Zukunft: in dieser der größten und wichtigsten
aller Fragen ist nichts von reellem Zukunftswert gewonnen. Der Artikel
schließt: "Werden wir denn nur den Schwierigkeiten des Augenblicks aus dem
Wege gehen, ohne an die Gefahren der Zukunft zu denken? Werden wir i"
Wind und Wellen auf dem Meere umhertreiben, ohne Kompaß und Ziel?
Eine solche Fahrt kann auch ein uraltes Reich in Trümmer schlagen."




Schwedische Politik im Lichte der einheimischen Rritik

Handelsschiffe seien nach englischen Häfen verschleppt und Wochen und
Monate zurückgehalten worden. England halte die Korrespondenz mit Amerika
an und füge Schweden enorme Verluste zu. Und was macht das Auswärtige
Amt? Es beschränk sich auf Vorstellungen, die ungehört verklingen. Weshalb
ergreift man nicht das völkerrechtlich erlaubte Mittel, das man Retorfion
nennt? Weshalb läßt das Auswärtige Amt nicht die briefliche und telegraphische
Korrespondenz, die von England über Schweden nach Rußland geht, zurück¬
halten? Weshalb verhindert man nicht den zum größten Teil aus Lebens¬
mitteln und Kriegsbedarf bestehenden Warenaustausch zwischen Rußland und
England und umgekehrt via Schweden? Wäre dies alles geschehen, so würde
Schweden sich England gegenüber in einer ganz anderen Lage befinden. Aber
die Leitung sei wankend und schwach gewesen und England glaube jetzt Schweden
nach Belieben behandeln zu können.

Von sämtlichen kriegführenden Mächten hätte Rußland von einem Ein¬
greifen Schwedens am allermeisten zu befürchten gehabt. Anfangs fürchtete
man sich auch ernstlich. Wäre die äußere Leitung Schwedens ihrer Aufgabe
gewachsen gewesen, so hätte sie Rußland Bedingungen gestellt, die nicht nur
-einen augenblicklichen, sondern dauernd einen Schutz gegen Osten boten. Statt
dessen hat man nur gerade dasjenige verlangt, was Rußland am innigsten
wünschte, und die finnischen Regimenter marschierten mit fliegenden Fahnen
und klingendem Spiel gegen Deutschland. Diesem Rußland, das durch seine
militärischen Maßnahmen in Finnland und durch seine systematische Spionage
Schweden stets droht, die schwedische Rechtsordnung in Finnland vernichtet
und jetzt für Schweden Freundschaft heuchelt, erweise die schwedische Regierung
ein auffallendes Entgegenkommen, was man auch russischerseits vollkommen zu
schätzen weiß.

Das Fazit der schwedischen Neutralitätspolitik sei folgendes:

In ökonomischer Hinficht: Gewinn für eine Anzahl von ausländischen
und einheimischen Jobbern durch Lieferung von Kriegskonterbande, Kriegsbedarf
und sonstigen Bedarfsartikeln, aber große Verluste für das Land im ganzen,
und erhebliche Steigerung der Lebensmittelpreise.

In politsischer Hinficht: ein vereinsamtes Schweden, ohne wirkliche
Freunde, von den Kriegführenden als ein „quantitö nöAliAeabls" behandelt.

Betreffs der Sicherung der Zukunft: in dieser der größten und wichtigsten
aller Fragen ist nichts von reellem Zukunftswert gewonnen. Der Artikel
schließt: „Werden wir denn nur den Schwierigkeiten des Augenblicks aus dem
Wege gehen, ohne an die Gefahren der Zukunft zu denken? Werden wir i«
Wind und Wellen auf dem Meere umhertreiben, ohne Kompaß und Ziel?
Eine solche Fahrt kann auch ein uraltes Reich in Trümmer schlagen."




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[0357] Schwedische Politik im Lichte der einheimischen Rritik Handelsschiffe seien nach englischen Häfen verschleppt und Wochen und Monate zurückgehalten worden. England halte die Korrespondenz mit Amerika an und füge Schweden enorme Verluste zu. Und was macht das Auswärtige Amt? Es beschränk sich auf Vorstellungen, die ungehört verklingen. Weshalb ergreift man nicht das völkerrechtlich erlaubte Mittel, das man Retorfion nennt? Weshalb läßt das Auswärtige Amt nicht die briefliche und telegraphische Korrespondenz, die von England über Schweden nach Rußland geht, zurück¬ halten? Weshalb verhindert man nicht den zum größten Teil aus Lebens¬ mitteln und Kriegsbedarf bestehenden Warenaustausch zwischen Rußland und England und umgekehrt via Schweden? Wäre dies alles geschehen, so würde Schweden sich England gegenüber in einer ganz anderen Lage befinden. Aber die Leitung sei wankend und schwach gewesen und England glaube jetzt Schweden nach Belieben behandeln zu können. Von sämtlichen kriegführenden Mächten hätte Rußland von einem Ein¬ greifen Schwedens am allermeisten zu befürchten gehabt. Anfangs fürchtete man sich auch ernstlich. Wäre die äußere Leitung Schwedens ihrer Aufgabe gewachsen gewesen, so hätte sie Rußland Bedingungen gestellt, die nicht nur -einen augenblicklichen, sondern dauernd einen Schutz gegen Osten boten. Statt dessen hat man nur gerade dasjenige verlangt, was Rußland am innigsten wünschte, und die finnischen Regimenter marschierten mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel gegen Deutschland. Diesem Rußland, das durch seine militärischen Maßnahmen in Finnland und durch seine systematische Spionage Schweden stets droht, die schwedische Rechtsordnung in Finnland vernichtet und jetzt für Schweden Freundschaft heuchelt, erweise die schwedische Regierung ein auffallendes Entgegenkommen, was man auch russischerseits vollkommen zu schätzen weiß. Das Fazit der schwedischen Neutralitätspolitik sei folgendes: In ökonomischer Hinficht: Gewinn für eine Anzahl von ausländischen und einheimischen Jobbern durch Lieferung von Kriegskonterbande, Kriegsbedarf und sonstigen Bedarfsartikeln, aber große Verluste für das Land im ganzen, und erhebliche Steigerung der Lebensmittelpreise. In politsischer Hinficht: ein vereinsamtes Schweden, ohne wirkliche Freunde, von den Kriegführenden als ein „quantitö nöAliAeabls" behandelt. Betreffs der Sicherung der Zukunft: in dieser der größten und wichtigsten aller Fragen ist nichts von reellem Zukunftswert gewonnen. Der Artikel schließt: „Werden wir denn nur den Schwierigkeiten des Augenblicks aus dem Wege gehen, ohne an die Gefahren der Zukunft zu denken? Werden wir i« Wind und Wellen auf dem Meere umhertreiben, ohne Kompaß und Ziel? Eine solche Fahrt kann auch ein uraltes Reich in Trümmer schlagen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/357>, abgerufen am 22.07.2024.