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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Arists des deutschbaltischen Menschen

"ationalistisch-sozialistische Jungletten- und Jungestentum griff in seinem Protest
sofort nach dem Extrem des mehr oder minder unverhüllten Atheismus West¬
europas und konnte so nicht zu einer Milderung, sondern viel eher zur Ver¬
härtung des deutsch-protestantischen Konservativismus beitragen. --

Bei allen staatsrechtlichen Regelungen, allen Unterwerfungsalten, die das
baltische Deutschtum im Lauf seiner wechselvollen Geschichte vollziehen mußte,
war zweierlei in allerersten Betracht ausbedungen: Aufrechterhaltung des
lutherischen Glaubens und der deutschen Sprache. Diese wurde recht eigentlich
als Symbol, zugleich als Stütze und als Gewähr der angestammten deutschen
Kultur in tiefster Seele empfunden. Sie war das nationale Heiligtum, für
dessen Schutz kein materielles Opfer dem herrschenden Stande zu hoch erschien.
Und wie der Glaube im evangelischen Pastorat, so fand die Kultur in der
deutschen Schule sozusagen ihre soziale Verkörperung. Hier also werden wir
in zweiter Linie den formenden Kräften des baltischen Geistes nachzuspüren
haben.

Die Entwicklung des baltischen Schulwesens kann hier ganz kurz zusammen¬
gefaßt werden. Bis auf die Anfänge der deutschen Siedlungen gehen die
Lateinschulen zurück. Als solche wurde auch die noch jetzt als Gymnasium
bestehende Domschule in Reval begründet. Den eigentlichen Aufschwung ver¬
dankt das Schulwesen der Reformation. So wurde 1528 unter dem direkten
Einfluß Luthers die Rigasche Domschule eingerichtet. Akademische Gymnasien
(in Livland und Estland seit 1630, in Kurland erst seit 1775) nahmen eine
Art Mittelstellung zwischen Schule und Universität ein. 1632 wurde die
schwedische Universität Dorpat (nachmals Pernau) zum erstenmal begründet,
kam aber nicht zu rechter Blüte und ging im Nordischen Krieg zugrunde. Ihre
schon von Peter dem Großen versprochene Erneuerung kam erst 1802 zustande,
und zwar aus ritterschaftlichen Mitteln. Seit Ende des sechzehnten Jahr¬
hunderts wurden Stadtschulen errichtet, die eine mittlere Bildung boten. Real¬
anstalten kamen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf, 1862 wurde auch
die Technische Hochschule (Polytechnikum) in Riga ins Leben gerufen. Das
Mädchenschulwesen entwickelte sich verhältnismäßig spät. Bemerkenswert ist, daß
die Stadt Riga schon 1681 einen Versuch machte, etwas wie allgemeine Schul¬
pflicht einzuführen. Das Volksschulwesen erzielte unter kirchlicher Verwaltung
hervorragende Erfolge. Es baute auf der Muttersprache des Volkes aus. Es
verkam jedoch völlig mit dem Moment, wo russische Fäuste es zu "reorganisieren"
begannen. Von 1881 bis 1899 stieg die Zahl der Analphabeten von zwei Prozent
auf zwanzig Prozent der schulpflichtigen Kinder. Wenn man allerdings bedenkt, daß
es im übrigen Rußland fast achtzig Prozent Analphabeten gibt, dann wird
ersichtlich, daß dem moskowitischen Bildungseifer noch große Perspektiven im
baltischen Lande offen stehen.

Der Folgeschluß aus diesem zusammengedrängten Tatsachenmaterial aus
der Geschichte des baltischen Bildungswesens führt nicht sowohl auf eine aus-


Die Arists des deutschbaltischen Menschen

«ationalistisch-sozialistische Jungletten- und Jungestentum griff in seinem Protest
sofort nach dem Extrem des mehr oder minder unverhüllten Atheismus West¬
europas und konnte so nicht zu einer Milderung, sondern viel eher zur Ver¬
härtung des deutsch-protestantischen Konservativismus beitragen. —

Bei allen staatsrechtlichen Regelungen, allen Unterwerfungsalten, die das
baltische Deutschtum im Lauf seiner wechselvollen Geschichte vollziehen mußte,
war zweierlei in allerersten Betracht ausbedungen: Aufrechterhaltung des
lutherischen Glaubens und der deutschen Sprache. Diese wurde recht eigentlich
als Symbol, zugleich als Stütze und als Gewähr der angestammten deutschen
Kultur in tiefster Seele empfunden. Sie war das nationale Heiligtum, für
dessen Schutz kein materielles Opfer dem herrschenden Stande zu hoch erschien.
Und wie der Glaube im evangelischen Pastorat, so fand die Kultur in der
deutschen Schule sozusagen ihre soziale Verkörperung. Hier also werden wir
in zweiter Linie den formenden Kräften des baltischen Geistes nachzuspüren
haben.

Die Entwicklung des baltischen Schulwesens kann hier ganz kurz zusammen¬
gefaßt werden. Bis auf die Anfänge der deutschen Siedlungen gehen die
Lateinschulen zurück. Als solche wurde auch die noch jetzt als Gymnasium
bestehende Domschule in Reval begründet. Den eigentlichen Aufschwung ver¬
dankt das Schulwesen der Reformation. So wurde 1528 unter dem direkten
Einfluß Luthers die Rigasche Domschule eingerichtet. Akademische Gymnasien
(in Livland und Estland seit 1630, in Kurland erst seit 1775) nahmen eine
Art Mittelstellung zwischen Schule und Universität ein. 1632 wurde die
schwedische Universität Dorpat (nachmals Pernau) zum erstenmal begründet,
kam aber nicht zu rechter Blüte und ging im Nordischen Krieg zugrunde. Ihre
schon von Peter dem Großen versprochene Erneuerung kam erst 1802 zustande,
und zwar aus ritterschaftlichen Mitteln. Seit Ende des sechzehnten Jahr¬
hunderts wurden Stadtschulen errichtet, die eine mittlere Bildung boten. Real¬
anstalten kamen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf, 1862 wurde auch
die Technische Hochschule (Polytechnikum) in Riga ins Leben gerufen. Das
Mädchenschulwesen entwickelte sich verhältnismäßig spät. Bemerkenswert ist, daß
die Stadt Riga schon 1681 einen Versuch machte, etwas wie allgemeine Schul¬
pflicht einzuführen. Das Volksschulwesen erzielte unter kirchlicher Verwaltung
hervorragende Erfolge. Es baute auf der Muttersprache des Volkes aus. Es
verkam jedoch völlig mit dem Moment, wo russische Fäuste es zu „reorganisieren"
begannen. Von 1881 bis 1899 stieg die Zahl der Analphabeten von zwei Prozent
auf zwanzig Prozent der schulpflichtigen Kinder. Wenn man allerdings bedenkt, daß
es im übrigen Rußland fast achtzig Prozent Analphabeten gibt, dann wird
ersichtlich, daß dem moskowitischen Bildungseifer noch große Perspektiven im
baltischen Lande offen stehen.

Der Folgeschluß aus diesem zusammengedrängten Tatsachenmaterial aus
der Geschichte des baltischen Bildungswesens führt nicht sowohl auf eine aus-


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[0352] Die Arists des deutschbaltischen Menschen «ationalistisch-sozialistische Jungletten- und Jungestentum griff in seinem Protest sofort nach dem Extrem des mehr oder minder unverhüllten Atheismus West¬ europas und konnte so nicht zu einer Milderung, sondern viel eher zur Ver¬ härtung des deutsch-protestantischen Konservativismus beitragen. — Bei allen staatsrechtlichen Regelungen, allen Unterwerfungsalten, die das baltische Deutschtum im Lauf seiner wechselvollen Geschichte vollziehen mußte, war zweierlei in allerersten Betracht ausbedungen: Aufrechterhaltung des lutherischen Glaubens und der deutschen Sprache. Diese wurde recht eigentlich als Symbol, zugleich als Stütze und als Gewähr der angestammten deutschen Kultur in tiefster Seele empfunden. Sie war das nationale Heiligtum, für dessen Schutz kein materielles Opfer dem herrschenden Stande zu hoch erschien. Und wie der Glaube im evangelischen Pastorat, so fand die Kultur in der deutschen Schule sozusagen ihre soziale Verkörperung. Hier also werden wir in zweiter Linie den formenden Kräften des baltischen Geistes nachzuspüren haben. Die Entwicklung des baltischen Schulwesens kann hier ganz kurz zusammen¬ gefaßt werden. Bis auf die Anfänge der deutschen Siedlungen gehen die Lateinschulen zurück. Als solche wurde auch die noch jetzt als Gymnasium bestehende Domschule in Reval begründet. Den eigentlichen Aufschwung ver¬ dankt das Schulwesen der Reformation. So wurde 1528 unter dem direkten Einfluß Luthers die Rigasche Domschule eingerichtet. Akademische Gymnasien (in Livland und Estland seit 1630, in Kurland erst seit 1775) nahmen eine Art Mittelstellung zwischen Schule und Universität ein. 1632 wurde die schwedische Universität Dorpat (nachmals Pernau) zum erstenmal begründet, kam aber nicht zu rechter Blüte und ging im Nordischen Krieg zugrunde. Ihre schon von Peter dem Großen versprochene Erneuerung kam erst 1802 zustande, und zwar aus ritterschaftlichen Mitteln. Seit Ende des sechzehnten Jahr¬ hunderts wurden Stadtschulen errichtet, die eine mittlere Bildung boten. Real¬ anstalten kamen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf, 1862 wurde auch die Technische Hochschule (Polytechnikum) in Riga ins Leben gerufen. Das Mädchenschulwesen entwickelte sich verhältnismäßig spät. Bemerkenswert ist, daß die Stadt Riga schon 1681 einen Versuch machte, etwas wie allgemeine Schul¬ pflicht einzuführen. Das Volksschulwesen erzielte unter kirchlicher Verwaltung hervorragende Erfolge. Es baute auf der Muttersprache des Volkes aus. Es verkam jedoch völlig mit dem Moment, wo russische Fäuste es zu „reorganisieren" begannen. Von 1881 bis 1899 stieg die Zahl der Analphabeten von zwei Prozent auf zwanzig Prozent der schulpflichtigen Kinder. Wenn man allerdings bedenkt, daß es im übrigen Rußland fast achtzig Prozent Analphabeten gibt, dann wird ersichtlich, daß dem moskowitischen Bildungseifer noch große Perspektiven im baltischen Lande offen stehen. Der Folgeschluß aus diesem zusammengedrängten Tatsachenmaterial aus der Geschichte des baltischen Bildungswesens führt nicht sowohl auf eine aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/352>, abgerufen am 24.08.2024.