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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Krisis des deutschbaltischen Menschen

Die soziologische Struktur des äußeren Lebens kennzeichnet sich durch die Form
der Stadt oder aber des Hofes als Gutshof, Pastorat und bäuerliches "Gesinde".
Dieser patriarchalischen Bindung des Lebens gibt der Protestantismus mit seiner
Heiligung der Familie die religiöse Weihe. So ist nicht sowohl der Pastor
als Person, wie das Pastorat, jener Schnittpunkt religiöser, sozialer, kultureller
Strebungen, als der tragende Pfeiler baltischer Sonderart zu begreifen. Im
Pastor wurde ursprünglich der "Kirchenherr" (basnizas kungs im Lettischen)
durch die Sprache des Volkes anerkannt. Er unterstand zwar dem Patronat
der Gutsherren, die ihn einsetzten, und mit denen ihn ein wohlwollendes, auf
gegenseitige Achtung gegründetes, distanziertes Verhältnis verband*). Dem
Volk gegenüber aber gehörte der Geistliche zum deutschen Herrenstand, dem es
auch Naturalienzins und Frone (unentgeltliche Arbeit) schuldete. Anderseits
war gerade das Pastorentum durchaus geneigt, auf die Sonderart des Volkes
seelsorgerisch einzugehen. Es predigte ihm keltisch oder chemisch das Gotteswort,
übersetzte ihm frühzeitig (Ende des siebzehnten Jahrhunderts) die Bibel in seine
Sprache, nachdem schon hundert Jahre vorher Luthers Katechismus mit einer
Anzahl von Kirchenliedern usw. in keltischer Übertragung existiert hatte. Es
war hier also keineswegs wie bei der griechisch-orthodoxen Missionierung auf
eine verstohlene Germanisierung durch die Konfession abgezielt. Wohl aber
wurden dem Landvolk gerade durch die Vermittlung des deutschen Pastorats
unter Belassung seiner angestammten Nationalität alle Segnungen der deutsch¬
protestantischen Kultur und Zivilisation zugänglich. Deren höhere Weihen
waren dann freilich mit einer Aufgabe der einheimischen Nationalität verknüpft.
Durch die akademische Bildung sind eine ganze Reihe ursprünglich keltischer und
^stnlscher Familien allmählich zwanglos zu deutschen geworden.

Nur kurz sei der dogmatische Charakter dieses baltischen Protestantismus
hier gestreift. Man könnte es noch als einen letzten Ausklang des katholischen
Ordensgeistes deuten, daß das autoritäre Altlutheranertum bis in unsere Tage
hinein hier seine unentwegtesten Vertreter gefunden hat. Die Universität Dorpat
war der Hort einer herben und strengen Orthodoxie, die Bibelgläubigkeit zeigte
eine Härte, der gegenüber die heutige äußerste Rechte bei uns weich zu nennen
wäre. Das macht: das kirchliche Leben des Landes war viel zu eng mit der
durch die modernen Ideen im Kern bedrohten aristokratischen Struktur einer
kleinen sozialen Oberschicht verknüpft, als daß es den gemeinschaftzersetzenden
Tendenzen des abstrakten Individualismus in dem Maße hätte stattgeben können,
wie es etwa im deutschen Süden der kirchliche Liberalismus getan hat. Ein
revolutionierendes Bürgertum hat es im Baltikum nicht gegeben. Das



*) Für das Kurland des achtzehnten Jahrhunderts gibt ein anschauliches Gemälde
dieser Verhältnisse der von Alexander von Oettingen 1378 neubearbeitet herausgegebene
Roman von Theodor von Hippel: Lebensläufe in aufsteigender Linie. Ein reiches Pastoreu-
leben aus dem vorigen Jahrhundert zieht in der Selbstbiographie von Or> Aug. Bielenstew:
Ein glückliches Leben (Riga 1S04) an uns vorüber.
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Die Krisis des deutschbaltischen Menschen

Die soziologische Struktur des äußeren Lebens kennzeichnet sich durch die Form
der Stadt oder aber des Hofes als Gutshof, Pastorat und bäuerliches „Gesinde".
Dieser patriarchalischen Bindung des Lebens gibt der Protestantismus mit seiner
Heiligung der Familie die religiöse Weihe. So ist nicht sowohl der Pastor
als Person, wie das Pastorat, jener Schnittpunkt religiöser, sozialer, kultureller
Strebungen, als der tragende Pfeiler baltischer Sonderart zu begreifen. Im
Pastor wurde ursprünglich der „Kirchenherr" (basnizas kungs im Lettischen)
durch die Sprache des Volkes anerkannt. Er unterstand zwar dem Patronat
der Gutsherren, die ihn einsetzten, und mit denen ihn ein wohlwollendes, auf
gegenseitige Achtung gegründetes, distanziertes Verhältnis verband*). Dem
Volk gegenüber aber gehörte der Geistliche zum deutschen Herrenstand, dem es
auch Naturalienzins und Frone (unentgeltliche Arbeit) schuldete. Anderseits
war gerade das Pastorentum durchaus geneigt, auf die Sonderart des Volkes
seelsorgerisch einzugehen. Es predigte ihm keltisch oder chemisch das Gotteswort,
übersetzte ihm frühzeitig (Ende des siebzehnten Jahrhunderts) die Bibel in seine
Sprache, nachdem schon hundert Jahre vorher Luthers Katechismus mit einer
Anzahl von Kirchenliedern usw. in keltischer Übertragung existiert hatte. Es
war hier also keineswegs wie bei der griechisch-orthodoxen Missionierung auf
eine verstohlene Germanisierung durch die Konfession abgezielt. Wohl aber
wurden dem Landvolk gerade durch die Vermittlung des deutschen Pastorats
unter Belassung seiner angestammten Nationalität alle Segnungen der deutsch¬
protestantischen Kultur und Zivilisation zugänglich. Deren höhere Weihen
waren dann freilich mit einer Aufgabe der einheimischen Nationalität verknüpft.
Durch die akademische Bildung sind eine ganze Reihe ursprünglich keltischer und
^stnlscher Familien allmählich zwanglos zu deutschen geworden.

Nur kurz sei der dogmatische Charakter dieses baltischen Protestantismus
hier gestreift. Man könnte es noch als einen letzten Ausklang des katholischen
Ordensgeistes deuten, daß das autoritäre Altlutheranertum bis in unsere Tage
hinein hier seine unentwegtesten Vertreter gefunden hat. Die Universität Dorpat
war der Hort einer herben und strengen Orthodoxie, die Bibelgläubigkeit zeigte
eine Härte, der gegenüber die heutige äußerste Rechte bei uns weich zu nennen
wäre. Das macht: das kirchliche Leben des Landes war viel zu eng mit der
durch die modernen Ideen im Kern bedrohten aristokratischen Struktur einer
kleinen sozialen Oberschicht verknüpft, als daß es den gemeinschaftzersetzenden
Tendenzen des abstrakten Individualismus in dem Maße hätte stattgeben können,
wie es etwa im deutschen Süden der kirchliche Liberalismus getan hat. Ein
revolutionierendes Bürgertum hat es im Baltikum nicht gegeben. Das



*) Für das Kurland des achtzehnten Jahrhunderts gibt ein anschauliches Gemälde
dieser Verhältnisse der von Alexander von Oettingen 1378 neubearbeitet herausgegebene
Roman von Theodor von Hippel: Lebensläufe in aufsteigender Linie. Ein reiches Pastoreu-
leben aus dem vorigen Jahrhundert zieht in der Selbstbiographie von Or> Aug. Bielenstew:
Ein glückliches Leben (Riga 1S04) an uns vorüber.
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[0351] Die Krisis des deutschbaltischen Menschen Die soziologische Struktur des äußeren Lebens kennzeichnet sich durch die Form der Stadt oder aber des Hofes als Gutshof, Pastorat und bäuerliches „Gesinde". Dieser patriarchalischen Bindung des Lebens gibt der Protestantismus mit seiner Heiligung der Familie die religiöse Weihe. So ist nicht sowohl der Pastor als Person, wie das Pastorat, jener Schnittpunkt religiöser, sozialer, kultureller Strebungen, als der tragende Pfeiler baltischer Sonderart zu begreifen. Im Pastor wurde ursprünglich der „Kirchenherr" (basnizas kungs im Lettischen) durch die Sprache des Volkes anerkannt. Er unterstand zwar dem Patronat der Gutsherren, die ihn einsetzten, und mit denen ihn ein wohlwollendes, auf gegenseitige Achtung gegründetes, distanziertes Verhältnis verband*). Dem Volk gegenüber aber gehörte der Geistliche zum deutschen Herrenstand, dem es auch Naturalienzins und Frone (unentgeltliche Arbeit) schuldete. Anderseits war gerade das Pastorentum durchaus geneigt, auf die Sonderart des Volkes seelsorgerisch einzugehen. Es predigte ihm keltisch oder chemisch das Gotteswort, übersetzte ihm frühzeitig (Ende des siebzehnten Jahrhunderts) die Bibel in seine Sprache, nachdem schon hundert Jahre vorher Luthers Katechismus mit einer Anzahl von Kirchenliedern usw. in keltischer Übertragung existiert hatte. Es war hier also keineswegs wie bei der griechisch-orthodoxen Missionierung auf eine verstohlene Germanisierung durch die Konfession abgezielt. Wohl aber wurden dem Landvolk gerade durch die Vermittlung des deutschen Pastorats unter Belassung seiner angestammten Nationalität alle Segnungen der deutsch¬ protestantischen Kultur und Zivilisation zugänglich. Deren höhere Weihen waren dann freilich mit einer Aufgabe der einheimischen Nationalität verknüpft. Durch die akademische Bildung sind eine ganze Reihe ursprünglich keltischer und ^stnlscher Familien allmählich zwanglos zu deutschen geworden. Nur kurz sei der dogmatische Charakter dieses baltischen Protestantismus hier gestreift. Man könnte es noch als einen letzten Ausklang des katholischen Ordensgeistes deuten, daß das autoritäre Altlutheranertum bis in unsere Tage hinein hier seine unentwegtesten Vertreter gefunden hat. Die Universität Dorpat war der Hort einer herben und strengen Orthodoxie, die Bibelgläubigkeit zeigte eine Härte, der gegenüber die heutige äußerste Rechte bei uns weich zu nennen wäre. Das macht: das kirchliche Leben des Landes war viel zu eng mit der durch die modernen Ideen im Kern bedrohten aristokratischen Struktur einer kleinen sozialen Oberschicht verknüpft, als daß es den gemeinschaftzersetzenden Tendenzen des abstrakten Individualismus in dem Maße hätte stattgeben können, wie es etwa im deutschen Süden der kirchliche Liberalismus getan hat. Ein revolutionierendes Bürgertum hat es im Baltikum nicht gegeben. Das *) Für das Kurland des achtzehnten Jahrhunderts gibt ein anschauliches Gemälde dieser Verhältnisse der von Alexander von Oettingen 1378 neubearbeitet herausgegebene Roman von Theodor von Hippel: Lebensläufe in aufsteigender Linie. Ein reiches Pastoreu- leben aus dem vorigen Jahrhundert zieht in der Selbstbiographie von Or> Aug. Bielenstew: Ein glückliches Leben (Riga 1S04) an uns vorüber. L2*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/351>, abgerufen am 22.07.2024.