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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Sollen die Dramatiker schweigen?

Aber es ist klar, auch diese sporadischen Erscheinungen und Aufführungen
haben es noch längst nicht vermocht, unserer Theatergegenwart einen Charakter
zu geben. Im ganzen wird gerade jetzt, in dem Zwischenraum zwischen der
ersten und der zweiten Kriegsepoche, deutlich, daß über unseren Bühnen ein
Zustand der Ratlosigkeit liegt, eine gewisse Blutleere, trotz aller Experimente,
auch den Brettern heilsames Menschenblut zuzuführen, ja fast eine Lähmung,
wie sie im Monat der Mobilmachung herrschte. Woran liegt das? Unsere
Frage beantwortet oas Schweigen der Dramatiker. Warum schweigen sie?
Schweigen sie nicht zu lange? Das Mißverhältnis zur Kriegsdichtung liegt
klar zutage; viele Tausende Kriegslyriker singen und zwitschern und marschieren
gereimt und ungereimt -- die Dramatiker aber schweigen. Dem ungeheuren
Geschehen dieser Zeit erstehen noch keine dramatischen Gestalter. Was uns
angekündigt ist, hat keinen Bezug darauf. Denn wir werden wohl
weder Ernst Hartes "König Salomo" noch Sudermanns fast in der Urzeit
spielendes neues Drama, die angesagt sind, mit den Ereignissen unserer
Zeit, die uns im Herzen zittern, in Berührung bringen dürfen. Es mag
Heroismus sein, einer bebenden Gegenwart künstlerisch entfliehen zu können.
Aber es ist sicherlich ein anderes Heroentum, als es heute in den Seelen
lodert, als es heute die dramatische Hülle zu sprengen suchen muß. Was
uns bisher von unseren Dramatikern in dieser Richtung beschert wurde,
ist überaus spärlich und es sind bestenfalls nur kleine Abschlagszahlungen.
Schmidt-Borns und Dülbergs dramatische Prologe, Hawels "Einberufung",
Bahrs munterer Seifensiederschwank, Klabunds "Kleines Kaliber", Carl Anzen-
grubers "In großer Zeit", Thomas "Erster August" -- teils stecken sie noch
ganz in der Mobilmachung, teils sind sie nach außen gerichtet und geben
billige Feindeskarikaturen. Alexander von Gleichen - Rußwurms "Feinde
ringsum" beschwor das Griechentum und stellte die Mobilmachung Themistokles'
auf die Bühne. Tiefer ins Gefüge der Zeit greift Carl Hauptmann in seinen
dramatischen Einaktern, die, wie schon das Tedeum "Krieg", ins Philosophische
münden, und das innere und weitere nationale Geschehen noch nicht ergreifen.
Auch Hans Johsts "Stunde des Sterbenden" schließt sich an Hauptmann an.
Das wären so ziemlich alle dramatischen Geburten, die der Krieg bisher
gebracht hat.

Aber wie stellen sich nun unsere Theaterleiter und Dichter selbst dazu?
Was erhoffen sie von der eigentlich lebendig zu nennenden Dramatik unserer
Tage? Hören wir die Rundfrage, so begegnen wir bei nicht wenigen einer
großen Zukunftssreudigkeit, nicht wenige hoffen auf bedeutende Dramatiker und
fordern sie, und wo einmal eine Stimme resigniert ausklingt, geschieht es aus
Liebe zumBesten, aus uuüberwindbarerSkepsis gegenüber dem Publikumsgeschmack.
Da lebt Graf Bylandt-Rheidt der Hoffnung, daß unsere große Zeit "auch
wieder große" Dichter erstehen lassen wird, Julius Rudolph hofft, "daß
diese große Zeit auch große Dichter bringe, damit die Massenproduktion


Sollen die Dramatiker schweigen?

Aber es ist klar, auch diese sporadischen Erscheinungen und Aufführungen
haben es noch längst nicht vermocht, unserer Theatergegenwart einen Charakter
zu geben. Im ganzen wird gerade jetzt, in dem Zwischenraum zwischen der
ersten und der zweiten Kriegsepoche, deutlich, daß über unseren Bühnen ein
Zustand der Ratlosigkeit liegt, eine gewisse Blutleere, trotz aller Experimente,
auch den Brettern heilsames Menschenblut zuzuführen, ja fast eine Lähmung,
wie sie im Monat der Mobilmachung herrschte. Woran liegt das? Unsere
Frage beantwortet oas Schweigen der Dramatiker. Warum schweigen sie?
Schweigen sie nicht zu lange? Das Mißverhältnis zur Kriegsdichtung liegt
klar zutage; viele Tausende Kriegslyriker singen und zwitschern und marschieren
gereimt und ungereimt — die Dramatiker aber schweigen. Dem ungeheuren
Geschehen dieser Zeit erstehen noch keine dramatischen Gestalter. Was uns
angekündigt ist, hat keinen Bezug darauf. Denn wir werden wohl
weder Ernst Hartes „König Salomo" noch Sudermanns fast in der Urzeit
spielendes neues Drama, die angesagt sind, mit den Ereignissen unserer
Zeit, die uns im Herzen zittern, in Berührung bringen dürfen. Es mag
Heroismus sein, einer bebenden Gegenwart künstlerisch entfliehen zu können.
Aber es ist sicherlich ein anderes Heroentum, als es heute in den Seelen
lodert, als es heute die dramatische Hülle zu sprengen suchen muß. Was
uns bisher von unseren Dramatikern in dieser Richtung beschert wurde,
ist überaus spärlich und es sind bestenfalls nur kleine Abschlagszahlungen.
Schmidt-Borns und Dülbergs dramatische Prologe, Hawels „Einberufung",
Bahrs munterer Seifensiederschwank, Klabunds „Kleines Kaliber", Carl Anzen-
grubers „In großer Zeit", Thomas „Erster August" — teils stecken sie noch
ganz in der Mobilmachung, teils sind sie nach außen gerichtet und geben
billige Feindeskarikaturen. Alexander von Gleichen - Rußwurms „Feinde
ringsum" beschwor das Griechentum und stellte die Mobilmachung Themistokles'
auf die Bühne. Tiefer ins Gefüge der Zeit greift Carl Hauptmann in seinen
dramatischen Einaktern, die, wie schon das Tedeum „Krieg", ins Philosophische
münden, und das innere und weitere nationale Geschehen noch nicht ergreifen.
Auch Hans Johsts „Stunde des Sterbenden" schließt sich an Hauptmann an.
Das wären so ziemlich alle dramatischen Geburten, die der Krieg bisher
gebracht hat.

Aber wie stellen sich nun unsere Theaterleiter und Dichter selbst dazu?
Was erhoffen sie von der eigentlich lebendig zu nennenden Dramatik unserer
Tage? Hören wir die Rundfrage, so begegnen wir bei nicht wenigen einer
großen Zukunftssreudigkeit, nicht wenige hoffen auf bedeutende Dramatiker und
fordern sie, und wo einmal eine Stimme resigniert ausklingt, geschieht es aus
Liebe zumBesten, aus uuüberwindbarerSkepsis gegenüber dem Publikumsgeschmack.
Da lebt Graf Bylandt-Rheidt der Hoffnung, daß unsere große Zeit „auch
wieder große" Dichter erstehen lassen wird, Julius Rudolph hofft, „daß
diese große Zeit auch große Dichter bringe, damit die Massenproduktion


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[0323] Sollen die Dramatiker schweigen? Aber es ist klar, auch diese sporadischen Erscheinungen und Aufführungen haben es noch längst nicht vermocht, unserer Theatergegenwart einen Charakter zu geben. Im ganzen wird gerade jetzt, in dem Zwischenraum zwischen der ersten und der zweiten Kriegsepoche, deutlich, daß über unseren Bühnen ein Zustand der Ratlosigkeit liegt, eine gewisse Blutleere, trotz aller Experimente, auch den Brettern heilsames Menschenblut zuzuführen, ja fast eine Lähmung, wie sie im Monat der Mobilmachung herrschte. Woran liegt das? Unsere Frage beantwortet oas Schweigen der Dramatiker. Warum schweigen sie? Schweigen sie nicht zu lange? Das Mißverhältnis zur Kriegsdichtung liegt klar zutage; viele Tausende Kriegslyriker singen und zwitschern und marschieren gereimt und ungereimt — die Dramatiker aber schweigen. Dem ungeheuren Geschehen dieser Zeit erstehen noch keine dramatischen Gestalter. Was uns angekündigt ist, hat keinen Bezug darauf. Denn wir werden wohl weder Ernst Hartes „König Salomo" noch Sudermanns fast in der Urzeit spielendes neues Drama, die angesagt sind, mit den Ereignissen unserer Zeit, die uns im Herzen zittern, in Berührung bringen dürfen. Es mag Heroismus sein, einer bebenden Gegenwart künstlerisch entfliehen zu können. Aber es ist sicherlich ein anderes Heroentum, als es heute in den Seelen lodert, als es heute die dramatische Hülle zu sprengen suchen muß. Was uns bisher von unseren Dramatikern in dieser Richtung beschert wurde, ist überaus spärlich und es sind bestenfalls nur kleine Abschlagszahlungen. Schmidt-Borns und Dülbergs dramatische Prologe, Hawels „Einberufung", Bahrs munterer Seifensiederschwank, Klabunds „Kleines Kaliber", Carl Anzen- grubers „In großer Zeit", Thomas „Erster August" — teils stecken sie noch ganz in der Mobilmachung, teils sind sie nach außen gerichtet und geben billige Feindeskarikaturen. Alexander von Gleichen - Rußwurms „Feinde ringsum" beschwor das Griechentum und stellte die Mobilmachung Themistokles' auf die Bühne. Tiefer ins Gefüge der Zeit greift Carl Hauptmann in seinen dramatischen Einaktern, die, wie schon das Tedeum „Krieg", ins Philosophische münden, und das innere und weitere nationale Geschehen noch nicht ergreifen. Auch Hans Johsts „Stunde des Sterbenden" schließt sich an Hauptmann an. Das wären so ziemlich alle dramatischen Geburten, die der Krieg bisher gebracht hat. Aber wie stellen sich nun unsere Theaterleiter und Dichter selbst dazu? Was erhoffen sie von der eigentlich lebendig zu nennenden Dramatik unserer Tage? Hören wir die Rundfrage, so begegnen wir bei nicht wenigen einer großen Zukunftssreudigkeit, nicht wenige hoffen auf bedeutende Dramatiker und fordern sie, und wo einmal eine Stimme resigniert ausklingt, geschieht es aus Liebe zumBesten, aus uuüberwindbarerSkepsis gegenüber dem Publikumsgeschmack. Da lebt Graf Bylandt-Rheidt der Hoffnung, daß unsere große Zeit „auch wieder große" Dichter erstehen lassen wird, Julius Rudolph hofft, „daß diese große Zeit auch große Dichter bringe, damit die Massenproduktion

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/323>, abgerufen am 24.08.2024.