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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die europäischen Sprachen und der Krieg

Frau Klara Hechtenberg-Collitz allein auf rund 3400 solcher Überläufer, davon
die gute Hälfte mit Heimatsrecht auch noch bei uns. Aber auch das deutsche
Fremdwörterbuch des gerade in Frankreich gefallenen Hans Schulz, dessen allem
erschienene erste Hälfte -- nur als Auswahl -- über 1600 Grundformen
bespricht, hätte für unsere landläufige Gebildetensprache gut die gleiche Zahl
erreicht.

Das meiste von diesem fremdländischen Stoff hält sich aber nicht an der
Oberfläche des guten Schrifttums und der feinen Gesellschaft, sondern sickert
nach und nach hinab bis auf den Urgrund der Mundart, im Süden und
Westen freilich wohl mehr als im Innern des Reichs: jedenfalls führt der
Se. Galler Bauer gut 400 ausländische Ausdrücke im Munde, gegenüber einem
berücksichtigten Gesamtwortschatz von höchstens 4000 Formen immerhin ein
leidlicher Bruchteil; der Pfälzer dagegen in dem Heidelberger Vororte Hand¬
schuhsheim bringt es gar auf fast 700 Fremdwörter, bei einem Gesamtbestand
von 20000 Wörtern für das ganze Dorf und von 10000 bis 15000 Aus¬
drücken für den einzelnen -- nach der Schätzung von Philipp Lenz --, glück¬
licherweise doch nur. um mit Klopstock zu reden, ein Tropfen am Eimer!

Demgegenüber kann der Einschlag nicht aufkommen, den das Deutschtum
bei dem sprachlichen Gewände des Slawen hinterlassen hat. Denn so sehr uns
das über Böhmen ostwärts vordringende Christentum vorarbeitete, später die
Geltung des Magdeburger Rechts und der Handel der Hansa, steht er bei den
noch erhaltenen östlichen Hauptsprachen der Slawen in keinem rechten Verhältnis
zu der Bodenfläche, die wir ihnen seit Karl dem Großen im Westen abgenommen
haben, in keinem rechten Verhältnis auch zu der allgemeinen fremden Beimischung.
Er ist -- nach dem heutigen Stand wenigstens -- sogar geringer als die
meist durch unsere Vermittlung hindurchgegangene romanische Beeinflussung.
In einem polnisch-französischen Wörter- und Gesprächbüchlein vom Jahr 1798
kommen auf 3500 bis 3600 polnische Ausdrücke im ganzen nur etwa 130 von
deutscher Herkunft, aber 210 lateinisch-romanische (ein deutsches also auf
27 polnische Wörter, dagegen ein lateinisch-romanisches schon auf 19). Und in
einem ähnlichen russischen Werkchen aus unserer Zeit stehen unter 2260 Aus¬
drücken 268 romanische, 56 rein deutsche und zwölf romanisch-deutsche (Gips,
Matrose), sowie 15 englische, mithin ein romanisches neben acht bis neun
russischen, ein deutsches neben 34 und ein englisches neben 151 russischen.

Freilich sind die deutschen Ausdrücke den Slawen mehr in Fleisch und
Blut übergegangen als die ihm mehr zur Zierat und als Flitter dienenden
Römlinge: denn die deutschen Entlehnungen bezeichnen Begriffe aus dem
gehobenen Alltagsleben, Handwerke, Gegenstände der Hauseinrichtung, der Küche,
des Handels, der Kleidung, des Kriegs und der Jagd, und sind der weiten
Masse des Volkes eigen und vertraut, während das aus unserem Südwesten
übernommene Sprachgut -- durchgängig Ausdrücke für verfeinerte Lebens¬
gewohnheiten -- nur der Gebildete in den Mund nimmt.


Die europäischen Sprachen und der Krieg

Frau Klara Hechtenberg-Collitz allein auf rund 3400 solcher Überläufer, davon
die gute Hälfte mit Heimatsrecht auch noch bei uns. Aber auch das deutsche
Fremdwörterbuch des gerade in Frankreich gefallenen Hans Schulz, dessen allem
erschienene erste Hälfte — nur als Auswahl — über 1600 Grundformen
bespricht, hätte für unsere landläufige Gebildetensprache gut die gleiche Zahl
erreicht.

Das meiste von diesem fremdländischen Stoff hält sich aber nicht an der
Oberfläche des guten Schrifttums und der feinen Gesellschaft, sondern sickert
nach und nach hinab bis auf den Urgrund der Mundart, im Süden und
Westen freilich wohl mehr als im Innern des Reichs: jedenfalls führt der
Se. Galler Bauer gut 400 ausländische Ausdrücke im Munde, gegenüber einem
berücksichtigten Gesamtwortschatz von höchstens 4000 Formen immerhin ein
leidlicher Bruchteil; der Pfälzer dagegen in dem Heidelberger Vororte Hand¬
schuhsheim bringt es gar auf fast 700 Fremdwörter, bei einem Gesamtbestand
von 20000 Wörtern für das ganze Dorf und von 10000 bis 15000 Aus¬
drücken für den einzelnen — nach der Schätzung von Philipp Lenz —, glück¬
licherweise doch nur. um mit Klopstock zu reden, ein Tropfen am Eimer!

Demgegenüber kann der Einschlag nicht aufkommen, den das Deutschtum
bei dem sprachlichen Gewände des Slawen hinterlassen hat. Denn so sehr uns
das über Böhmen ostwärts vordringende Christentum vorarbeitete, später die
Geltung des Magdeburger Rechts und der Handel der Hansa, steht er bei den
noch erhaltenen östlichen Hauptsprachen der Slawen in keinem rechten Verhältnis
zu der Bodenfläche, die wir ihnen seit Karl dem Großen im Westen abgenommen
haben, in keinem rechten Verhältnis auch zu der allgemeinen fremden Beimischung.
Er ist — nach dem heutigen Stand wenigstens — sogar geringer als die
meist durch unsere Vermittlung hindurchgegangene romanische Beeinflussung.
In einem polnisch-französischen Wörter- und Gesprächbüchlein vom Jahr 1798
kommen auf 3500 bis 3600 polnische Ausdrücke im ganzen nur etwa 130 von
deutscher Herkunft, aber 210 lateinisch-romanische (ein deutsches also auf
27 polnische Wörter, dagegen ein lateinisch-romanisches schon auf 19). Und in
einem ähnlichen russischen Werkchen aus unserer Zeit stehen unter 2260 Aus¬
drücken 268 romanische, 56 rein deutsche und zwölf romanisch-deutsche (Gips,
Matrose), sowie 15 englische, mithin ein romanisches neben acht bis neun
russischen, ein deutsches neben 34 und ein englisches neben 151 russischen.

Freilich sind die deutschen Ausdrücke den Slawen mehr in Fleisch und
Blut übergegangen als die ihm mehr zur Zierat und als Flitter dienenden
Römlinge: denn die deutschen Entlehnungen bezeichnen Begriffe aus dem
gehobenen Alltagsleben, Handwerke, Gegenstände der Hauseinrichtung, der Küche,
des Handels, der Kleidung, des Kriegs und der Jagd, und sind der weiten
Masse des Volkes eigen und vertraut, während das aus unserem Südwesten
übernommene Sprachgut — durchgängig Ausdrücke für verfeinerte Lebens¬
gewohnheiten — nur der Gebildete in den Mund nimmt.


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[0296] Die europäischen Sprachen und der Krieg Frau Klara Hechtenberg-Collitz allein auf rund 3400 solcher Überläufer, davon die gute Hälfte mit Heimatsrecht auch noch bei uns. Aber auch das deutsche Fremdwörterbuch des gerade in Frankreich gefallenen Hans Schulz, dessen allem erschienene erste Hälfte — nur als Auswahl — über 1600 Grundformen bespricht, hätte für unsere landläufige Gebildetensprache gut die gleiche Zahl erreicht. Das meiste von diesem fremdländischen Stoff hält sich aber nicht an der Oberfläche des guten Schrifttums und der feinen Gesellschaft, sondern sickert nach und nach hinab bis auf den Urgrund der Mundart, im Süden und Westen freilich wohl mehr als im Innern des Reichs: jedenfalls führt der Se. Galler Bauer gut 400 ausländische Ausdrücke im Munde, gegenüber einem berücksichtigten Gesamtwortschatz von höchstens 4000 Formen immerhin ein leidlicher Bruchteil; der Pfälzer dagegen in dem Heidelberger Vororte Hand¬ schuhsheim bringt es gar auf fast 700 Fremdwörter, bei einem Gesamtbestand von 20000 Wörtern für das ganze Dorf und von 10000 bis 15000 Aus¬ drücken für den einzelnen — nach der Schätzung von Philipp Lenz —, glück¬ licherweise doch nur. um mit Klopstock zu reden, ein Tropfen am Eimer! Demgegenüber kann der Einschlag nicht aufkommen, den das Deutschtum bei dem sprachlichen Gewände des Slawen hinterlassen hat. Denn so sehr uns das über Böhmen ostwärts vordringende Christentum vorarbeitete, später die Geltung des Magdeburger Rechts und der Handel der Hansa, steht er bei den noch erhaltenen östlichen Hauptsprachen der Slawen in keinem rechten Verhältnis zu der Bodenfläche, die wir ihnen seit Karl dem Großen im Westen abgenommen haben, in keinem rechten Verhältnis auch zu der allgemeinen fremden Beimischung. Er ist — nach dem heutigen Stand wenigstens — sogar geringer als die meist durch unsere Vermittlung hindurchgegangene romanische Beeinflussung. In einem polnisch-französischen Wörter- und Gesprächbüchlein vom Jahr 1798 kommen auf 3500 bis 3600 polnische Ausdrücke im ganzen nur etwa 130 von deutscher Herkunft, aber 210 lateinisch-romanische (ein deutsches also auf 27 polnische Wörter, dagegen ein lateinisch-romanisches schon auf 19). Und in einem ähnlichen russischen Werkchen aus unserer Zeit stehen unter 2260 Aus¬ drücken 268 romanische, 56 rein deutsche und zwölf romanisch-deutsche (Gips, Matrose), sowie 15 englische, mithin ein romanisches neben acht bis neun russischen, ein deutsches neben 34 und ein englisches neben 151 russischen. Freilich sind die deutschen Ausdrücke den Slawen mehr in Fleisch und Blut übergegangen als die ihm mehr zur Zierat und als Flitter dienenden Römlinge: denn die deutschen Entlehnungen bezeichnen Begriffe aus dem gehobenen Alltagsleben, Handwerke, Gegenstände der Hauseinrichtung, der Küche, des Handels, der Kleidung, des Kriegs und der Jagd, und sind der weiten Masse des Volkes eigen und vertraut, während das aus unserem Südwesten übernommene Sprachgut — durchgängig Ausdrücke für verfeinerte Lebens¬ gewohnheiten — nur der Gebildete in den Mund nimmt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/296>, abgerufen am 24.08.2024.