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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die europäischen Sprachen und der Krieg

besonders im Haag, das nach dem Ausspruch eines Zeitgenossen im Jahre 1641
von gallischen und holländischen Französlingen wie überflutet war; dort gaben
sich nicht nur der Hof und alle Herren des Schwerts und der Feder ganz
pariserisch, sondern noch im neunzehnten Jahrhundert war bei den höheren
Schichten die Sprache des hier einst halbvergötterten Voltaire das modische
Verständigungsmittel im Briefwechsel und in der Gesellschaft.

Wir ermessen die Wucht und den Umfang dieses nachhaltigen Einflusses
am besten an dem traurigen Erfolg: nicht nur sind dort unsere südlichen
Grenzmarken, die im siebzehnten Jahrhundert noch bis Boulogne reichten,
jetzt weithin abgebröckelt; auch in Holland hat die Sprache von ihrem
gallischen Vormund für immer eine Unzahl von Einzelwörtern übernommen:
nach der Auswahl eines kurzen etymologischen Wörterbuchs, das im ganzen
8000 Formen zusammenfaßt, über 1000, gegenüber rund 650 aus dem Latein,
200 aus dem Deutschen und 68 aus dem Englischen.

Den Wall, der die drei hauptsächlichsten Sprachgebiete Europas so grund¬
sätzlich voneinander scheidet, hat der Strom der Kultur also an verschiedenen
Stellen überschritten und dabei sprachliches Gut zahlreich von der einen Seite
auf die andere geschwemmt.

Sein Lauf geht im allgemeinen von Süden nach Norden und Osten, und
er steigt bei seinem Vorschreiten stufenweise abwärts. Indem er erst von
Rom ausgeht, dann von Paris, findet er den ersten bedeutenden Widerstand
auf dem Ostufer der Weichsel. Hier staut sich sein Wasser in dem westlich
davorliegenden deutschen Becken, bis es, zunächst gehoben durch einen mächtigen
reindeutschen Schwall, in neuem Ansturm nach Osten und Norden weiterbricht:
so gelangt der Titel Caesar erst als Kaiser zu uns, dann als Zar bis nach
Moskau; ebenso schon von den Goten aus das germanische Kuning "König"
in der Bedeutung "Fürst" zu allen Slawen; dazu noch später der Name Karls
des Großen, der den Ostleuten (als KrÄ, Krot) heute die Königswürde ver¬
körpert und in den Personennamen Kräik und Kroll zu uns zurückwanderte.

Wie viel unsere deutschen Fluren von diesem fremdländischen Wasser in
sich aufgenommen haben, mögen wenigstens einige Zahlen veranschaulichen, die
gleich nachher vergleichsweise einen Maßstab abgeben können für unsere Ver¬
dienste um den slawischen Osten.

Während sich der deutsche Wortschatz nach der kulturgeschichtlichen Gesichts¬
punkten Rechnung tragenden Darstellung F. Seilers vor der Einführung des
Christentums nur etwa 330 Fremdbrocken einverleibt hat. und ungefähr eben
so viele nach der grundlegenden Zusammenstellung Friedrich Kluges, eignet er
sich -- wieder nach Seilers Wörterverzeichnissen -- von da bis zum Ausgang
des Mittelalters noch ein gutes Tausend weitere an, in der neueren Zeit
außerdem gar noch 4800. Eine Hochflut brachte dabei der dreißigjährige
Krieg: auf einer streife in den Schriften des siebzehnten Jahrhunderts stieß


Die europäischen Sprachen und der Krieg

besonders im Haag, das nach dem Ausspruch eines Zeitgenossen im Jahre 1641
von gallischen und holländischen Französlingen wie überflutet war; dort gaben
sich nicht nur der Hof und alle Herren des Schwerts und der Feder ganz
pariserisch, sondern noch im neunzehnten Jahrhundert war bei den höheren
Schichten die Sprache des hier einst halbvergötterten Voltaire das modische
Verständigungsmittel im Briefwechsel und in der Gesellschaft.

Wir ermessen die Wucht und den Umfang dieses nachhaltigen Einflusses
am besten an dem traurigen Erfolg: nicht nur sind dort unsere südlichen
Grenzmarken, die im siebzehnten Jahrhundert noch bis Boulogne reichten,
jetzt weithin abgebröckelt; auch in Holland hat die Sprache von ihrem
gallischen Vormund für immer eine Unzahl von Einzelwörtern übernommen:
nach der Auswahl eines kurzen etymologischen Wörterbuchs, das im ganzen
8000 Formen zusammenfaßt, über 1000, gegenüber rund 650 aus dem Latein,
200 aus dem Deutschen und 68 aus dem Englischen.

Den Wall, der die drei hauptsächlichsten Sprachgebiete Europas so grund¬
sätzlich voneinander scheidet, hat der Strom der Kultur also an verschiedenen
Stellen überschritten und dabei sprachliches Gut zahlreich von der einen Seite
auf die andere geschwemmt.

Sein Lauf geht im allgemeinen von Süden nach Norden und Osten, und
er steigt bei seinem Vorschreiten stufenweise abwärts. Indem er erst von
Rom ausgeht, dann von Paris, findet er den ersten bedeutenden Widerstand
auf dem Ostufer der Weichsel. Hier staut sich sein Wasser in dem westlich
davorliegenden deutschen Becken, bis es, zunächst gehoben durch einen mächtigen
reindeutschen Schwall, in neuem Ansturm nach Osten und Norden weiterbricht:
so gelangt der Titel Caesar erst als Kaiser zu uns, dann als Zar bis nach
Moskau; ebenso schon von den Goten aus das germanische Kuning „König"
in der Bedeutung „Fürst" zu allen Slawen; dazu noch später der Name Karls
des Großen, der den Ostleuten (als KrÄ, Krot) heute die Königswürde ver¬
körpert und in den Personennamen Kräik und Kroll zu uns zurückwanderte.

Wie viel unsere deutschen Fluren von diesem fremdländischen Wasser in
sich aufgenommen haben, mögen wenigstens einige Zahlen veranschaulichen, die
gleich nachher vergleichsweise einen Maßstab abgeben können für unsere Ver¬
dienste um den slawischen Osten.

Während sich der deutsche Wortschatz nach der kulturgeschichtlichen Gesichts¬
punkten Rechnung tragenden Darstellung F. Seilers vor der Einführung des
Christentums nur etwa 330 Fremdbrocken einverleibt hat. und ungefähr eben
so viele nach der grundlegenden Zusammenstellung Friedrich Kluges, eignet er
sich — wieder nach Seilers Wörterverzeichnissen — von da bis zum Ausgang
des Mittelalters noch ein gutes Tausend weitere an, in der neueren Zeit
außerdem gar noch 4800. Eine Hochflut brachte dabei der dreißigjährige
Krieg: auf einer streife in den Schriften des siebzehnten Jahrhunderts stieß


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[0295] Die europäischen Sprachen und der Krieg besonders im Haag, das nach dem Ausspruch eines Zeitgenossen im Jahre 1641 von gallischen und holländischen Französlingen wie überflutet war; dort gaben sich nicht nur der Hof und alle Herren des Schwerts und der Feder ganz pariserisch, sondern noch im neunzehnten Jahrhundert war bei den höheren Schichten die Sprache des hier einst halbvergötterten Voltaire das modische Verständigungsmittel im Briefwechsel und in der Gesellschaft. Wir ermessen die Wucht und den Umfang dieses nachhaltigen Einflusses am besten an dem traurigen Erfolg: nicht nur sind dort unsere südlichen Grenzmarken, die im siebzehnten Jahrhundert noch bis Boulogne reichten, jetzt weithin abgebröckelt; auch in Holland hat die Sprache von ihrem gallischen Vormund für immer eine Unzahl von Einzelwörtern übernommen: nach der Auswahl eines kurzen etymologischen Wörterbuchs, das im ganzen 8000 Formen zusammenfaßt, über 1000, gegenüber rund 650 aus dem Latein, 200 aus dem Deutschen und 68 aus dem Englischen. Den Wall, der die drei hauptsächlichsten Sprachgebiete Europas so grund¬ sätzlich voneinander scheidet, hat der Strom der Kultur also an verschiedenen Stellen überschritten und dabei sprachliches Gut zahlreich von der einen Seite auf die andere geschwemmt. Sein Lauf geht im allgemeinen von Süden nach Norden und Osten, und er steigt bei seinem Vorschreiten stufenweise abwärts. Indem er erst von Rom ausgeht, dann von Paris, findet er den ersten bedeutenden Widerstand auf dem Ostufer der Weichsel. Hier staut sich sein Wasser in dem westlich davorliegenden deutschen Becken, bis es, zunächst gehoben durch einen mächtigen reindeutschen Schwall, in neuem Ansturm nach Osten und Norden weiterbricht: so gelangt der Titel Caesar erst als Kaiser zu uns, dann als Zar bis nach Moskau; ebenso schon von den Goten aus das germanische Kuning „König" in der Bedeutung „Fürst" zu allen Slawen; dazu noch später der Name Karls des Großen, der den Ostleuten (als KrÄ, Krot) heute die Königswürde ver¬ körpert und in den Personennamen Kräik und Kroll zu uns zurückwanderte. Wie viel unsere deutschen Fluren von diesem fremdländischen Wasser in sich aufgenommen haben, mögen wenigstens einige Zahlen veranschaulichen, die gleich nachher vergleichsweise einen Maßstab abgeben können für unsere Ver¬ dienste um den slawischen Osten. Während sich der deutsche Wortschatz nach der kulturgeschichtlichen Gesichts¬ punkten Rechnung tragenden Darstellung F. Seilers vor der Einführung des Christentums nur etwa 330 Fremdbrocken einverleibt hat. und ungefähr eben so viele nach der grundlegenden Zusammenstellung Friedrich Kluges, eignet er sich — wieder nach Seilers Wörterverzeichnissen — von da bis zum Ausgang des Mittelalters noch ein gutes Tausend weitere an, in der neueren Zeit außerdem gar noch 4800. Eine Hochflut brachte dabei der dreißigjährige Krieg: auf einer streife in den Schriften des siebzehnten Jahrhunderts stieß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/295>, abgerufen am 24.08.2024.