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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die europäischen Sprachen und der Arieg

nicht nur die ganze Strecke vom Tinot bis zum Adriatischen Meer, vereinigt
also das alte Königreich Serbien, Altserbien und Montenegro mit Bosnien,
der Herzegowina und Dalmatien, sondern deckt sich sachlich auch völlig mit
dem Kroatischen, und Grund zu der Trennung in serbisch und kroatisch ist --
außer der Verschiedenheit des Bekenntnisses -- nur die Form der Buchstaben:
die rechtgläubig-griechischen Serben schreiben eigene Zeichen, die römisch-
katholischen Kroaten dagegen die lateinischen Buchstaben. Dazu wurzelt die
ganze kroatische Schriftsprache überhaupt im serbischen, und ihr Begründer
Vuk Stefanowic Karadschic (1767--1864) gehörte durch seine Eltern nach der
Herzegowina und nach dem nördlichen Montenegro.

Die einzelnen Sprachen dieses Kreises find nun an sich zwar deutlich von¬
einander geschieden, so daß der Tscheche Schafarik im Jahre 1825 seine Geschichte
der slawischen Sprache und Literatur deutsch schreiben mußte, um nur in
Zvsterreich-Ungarn allen flämischen Stämmen verständlich zu werden.

Doch ist diese Verschiedenheit keine unübersteigliche Scheidewand, am
wenigsten in der Schriftsprache.

Denn wie im Romanischen das Latein, so thront über den flämischen
Einzelsprachen die Kirchensprache des Altbulgarischen, die für die südliche und
die östliche Gruppe lange Zeit die einzige Schreibform war, für das Russische
über Peter den Großen hinaus, für das Serbokroatische bis zum Beginn des
neunzehnten Jahrhunderts. Darum führt gerade der russische Wortschatz --
trotz der erfolgreichen Reinigungsbestrebungen des Geschichtsschreibers Karamfin
f1766bis 1826). des Fabeldichters Krylow (1768 bis 1844). des Schauspieldichters
Gribojedow (1793 bis 1829) -- vor allem in der Dichtung noch heute manche
Ausdrücke in kirchenslawischer Landung weiter, so wrömja "Zeit" (neben nord-
russisch wirklich vorliegendem wSremja), so den Namen Wladimir neben seiner
Abkürzung Wolodja.

Aber auch ohne dieses Kirchenslawische find die heutigen Schriftsprachen der
Slawen einander doch so ähnlich, daß eine gute Kenntnis der einen schon das
Verständnis der andern ermöglicht, vor allem im Druck. Mag der Ausdruck
auch einmal wechseln, so klingen doch Lautgestalt, Wortbildung und Wortbiegung
immer ziemlich'aneinander an.

Und im mündlichen Verkehr steht es wohl ähnlich.

Zwar sind alle slawischen Hauptsprachen mundartlich stark gespalten.
Dennoch entdeckt hier nicht nur die Forschung überall Berührungspunkte in der
Gestalt allmählicher Übergänge, sondern auch die lebendige Erfahrung: wenn
selbst ein Ausländer mit einiger Kenntnis des Russischen auch in einer polnischen
Unterhaltung manches aufschnappt und sich in Montenegro und Bulgarien sogar
bei den unteren Volksschichten durchhelfen kann, wie viel eher ein gebürtiger
Slawe, zumal mit Bildung und Geschick!

,, Noch machen die Slawen von dieser sprachlich erleichterten Möglichkeit
engeren Zusammenschlusses keinen allgemeinen Gebrauch, sondern liegen sich


Die europäischen Sprachen und der Arieg

nicht nur die ganze Strecke vom Tinot bis zum Adriatischen Meer, vereinigt
also das alte Königreich Serbien, Altserbien und Montenegro mit Bosnien,
der Herzegowina und Dalmatien, sondern deckt sich sachlich auch völlig mit
dem Kroatischen, und Grund zu der Trennung in serbisch und kroatisch ist —
außer der Verschiedenheit des Bekenntnisses — nur die Form der Buchstaben:
die rechtgläubig-griechischen Serben schreiben eigene Zeichen, die römisch-
katholischen Kroaten dagegen die lateinischen Buchstaben. Dazu wurzelt die
ganze kroatische Schriftsprache überhaupt im serbischen, und ihr Begründer
Vuk Stefanowic Karadschic (1767—1864) gehörte durch seine Eltern nach der
Herzegowina und nach dem nördlichen Montenegro.

Die einzelnen Sprachen dieses Kreises find nun an sich zwar deutlich von¬
einander geschieden, so daß der Tscheche Schafarik im Jahre 1825 seine Geschichte
der slawischen Sprache und Literatur deutsch schreiben mußte, um nur in
Zvsterreich-Ungarn allen flämischen Stämmen verständlich zu werden.

Doch ist diese Verschiedenheit keine unübersteigliche Scheidewand, am
wenigsten in der Schriftsprache.

Denn wie im Romanischen das Latein, so thront über den flämischen
Einzelsprachen die Kirchensprache des Altbulgarischen, die für die südliche und
die östliche Gruppe lange Zeit die einzige Schreibform war, für das Russische
über Peter den Großen hinaus, für das Serbokroatische bis zum Beginn des
neunzehnten Jahrhunderts. Darum führt gerade der russische Wortschatz —
trotz der erfolgreichen Reinigungsbestrebungen des Geschichtsschreibers Karamfin
f1766bis 1826). des Fabeldichters Krylow (1768 bis 1844). des Schauspieldichters
Gribojedow (1793 bis 1829) — vor allem in der Dichtung noch heute manche
Ausdrücke in kirchenslawischer Landung weiter, so wrömja „Zeit" (neben nord-
russisch wirklich vorliegendem wSremja), so den Namen Wladimir neben seiner
Abkürzung Wolodja.

Aber auch ohne dieses Kirchenslawische find die heutigen Schriftsprachen der
Slawen einander doch so ähnlich, daß eine gute Kenntnis der einen schon das
Verständnis der andern ermöglicht, vor allem im Druck. Mag der Ausdruck
auch einmal wechseln, so klingen doch Lautgestalt, Wortbildung und Wortbiegung
immer ziemlich'aneinander an.

Und im mündlichen Verkehr steht es wohl ähnlich.

Zwar sind alle slawischen Hauptsprachen mundartlich stark gespalten.
Dennoch entdeckt hier nicht nur die Forschung überall Berührungspunkte in der
Gestalt allmählicher Übergänge, sondern auch die lebendige Erfahrung: wenn
selbst ein Ausländer mit einiger Kenntnis des Russischen auch in einer polnischen
Unterhaltung manches aufschnappt und sich in Montenegro und Bulgarien sogar
bei den unteren Volksschichten durchhelfen kann, wie viel eher ein gebürtiger
Slawe, zumal mit Bildung und Geschick!

,, Noch machen die Slawen von dieser sprachlich erleichterten Möglichkeit
engeren Zusammenschlusses keinen allgemeinen Gebrauch, sondern liegen sich


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[0291] Die europäischen Sprachen und der Arieg nicht nur die ganze Strecke vom Tinot bis zum Adriatischen Meer, vereinigt also das alte Königreich Serbien, Altserbien und Montenegro mit Bosnien, der Herzegowina und Dalmatien, sondern deckt sich sachlich auch völlig mit dem Kroatischen, und Grund zu der Trennung in serbisch und kroatisch ist — außer der Verschiedenheit des Bekenntnisses — nur die Form der Buchstaben: die rechtgläubig-griechischen Serben schreiben eigene Zeichen, die römisch- katholischen Kroaten dagegen die lateinischen Buchstaben. Dazu wurzelt die ganze kroatische Schriftsprache überhaupt im serbischen, und ihr Begründer Vuk Stefanowic Karadschic (1767—1864) gehörte durch seine Eltern nach der Herzegowina und nach dem nördlichen Montenegro. Die einzelnen Sprachen dieses Kreises find nun an sich zwar deutlich von¬ einander geschieden, so daß der Tscheche Schafarik im Jahre 1825 seine Geschichte der slawischen Sprache und Literatur deutsch schreiben mußte, um nur in Zvsterreich-Ungarn allen flämischen Stämmen verständlich zu werden. Doch ist diese Verschiedenheit keine unübersteigliche Scheidewand, am wenigsten in der Schriftsprache. Denn wie im Romanischen das Latein, so thront über den flämischen Einzelsprachen die Kirchensprache des Altbulgarischen, die für die südliche und die östliche Gruppe lange Zeit die einzige Schreibform war, für das Russische über Peter den Großen hinaus, für das Serbokroatische bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Darum führt gerade der russische Wortschatz — trotz der erfolgreichen Reinigungsbestrebungen des Geschichtsschreibers Karamfin f1766bis 1826). des Fabeldichters Krylow (1768 bis 1844). des Schauspieldichters Gribojedow (1793 bis 1829) — vor allem in der Dichtung noch heute manche Ausdrücke in kirchenslawischer Landung weiter, so wrömja „Zeit" (neben nord- russisch wirklich vorliegendem wSremja), so den Namen Wladimir neben seiner Abkürzung Wolodja. Aber auch ohne dieses Kirchenslawische find die heutigen Schriftsprachen der Slawen einander doch so ähnlich, daß eine gute Kenntnis der einen schon das Verständnis der andern ermöglicht, vor allem im Druck. Mag der Ausdruck auch einmal wechseln, so klingen doch Lautgestalt, Wortbildung und Wortbiegung immer ziemlich'aneinander an. Und im mündlichen Verkehr steht es wohl ähnlich. Zwar sind alle slawischen Hauptsprachen mundartlich stark gespalten. Dennoch entdeckt hier nicht nur die Forschung überall Berührungspunkte in der Gestalt allmählicher Übergänge, sondern auch die lebendige Erfahrung: wenn selbst ein Ausländer mit einiger Kenntnis des Russischen auch in einer polnischen Unterhaltung manches aufschnappt und sich in Montenegro und Bulgarien sogar bei den unteren Volksschichten durchhelfen kann, wie viel eher ein gebürtiger Slawe, zumal mit Bildung und Geschick! ,, Noch machen die Slawen von dieser sprachlich erleichterten Möglichkeit engeren Zusammenschlusses keinen allgemeinen Gebrauch, sondern liegen sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/291>, abgerufen am 22.07.2024.