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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die europäischen Sprachen und der Krieg

Silbe festgelegt, das Tschechische und serbische auf der ersten: der polnische
Verfasser von "()no vaäis" heißt also Sjenkjswitsch, dagegen die Beamten des
Kaisers Matthias, die man zu Beginn des dreißigjährigen Krieges in Prag
aus dem Fenster stürzte, Märtinitz und Släwata, der Schlachtort des Jahres 1866
SKvowa. Dazu kommen als weitere Vorzüge einmal eine reich entwickelte
Fähigkeit der Wortableitung und noch mehr eine große Freiheit in der Wort¬
stellung, die in Verbindung mit einer meist vorhandenen Vierzahl der Partizipien
und einer beispielsweise in der russischen Schriftsprache zu Gebote stehenden
Zweizahl der Gerundien die Verknüpfung der Gedanken sehr erleichtert, vielleicht
mehr als die unselige deutsche Verschachtelung der Nebensätze.

Alles in allem stehen also die slawischen Sprachen auf einer hohen Stufe.

Aber auch rein lautlich sind sie besser als ihr Ruf, und ihre Kenner
stellen sie Strolz ihrer vielen Zischlaute und trotz ihrer zahlreichen Palatal¬
konsonanten an Klangfülle vor das Deutsche. Das Russische jedenfalls ist
mindestens ebenso vokalreich wie das Deutsche -- eine Probe hat auf 100 Laute
im Russischen 42 Vokale ergeben, im Deutschen nur 36 --, und diese Vokale
wechseln ziemlich bunt untereinander ab, ungeachtet vielleicht einer gewissen
Vorherrschaft des a: eine Stichprobe aus Turgenieff enthielt 53 a gegen
40 andere Vokale, eine kleinrusstsche Probe allerdings nur 38 a gegen 148
sonstige Vokale. -- Und in der Tonführung nimmt es das serbische wenigstens
mit den melodischsten deutschen Mundarten auf, weil es in den Tonsilben Ab¬
stieg und Anstieg nach Stärke und Höhe scharf auseinanderhält: denn damit
scheidet es zwischen seinen Formen ähnlich, wie der Rheinländer zwischen dem
Dativ Baum und dem Akkusativ Baum.

Wie stellen sich aber die Slawen untereinander, und wie stellen sie sich
zu uns?

Zunächst heben sich aus ihrer großen Masse zwei geschlossene Gruppen
heraus: die südliche der Slowenen, Serbokroaten und Bulgaren, unter denen
die Bulgaren auch sprachlich heute am ehesten einen eigenen Weg gehen, wie
sie auch ursprünglich ein finnisches Volk waren, das die Sprache der von ihm
unterjochten Slawen annahm; 'daneben die westliche Gruppe der Polen, der
Sorben und der Tschechen, zu denen man als Unterabteilung die Slowaken
stellt, die übrigens nicht alle im Ausland Mausfallen verkaufen, sondern in der
Mehrzahl zu Hause Liptauer Käse bereiten, den Acker pflügen und Wein
ziehen; die dritte und größte Gruppe, die Russen, rechnet man am besten für
sich, nicht zu den Südvölkern; sie zerfällt in die nördlichen Großrussen, die
südlichen Kleinrussen (Ruthenen oder Ukrainer) und in die Weißrussen im
Westen.

Bedrohlich ist bei dieser Verteilung der Widerstreit zwischen Sprachgebiet
und Staatshoheit.

Die Kleinrussen bevölkern noch ganz Galizien und stoßen da im Süden,
bei Czernowitz, an die ungarländischen Rumänen; und das serbische erfüllt


Die europäischen Sprachen und der Krieg

Silbe festgelegt, das Tschechische und serbische auf der ersten: der polnische
Verfasser von „()no vaäis" heißt also Sjenkjswitsch, dagegen die Beamten des
Kaisers Matthias, die man zu Beginn des dreißigjährigen Krieges in Prag
aus dem Fenster stürzte, Märtinitz und Släwata, der Schlachtort des Jahres 1866
SKvowa. Dazu kommen als weitere Vorzüge einmal eine reich entwickelte
Fähigkeit der Wortableitung und noch mehr eine große Freiheit in der Wort¬
stellung, die in Verbindung mit einer meist vorhandenen Vierzahl der Partizipien
und einer beispielsweise in der russischen Schriftsprache zu Gebote stehenden
Zweizahl der Gerundien die Verknüpfung der Gedanken sehr erleichtert, vielleicht
mehr als die unselige deutsche Verschachtelung der Nebensätze.

Alles in allem stehen also die slawischen Sprachen auf einer hohen Stufe.

Aber auch rein lautlich sind sie besser als ihr Ruf, und ihre Kenner
stellen sie Strolz ihrer vielen Zischlaute und trotz ihrer zahlreichen Palatal¬
konsonanten an Klangfülle vor das Deutsche. Das Russische jedenfalls ist
mindestens ebenso vokalreich wie das Deutsche — eine Probe hat auf 100 Laute
im Russischen 42 Vokale ergeben, im Deutschen nur 36 —, und diese Vokale
wechseln ziemlich bunt untereinander ab, ungeachtet vielleicht einer gewissen
Vorherrschaft des a: eine Stichprobe aus Turgenieff enthielt 53 a gegen
40 andere Vokale, eine kleinrusstsche Probe allerdings nur 38 a gegen 148
sonstige Vokale. — Und in der Tonführung nimmt es das serbische wenigstens
mit den melodischsten deutschen Mundarten auf, weil es in den Tonsilben Ab¬
stieg und Anstieg nach Stärke und Höhe scharf auseinanderhält: denn damit
scheidet es zwischen seinen Formen ähnlich, wie der Rheinländer zwischen dem
Dativ Baum und dem Akkusativ Baum.

Wie stellen sich aber die Slawen untereinander, und wie stellen sie sich
zu uns?

Zunächst heben sich aus ihrer großen Masse zwei geschlossene Gruppen
heraus: die südliche der Slowenen, Serbokroaten und Bulgaren, unter denen
die Bulgaren auch sprachlich heute am ehesten einen eigenen Weg gehen, wie
sie auch ursprünglich ein finnisches Volk waren, das die Sprache der von ihm
unterjochten Slawen annahm; 'daneben die westliche Gruppe der Polen, der
Sorben und der Tschechen, zu denen man als Unterabteilung die Slowaken
stellt, die übrigens nicht alle im Ausland Mausfallen verkaufen, sondern in der
Mehrzahl zu Hause Liptauer Käse bereiten, den Acker pflügen und Wein
ziehen; die dritte und größte Gruppe, die Russen, rechnet man am besten für
sich, nicht zu den Südvölkern; sie zerfällt in die nördlichen Großrussen, die
südlichen Kleinrussen (Ruthenen oder Ukrainer) und in die Weißrussen im
Westen.

Bedrohlich ist bei dieser Verteilung der Widerstreit zwischen Sprachgebiet
und Staatshoheit.

Die Kleinrussen bevölkern noch ganz Galizien und stoßen da im Süden,
bei Czernowitz, an die ungarländischen Rumänen; und das serbische erfüllt


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[0290] Die europäischen Sprachen und der Krieg Silbe festgelegt, das Tschechische und serbische auf der ersten: der polnische Verfasser von „()no vaäis" heißt also Sjenkjswitsch, dagegen die Beamten des Kaisers Matthias, die man zu Beginn des dreißigjährigen Krieges in Prag aus dem Fenster stürzte, Märtinitz und Släwata, der Schlachtort des Jahres 1866 SKvowa. Dazu kommen als weitere Vorzüge einmal eine reich entwickelte Fähigkeit der Wortableitung und noch mehr eine große Freiheit in der Wort¬ stellung, die in Verbindung mit einer meist vorhandenen Vierzahl der Partizipien und einer beispielsweise in der russischen Schriftsprache zu Gebote stehenden Zweizahl der Gerundien die Verknüpfung der Gedanken sehr erleichtert, vielleicht mehr als die unselige deutsche Verschachtelung der Nebensätze. Alles in allem stehen also die slawischen Sprachen auf einer hohen Stufe. Aber auch rein lautlich sind sie besser als ihr Ruf, und ihre Kenner stellen sie Strolz ihrer vielen Zischlaute und trotz ihrer zahlreichen Palatal¬ konsonanten an Klangfülle vor das Deutsche. Das Russische jedenfalls ist mindestens ebenso vokalreich wie das Deutsche — eine Probe hat auf 100 Laute im Russischen 42 Vokale ergeben, im Deutschen nur 36 —, und diese Vokale wechseln ziemlich bunt untereinander ab, ungeachtet vielleicht einer gewissen Vorherrschaft des a: eine Stichprobe aus Turgenieff enthielt 53 a gegen 40 andere Vokale, eine kleinrusstsche Probe allerdings nur 38 a gegen 148 sonstige Vokale. — Und in der Tonführung nimmt es das serbische wenigstens mit den melodischsten deutschen Mundarten auf, weil es in den Tonsilben Ab¬ stieg und Anstieg nach Stärke und Höhe scharf auseinanderhält: denn damit scheidet es zwischen seinen Formen ähnlich, wie der Rheinländer zwischen dem Dativ Baum und dem Akkusativ Baum. Wie stellen sich aber die Slawen untereinander, und wie stellen sie sich zu uns? Zunächst heben sich aus ihrer großen Masse zwei geschlossene Gruppen heraus: die südliche der Slowenen, Serbokroaten und Bulgaren, unter denen die Bulgaren auch sprachlich heute am ehesten einen eigenen Weg gehen, wie sie auch ursprünglich ein finnisches Volk waren, das die Sprache der von ihm unterjochten Slawen annahm; 'daneben die westliche Gruppe der Polen, der Sorben und der Tschechen, zu denen man als Unterabteilung die Slowaken stellt, die übrigens nicht alle im Ausland Mausfallen verkaufen, sondern in der Mehrzahl zu Hause Liptauer Käse bereiten, den Acker pflügen und Wein ziehen; die dritte und größte Gruppe, die Russen, rechnet man am besten für sich, nicht zu den Südvölkern; sie zerfällt in die nördlichen Großrussen, die südlichen Kleinrussen (Ruthenen oder Ukrainer) und in die Weißrussen im Westen. Bedrohlich ist bei dieser Verteilung der Widerstreit zwischen Sprachgebiet und Staatshoheit. Die Kleinrussen bevölkern noch ganz Galizien und stoßen da im Süden, bei Czernowitz, an die ungarländischen Rumänen; und das serbische erfüllt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/290>, abgerufen am 24.08.2024.