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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

Deutschland etwas Schädigendes oder Unangenehmes zu sagen, läßt sich natürlich
nichts dagegen tun. In anderen Fällen wird aber diese Phrase ehrlich für
wahr gehalten. Hier handelt es sich einfach um maßlose Unwissenheit und
Unklarheit über die tatsächlichen politischen und sozialen Zustände Deutschlands
einerseits, und über die tatsächliche Wirkung der parlamentarischen Re¬
gierungen in Frankreich und auch in England anderseits, von Italien oder
Griechenland ganz zu geschweige:,. Es ist eben immer so unendlich viel
bequemer, sich an eine vorhandene Formel -- wie hier die Institution, die
theoretische Verfassungsform -- zu halten, als die verwickelten und vielgestaltige"
Tatsachen des Gemeinschaftsleben zu erforschen.

Vor allem müßte man die beharrlichen Geschichtsfälschungen, die die
Engländer zur eigenen Verherrlichung vorgenommen haben, und die vom
Liberalismus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in so rührender
Weise für bare Münze genommen wurden, einmal gründlich beseitigen. Ein
kleiner Beitrag sei hier geliefert. Es heißt gewöhnlich, in England sei die
Tortur hundert Jahre früher als auf dem Kontinent abgeschafft worden; hier
war Friedrich der Große bahnbrechend, der sie -- nachdem sie übrigens schon
Jahrzehnte vorher in Preußen tatsächlich kaum mehr angewendet wurde -- sehr
bald nach seinem Regierungsantritt beseitigte, nebenbei bemerkt nicht ohne leb¬
haften Widerspruch namhaftester Rechtsgelehrter, die eineÜberschwemmung Preußens
durch alle Verbrecher Deutschlands davon befürchteten. Was die Engländer bei
sich als Abschaffung der Folter bezeichnen, weiß ich nicht; jedenfalls haben sie
nach aktenmäßigen Darstellungen des neuen Pitaval noch Ende des achtzehnten
Jahrhunderts die furchtbare Gewichtsfolter, die darin bestand, daß dem Ge¬
fangenen immer schwerere Eisenplatten auf den Körper gelegt wurden, mit
Vorliebe angewendet. Bekanntlich ist auch das englische Gefängnis- und Straf¬
wesen unserer Tage, das ohne Prügel nicht auskommt, sehr viel inhumaner,
übrigens auch wohl unzweckmäßiger als unseres.

Zur Zeit der Reformation und auch noch später ist die Sicherheit der
Bürger gegenüber Willkürakten in bezug auf Leben, Freiheit und Eigentum,
worin sich die Rechtsstaatsnatur eines Gemeinwesens für den einzelnen zunächst
am fühlbarsten äußert, in Deutschland wesentlich höher als im gleichzeitigen
England. Die Art zum Beispiel, wie Philipp der Großmütige sich mit den
Anforderungen der Einehe auseinandersetzte, mag ihre religiös-dogmatischen und
sonstigen Bedenken haben; sie zeigte jedenfalls moralisch'und rechtlich einen sehr
viel höheren Stand an, als das Verfahren Heinrichs^des Achten von England,
der sich den Abschluß einer neuen Ehe trotz Bestehens einer früheren einfach,
und zwar in wiederholten Fällen, durch Hinrichtung seiner Frau ermöglichte.
Mittels dieses durchgreifenden Verfahrens ersparte er sich sowohl die kirchlichen
Schwierigkeiten der Scheidung, wie die Gewissensbedenken wegen einer Doppelehe,
die Philipp der Großmütige sich durch die vielangefochtenen Gutachten der
ren zu beschwichtigen suchte. Überhaupt findet die grenzenlose Willkür


is*
von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

Deutschland etwas Schädigendes oder Unangenehmes zu sagen, läßt sich natürlich
nichts dagegen tun. In anderen Fällen wird aber diese Phrase ehrlich für
wahr gehalten. Hier handelt es sich einfach um maßlose Unwissenheit und
Unklarheit über die tatsächlichen politischen und sozialen Zustände Deutschlands
einerseits, und über die tatsächliche Wirkung der parlamentarischen Re¬
gierungen in Frankreich und auch in England anderseits, von Italien oder
Griechenland ganz zu geschweige:,. Es ist eben immer so unendlich viel
bequemer, sich an eine vorhandene Formel — wie hier die Institution, die
theoretische Verfassungsform — zu halten, als die verwickelten und vielgestaltige»
Tatsachen des Gemeinschaftsleben zu erforschen.

Vor allem müßte man die beharrlichen Geschichtsfälschungen, die die
Engländer zur eigenen Verherrlichung vorgenommen haben, und die vom
Liberalismus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in so rührender
Weise für bare Münze genommen wurden, einmal gründlich beseitigen. Ein
kleiner Beitrag sei hier geliefert. Es heißt gewöhnlich, in England sei die
Tortur hundert Jahre früher als auf dem Kontinent abgeschafft worden; hier
war Friedrich der Große bahnbrechend, der sie — nachdem sie übrigens schon
Jahrzehnte vorher in Preußen tatsächlich kaum mehr angewendet wurde — sehr
bald nach seinem Regierungsantritt beseitigte, nebenbei bemerkt nicht ohne leb¬
haften Widerspruch namhaftester Rechtsgelehrter, die eineÜberschwemmung Preußens
durch alle Verbrecher Deutschlands davon befürchteten. Was die Engländer bei
sich als Abschaffung der Folter bezeichnen, weiß ich nicht; jedenfalls haben sie
nach aktenmäßigen Darstellungen des neuen Pitaval noch Ende des achtzehnten
Jahrhunderts die furchtbare Gewichtsfolter, die darin bestand, daß dem Ge¬
fangenen immer schwerere Eisenplatten auf den Körper gelegt wurden, mit
Vorliebe angewendet. Bekanntlich ist auch das englische Gefängnis- und Straf¬
wesen unserer Tage, das ohne Prügel nicht auskommt, sehr viel inhumaner,
übrigens auch wohl unzweckmäßiger als unseres.

Zur Zeit der Reformation und auch noch später ist die Sicherheit der
Bürger gegenüber Willkürakten in bezug auf Leben, Freiheit und Eigentum,
worin sich die Rechtsstaatsnatur eines Gemeinwesens für den einzelnen zunächst
am fühlbarsten äußert, in Deutschland wesentlich höher als im gleichzeitigen
England. Die Art zum Beispiel, wie Philipp der Großmütige sich mit den
Anforderungen der Einehe auseinandersetzte, mag ihre religiös-dogmatischen und
sonstigen Bedenken haben; sie zeigte jedenfalls moralisch'und rechtlich einen sehr
viel höheren Stand an, als das Verfahren Heinrichs^des Achten von England,
der sich den Abschluß einer neuen Ehe trotz Bestehens einer früheren einfach,
und zwar in wiederholten Fällen, durch Hinrichtung seiner Frau ermöglichte.
Mittels dieses durchgreifenden Verfahrens ersparte er sich sowohl die kirchlichen
Schwierigkeiten der Scheidung, wie die Gewissensbedenken wegen einer Doppelehe,
die Philipp der Großmütige sich durch die vielangefochtenen Gutachten der
ren zu beschwichtigen suchte. Überhaupt findet die grenzenlose Willkür


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/255>, abgerufen am 24.08.2024.