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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

gerade weil sie die ältesten und am intensivsten kultivierten unter den europäischen
Nationen find, konnten sie diese Leistung vollbringen. Zivilisation. Domestikation
kann schwächen; wirkliche Kultur stärkt. Die europäischen Nationen von heute
find den Naturvölkern und überhaupt kulturell tiefer stehenden Völkern im
allgemeinen auch militärisch und physisch überlegen. Die verbreitete gegenteilige
Meinung, als ob die Kultur notwendig schwächen müsse, stammt aller Wahr¬
scheinlichkeit nach noch von einer falschen Auffassung des gewaltigsten,
umstürzendsten Ereignisses der bisherigen Kulturgeschichte: als sei die
antike Zivilisation durch die Germanen zerstört worden und nicht von
innen heraus, durch die anthropologische Veränderung und das Aus¬
sterben der bis dahin kulturtragenden und staatsbildenden Bevölkerungs¬
oberschicht.

Nun brauchen freilich die Franzosen ihre Zivilisationsform in ihrer
Mischung von keltischen, romanischen und fränkisch - germanischen Bestandteilen
nicht für einen bloßen Ableger der antiken Kultur zu halten, wenn auch die
lateinische Eroberung und Besiedlung die Sprache dauernd bestimmt hat, im
Gegensatz zu dem in der späten Antike auch schon stark romanischen, aber eben
doch nicht dauernd romanisierten Südengland. Jedenfalls aber kann die
Behauptung der Franzosen, uns gegenüber die ältere Kulturnation zu sein --
wenn überhaupt eine --, nur diese Unterlage haben, daß sie die Fortsetzer und
Erben der antiken Kultur seien. Die Kulturform der Antike ist natürlich älter
als unsere heutige deutsche Kultur. Aber unter den nachantiken Kulturen --
und die Cäsur nach dem Untergang des römischen Reiches und der Christi¬
anisierung der europäischen Welt war eine so einschneidende, daß man hier,
trotz aller einzelnen Übernahmen, von einer neuen Kulturform sprechen muß --,
ist die deutsche die erste und älteste. Dabei ist unter Deutschland natürlich zu
verstehen das Land zwischen Elbe und Maas, zwischen Nordsee und Alpen,
das Deutschland des Mittelalters, das eben doch auch heute noch den Kern
des deutschen Gesamtstaats bildet. Die Siedlungslande jenseits der Elbe sind
natürlich von jüngerer Kultur, so groß ihre rein politische Bedeutung und ihre
politischen Verdienste um Gesamtdeutschland auch sein mögen. Sie haben in
der neueren Zeit auf staatlichem Gebiet zweifellos mehr geleistet als die älteren
westlicheren deutschen Lande, vielleicht gerade durch jene koloniale Art ihres
Ursprungs, durch ihre größere Rücksichtslosigkeit und Nüchternheit, aber auch
durch ihre größere Voraussetzungslosigkeit und Tatkraft; in einem gewissen
Sinne ist das Verhältnis des deutschen Ostens zum deutschen Westen ähnlich
dem des jungen Amerika zum alten Europa -- "hast keine verfallenen Schlösser
und keine Basalte." Bei den nordöstlichen Gegenden liegt heute verdientermaßen
in Deutschland die politische Führung, wie früher, zeitweilig bei dem südöstlichen
Kolonialgebiete in den Habsburgischen Landen. Wenn aber die Rede ist von
deutscher Kultur, von dem, was für ihren Inhalt, ihr Alter und sonstiges Wesen
kennzeichnend ist, muß man selbstverständlich die deutschen Lande zum Vergleich


Von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

gerade weil sie die ältesten und am intensivsten kultivierten unter den europäischen
Nationen find, konnten sie diese Leistung vollbringen. Zivilisation. Domestikation
kann schwächen; wirkliche Kultur stärkt. Die europäischen Nationen von heute
find den Naturvölkern und überhaupt kulturell tiefer stehenden Völkern im
allgemeinen auch militärisch und physisch überlegen. Die verbreitete gegenteilige
Meinung, als ob die Kultur notwendig schwächen müsse, stammt aller Wahr¬
scheinlichkeit nach noch von einer falschen Auffassung des gewaltigsten,
umstürzendsten Ereignisses der bisherigen Kulturgeschichte: als sei die
antike Zivilisation durch die Germanen zerstört worden und nicht von
innen heraus, durch die anthropologische Veränderung und das Aus¬
sterben der bis dahin kulturtragenden und staatsbildenden Bevölkerungs¬
oberschicht.

Nun brauchen freilich die Franzosen ihre Zivilisationsform in ihrer
Mischung von keltischen, romanischen und fränkisch - germanischen Bestandteilen
nicht für einen bloßen Ableger der antiken Kultur zu halten, wenn auch die
lateinische Eroberung und Besiedlung die Sprache dauernd bestimmt hat, im
Gegensatz zu dem in der späten Antike auch schon stark romanischen, aber eben
doch nicht dauernd romanisierten Südengland. Jedenfalls aber kann die
Behauptung der Franzosen, uns gegenüber die ältere Kulturnation zu sein —
wenn überhaupt eine —, nur diese Unterlage haben, daß sie die Fortsetzer und
Erben der antiken Kultur seien. Die Kulturform der Antike ist natürlich älter
als unsere heutige deutsche Kultur. Aber unter den nachantiken Kulturen —
und die Cäsur nach dem Untergang des römischen Reiches und der Christi¬
anisierung der europäischen Welt war eine so einschneidende, daß man hier,
trotz aller einzelnen Übernahmen, von einer neuen Kulturform sprechen muß —,
ist die deutsche die erste und älteste. Dabei ist unter Deutschland natürlich zu
verstehen das Land zwischen Elbe und Maas, zwischen Nordsee und Alpen,
das Deutschland des Mittelalters, das eben doch auch heute noch den Kern
des deutschen Gesamtstaats bildet. Die Siedlungslande jenseits der Elbe sind
natürlich von jüngerer Kultur, so groß ihre rein politische Bedeutung und ihre
politischen Verdienste um Gesamtdeutschland auch sein mögen. Sie haben in
der neueren Zeit auf staatlichem Gebiet zweifellos mehr geleistet als die älteren
westlicheren deutschen Lande, vielleicht gerade durch jene koloniale Art ihres
Ursprungs, durch ihre größere Rücksichtslosigkeit und Nüchternheit, aber auch
durch ihre größere Voraussetzungslosigkeit und Tatkraft; in einem gewissen
Sinne ist das Verhältnis des deutschen Ostens zum deutschen Westen ähnlich
dem des jungen Amerika zum alten Europa — „hast keine verfallenen Schlösser
und keine Basalte." Bei den nordöstlichen Gegenden liegt heute verdientermaßen
in Deutschland die politische Führung, wie früher, zeitweilig bei dem südöstlichen
Kolonialgebiete in den Habsburgischen Landen. Wenn aber die Rede ist von
deutscher Kultur, von dem, was für ihren Inhalt, ihr Alter und sonstiges Wesen
kennzeichnend ist, muß man selbstverständlich die deutschen Lande zum Vergleich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/250>, abgerufen am 29.06.2024.