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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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von deutscher Aultur und deutscher Freiheit

heranziehen, wo diese Kulturentwicklung sich die längste Zeit abgespielt hat und
darf nicht willkürlich eine bestimmte einzelne Gegend des jetzigen deutschen
Staatsgebiets herausgreifen.




Nächst der kirchlichen Überlieferung ist das Rechtsleben der Zweig der
kulturellen Betätigung, der das Alte am treuesten festhält und den Neubildungen,
Veränderungen den starrsten Widerstand entgegensetzt, so daß hier jenes Fort¬
wirken oder auch, je nach dem Standpunkt des Beurteilers, Weiterlasten uralten
Kulturerbes besonders anschaulich wird.

In Deutschland hat die Idee des römischen Kaisertums deutscher Nation
bekanntlich zu dem beispiellosen -- nur mit der teilweisen Annahme der jüdischen
Religion durch die christlichen Völker zu vergleichenden -- Vorgang der Übernahme
des römischen Privatrechts geführt.

In Frankreich hat eine erneuerte Übernahme antiker Ideen auf politischem
Gebiet eingesetzt mit der revolutionären, besser der napoleonischen Neugestaltung
des französischen Staatswesens, die dem in der Revolution erfochtenen politischen
Siege des keltisch-romanischen Elements über seine bisherigen fränkisch-germanischen
Herren entsprach. H. Taine hat in seiner "Entstehung des modernen Frankreich"
das Wesen jener Umgestaltung und damit mittelbar überhaupt den Gegensatz
des klassizistischen und des germanischen Staatsgedankens folgendermaßen ge¬
kennzeichnet: "Infolge seines despotischen Instinkts und seiner klassischen lateinischen
Schulung faßt der Meister (Napoleon) die Menschenvereinigung nicht vom
modernen, germanischen, christlichen Standpunkt auf, als ein Zusammenwirken
von unten aufgehender Initiativen, sondern in der Weise des Altertums, der
Heiden, der Romanen: als eine Stufenleiter von von oben eingesetzter
Obrigkeiten."

Damit ist die Eigenart des germanischen Staatsgedankens treffend bezeichnet.
Diese Besonderheit hat einerseits im germanischen Mutterland, in Deutschland,
zeitweilig zur fast völligen Auflösung der Zentralgewalt geführt und Deutschland
politisch lange schwer geschädigt; anderseits hat sie aber auch durch die größere
Bewegungsfreiheit und Selbständigkeit der Glieder die unvergleichliche Viel¬
gestaltigkeit und den Reichtum des deutschen Kulturlebens wesentlich mitver¬
ursacht.

Mit jener Taineschen Unterscheidung könnte man den Gegensatz antik-
mittelmeerländischer und germanisch-nordeuropäischer Kulturform wenigstens auf
staatlich-rechtlichem Gebiet und damit wenigstens für ein Hauptgebiet der kulturellen
Betätigung -- Herder nennt einmal den Staat das höchste Kunstwerk des
menschlichen Geistes -- noch etwas allgemeiner dahin zusammenfassen: die Antike
hat die Idee einer Organisation des in Familie und Stamm ursprünglich trieb¬
haft gegebenen Zusammenlebens unter eine zentrale Staatsgewalt, der die
einzelnen nur Mittel zum Zweck sind, gebracht; die germanisch bestimmte


von deutscher Aultur und deutscher Freiheit

heranziehen, wo diese Kulturentwicklung sich die längste Zeit abgespielt hat und
darf nicht willkürlich eine bestimmte einzelne Gegend des jetzigen deutschen
Staatsgebiets herausgreifen.




Nächst der kirchlichen Überlieferung ist das Rechtsleben der Zweig der
kulturellen Betätigung, der das Alte am treuesten festhält und den Neubildungen,
Veränderungen den starrsten Widerstand entgegensetzt, so daß hier jenes Fort¬
wirken oder auch, je nach dem Standpunkt des Beurteilers, Weiterlasten uralten
Kulturerbes besonders anschaulich wird.

In Deutschland hat die Idee des römischen Kaisertums deutscher Nation
bekanntlich zu dem beispiellosen — nur mit der teilweisen Annahme der jüdischen
Religion durch die christlichen Völker zu vergleichenden — Vorgang der Übernahme
des römischen Privatrechts geführt.

In Frankreich hat eine erneuerte Übernahme antiker Ideen auf politischem
Gebiet eingesetzt mit der revolutionären, besser der napoleonischen Neugestaltung
des französischen Staatswesens, die dem in der Revolution erfochtenen politischen
Siege des keltisch-romanischen Elements über seine bisherigen fränkisch-germanischen
Herren entsprach. H. Taine hat in seiner „Entstehung des modernen Frankreich"
das Wesen jener Umgestaltung und damit mittelbar überhaupt den Gegensatz
des klassizistischen und des germanischen Staatsgedankens folgendermaßen ge¬
kennzeichnet: „Infolge seines despotischen Instinkts und seiner klassischen lateinischen
Schulung faßt der Meister (Napoleon) die Menschenvereinigung nicht vom
modernen, germanischen, christlichen Standpunkt auf, als ein Zusammenwirken
von unten aufgehender Initiativen, sondern in der Weise des Altertums, der
Heiden, der Romanen: als eine Stufenleiter von von oben eingesetzter
Obrigkeiten."

Damit ist die Eigenart des germanischen Staatsgedankens treffend bezeichnet.
Diese Besonderheit hat einerseits im germanischen Mutterland, in Deutschland,
zeitweilig zur fast völligen Auflösung der Zentralgewalt geführt und Deutschland
politisch lange schwer geschädigt; anderseits hat sie aber auch durch die größere
Bewegungsfreiheit und Selbständigkeit der Glieder die unvergleichliche Viel¬
gestaltigkeit und den Reichtum des deutschen Kulturlebens wesentlich mitver¬
ursacht.

Mit jener Taineschen Unterscheidung könnte man den Gegensatz antik-
mittelmeerländischer und germanisch-nordeuropäischer Kulturform wenigstens auf
staatlich-rechtlichem Gebiet und damit wenigstens für ein Hauptgebiet der kulturellen
Betätigung — Herder nennt einmal den Staat das höchste Kunstwerk des
menschlichen Geistes — noch etwas allgemeiner dahin zusammenfassen: die Antike
hat die Idee einer Organisation des in Familie und Stamm ursprünglich trieb¬
haft gegebenen Zusammenlebens unter eine zentrale Staatsgewalt, der die
einzelnen nur Mittel zum Zweck sind, gebracht; die germanisch bestimmte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/251>, abgerufen am 01.07.2024.