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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Aulturxroblem

er wünscht kurze Angaben, Anekdoten, Schilderungen, Namen, Begebnisse,
Charaktere. Er bittet Freunde um derlei, aber alle sind taub und er muß
"erfinden" und alle möglichen Einfälle verwenden und schämt sich selbst, daß
er den Leser "betrügt". Er hat diese seine Lügenhaftigkeit in HIestakow
gebrandmarkt -- er selbst istHlestakow -- der große Abenteurer im "Revisor",
den die Leute für den wahren Revisor halten. . . . Und Gogol nimmt es
den Leuten zuliebe auf sich, den Revisor zu spielen: aber die "Lügenhaftigkeit"
Gogols ist nichts anderes als schöpferische Genialität. In einem ganz anderen
Sinne hob Wengerow hervor, das Gogol das Volk, d. h. den "Muschik" nicht
kannte. Erwähnen muß ich, daß Ovsjaniko-Kulikowskij noch viel entschiedener
behauptet, daß auch in Tolstois Werken nicht die Psyche des Volkes, sondern die
der Herren gezeichnet ist. Tolstoi ist ihm ein "Herr" und denkt und fühlt wie
ein "Herr". Und bekannt ist, daß man es Turgenjew schon zu Lebzeiten ver¬
dacht hat, daß er über Rußland schrieb, ohne es zu kennen, da er im Westen
lebte.

So bleibt uns einzig Dostojewski als Dolmetsch des russischen Volkes, als
sein großer Psycholog. "Ich wiederhole", sagt Dostojewski: "richtet das russische
Volk nicht nach jenen Schlechtigkeiten, die es so oft begeht, sondern nach jenen
großen und heiligen Dingen, wonach es in seiner Verderbtheit lechzt. Und
wisset, daß nicht alle im Volk Nichtswürdige sind, sondern daß es in ihni geradezu
Heilige gibt, die allen voranleuchten und den Weg weisen." -- Solch ein
Heiliger und Lichtträger ist Dostojewski selbst.

Und nun hören wir, was der große russische Schriftsteller, mit der Feierlichkeit
eines Bekenners vom russischen Charakter sagt:

"Im russischen Menschen aus dem gemeinen Volk muß man die Schönheit
von dem Anwurf der Barbarei zu unterscheiden verstehen. Der russischen
Geschichte nach war unser Volk so sehr dem Laster ergeben und in solchem
Grade verdorben, verwirrt und gequält, daß es ein Wunder ist, wie es über¬
haupt noch bis heute sein menschliches Aussehen bewahrt hat und nicht nur
das, sondern auch die ihm eigene Schönheit. Die aber hat es wahrhaftig be¬
wahrt. ... Es gibt in unserem Volk keinen Schurken oder Verbrecher, der
nicht wüßte, daß er niedrig und gemein ist, während es bei andern Völkern
vorkommt, daß ein Schurke seine Gemeinheit zum Prinzip erhebt, sich selbst
dafür lobt und behauptet, daß in ihr die Ordnung und das Licht der Zivili¬
sation liegt, und die Unglücklichen glauben dies schließlich aufrichtig, blind, ja
mit Ehrlichkeit. Nein. Beurteile unser Volk nicht danach, wie es ist. sondern
danach, wie es zu sein wünscht. Und seine Ideale sind heilig und stark, und
sie retteten das Volk in Jahrhunderten der Qual; sie sind mit seiner Seele
von Urzeiten her verwachsen und gaben ihr für alle Zeiten Einfachheit und
Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und einem weiten, allem zugänglichen Verstand -- und
dies alles in der innigsten und aufs Schönste zusammenklingenden Verbindung."

Diesem Volke schreibt Dostojewski eine Weltmisfion zu:


Das slawische Aulturxroblem

er wünscht kurze Angaben, Anekdoten, Schilderungen, Namen, Begebnisse,
Charaktere. Er bittet Freunde um derlei, aber alle sind taub und er muß
„erfinden" und alle möglichen Einfälle verwenden und schämt sich selbst, daß
er den Leser „betrügt". Er hat diese seine Lügenhaftigkeit in HIestakow
gebrandmarkt — er selbst istHlestakow — der große Abenteurer im „Revisor",
den die Leute für den wahren Revisor halten. . . . Und Gogol nimmt es
den Leuten zuliebe auf sich, den Revisor zu spielen: aber die „Lügenhaftigkeit"
Gogols ist nichts anderes als schöpferische Genialität. In einem ganz anderen
Sinne hob Wengerow hervor, das Gogol das Volk, d. h. den „Muschik" nicht
kannte. Erwähnen muß ich, daß Ovsjaniko-Kulikowskij noch viel entschiedener
behauptet, daß auch in Tolstois Werken nicht die Psyche des Volkes, sondern die
der Herren gezeichnet ist. Tolstoi ist ihm ein „Herr" und denkt und fühlt wie
ein „Herr". Und bekannt ist, daß man es Turgenjew schon zu Lebzeiten ver¬
dacht hat, daß er über Rußland schrieb, ohne es zu kennen, da er im Westen
lebte.

So bleibt uns einzig Dostojewski als Dolmetsch des russischen Volkes, als
sein großer Psycholog. „Ich wiederhole", sagt Dostojewski: „richtet das russische
Volk nicht nach jenen Schlechtigkeiten, die es so oft begeht, sondern nach jenen
großen und heiligen Dingen, wonach es in seiner Verderbtheit lechzt. Und
wisset, daß nicht alle im Volk Nichtswürdige sind, sondern daß es in ihni geradezu
Heilige gibt, die allen voranleuchten und den Weg weisen." — Solch ein
Heiliger und Lichtträger ist Dostojewski selbst.

Und nun hören wir, was der große russische Schriftsteller, mit der Feierlichkeit
eines Bekenners vom russischen Charakter sagt:

„Im russischen Menschen aus dem gemeinen Volk muß man die Schönheit
von dem Anwurf der Barbarei zu unterscheiden verstehen. Der russischen
Geschichte nach war unser Volk so sehr dem Laster ergeben und in solchem
Grade verdorben, verwirrt und gequält, daß es ein Wunder ist, wie es über¬
haupt noch bis heute sein menschliches Aussehen bewahrt hat und nicht nur
das, sondern auch die ihm eigene Schönheit. Die aber hat es wahrhaftig be¬
wahrt. ... Es gibt in unserem Volk keinen Schurken oder Verbrecher, der
nicht wüßte, daß er niedrig und gemein ist, während es bei andern Völkern
vorkommt, daß ein Schurke seine Gemeinheit zum Prinzip erhebt, sich selbst
dafür lobt und behauptet, daß in ihr die Ordnung und das Licht der Zivili¬
sation liegt, und die Unglücklichen glauben dies schließlich aufrichtig, blind, ja
mit Ehrlichkeit. Nein. Beurteile unser Volk nicht danach, wie es ist. sondern
danach, wie es zu sein wünscht. Und seine Ideale sind heilig und stark, und
sie retteten das Volk in Jahrhunderten der Qual; sie sind mit seiner Seele
von Urzeiten her verwachsen und gaben ihr für alle Zeiten Einfachheit und
Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und einem weiten, allem zugänglichen Verstand — und
dies alles in der innigsten und aufs Schönste zusammenklingenden Verbindung."

Diesem Volke schreibt Dostojewski eine Weltmisfion zu:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/99>, abgerufen am 02.07.2024.