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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Klütui Problem

1911 vollkommen durchgeführt wurde, ist der Anfang einer neuen politischen
Ära des russischen Mannes aus dem Volke. Heute sind die Folgen dieser
großen Reform noch nicht fühlbar, der russische Bauer ist noch nicht so weit,
sich in dieser neuen Lage der persönlichen Selbständigkeit zurechtzufinden oder gar
schon seinem politischen und sozialen Willen Ausdruck zu geben. Von einer
Konstitution kann aber keine Rede sein, solange der russische Muschik nicht zu
einem tüchtigen Ökonomen und Bürger herangereift ist. In Nußland redet
man von der "ersten", "zweiten", "dritten" Duma, während in Europa niemand
von einem ersten, zweiten, dritten . . . Parlamente spricht, sondern vom
Parlament schlechthin. Jene zahlenmäßige Bezeichnung bedeutet aber, daß es
sich hier immer um eine neue Auflage ein und derselben Duma handelte, die
zuerst völlig konstitutionell war, dann von der Regierung immer mehr beschnitten
wurde, bis nur ein Schatten des Schattens von ihr übrig war. Diesem
die Duma von der Duma der Duma entspricht die ganze Gliederung des
russischen Volkes der Gegenwart. Die russische Intelligenz ist ungefähr
ebenso berechtigt, die russische Nation zu repräsentieren, wie die vierte
Duma die erste repräsentiert, mit anderen Worten, die russische Intelligenz
kann im Namen der Nation zu uns sprechen, wir aber können ihre Worte
nur als Nachricht aus dritter Hand auffassen, die zwar nicht verfälscht,
aber doch durch die Entfernung verändert ist. Auch das. was die großen
russischen Realisten über ihr Volk schreiben, kann nur als ein Glauben und
Ahnen auf ziemlich große Distanz Geltung haben. Der Dichter trägt seine
Welt in sich und projiziert sie ins Volk. Jene "Philosophie" der großen
russischen Romanschriftsteller entspricht einer Tendenz, einer Illusion, sie ist
keine exakte, sondern eine intuitive Erkenntnis des Volkes. Der russische
Realismus grenzt an Sehertum und Mysüzismus. Europa war noch nicht
imstande, die sachliche Grundlage dieser Dichtung mit den Tatsachen des
russischen Lebens zu vergleichen, es ließ sich von der "psychologischen Treue"
faszinieren. In Wirklichkeit steht es folgendermaßen: an Stelle der realen
Wahrheit finden wir beim russischen Schriftsteller eine realistische Tendenz, eine
reale ethische Erbitterung, daher die scharfe Psychologie und der Kritizismus,
die das Geschaffene bis zur äußersten Wahrscheinlichkeit wahr erscheinen lassen.
Die europäische Kritik hat die Naht nicht gesehen, wo die Fabel des russischen
Romans zusammengenäht ist.

Dies glaubte ich, ehe günstige Umstände mich nach Rußland führten,
aber es war nur mehr oder weniger blasse Theorie, die auf meinen Anschauungen
vom poetischen Schaffen im allgemeinen begründet war und nicht speziell von
der russischen Literatur. Aber als ich über die "Grenze" kam, sah ich immer
deutlicher das Künstliche im russischen Realismus, erkannte ich immer mehr,
wie sehr das Kunstwerk über dem Leben schwebt.

Beweise hierfür hat man auch in der Privatkorrespondenz Gogols. Er
beklagt sich öfter, daß ihm niemand Material aus dem russischen Leben schicke,


Das slawische Klütui Problem

1911 vollkommen durchgeführt wurde, ist der Anfang einer neuen politischen
Ära des russischen Mannes aus dem Volke. Heute sind die Folgen dieser
großen Reform noch nicht fühlbar, der russische Bauer ist noch nicht so weit,
sich in dieser neuen Lage der persönlichen Selbständigkeit zurechtzufinden oder gar
schon seinem politischen und sozialen Willen Ausdruck zu geben. Von einer
Konstitution kann aber keine Rede sein, solange der russische Muschik nicht zu
einem tüchtigen Ökonomen und Bürger herangereift ist. In Nußland redet
man von der „ersten", „zweiten", „dritten" Duma, während in Europa niemand
von einem ersten, zweiten, dritten . . . Parlamente spricht, sondern vom
Parlament schlechthin. Jene zahlenmäßige Bezeichnung bedeutet aber, daß es
sich hier immer um eine neue Auflage ein und derselben Duma handelte, die
zuerst völlig konstitutionell war, dann von der Regierung immer mehr beschnitten
wurde, bis nur ein Schatten des Schattens von ihr übrig war. Diesem
die Duma von der Duma der Duma entspricht die ganze Gliederung des
russischen Volkes der Gegenwart. Die russische Intelligenz ist ungefähr
ebenso berechtigt, die russische Nation zu repräsentieren, wie die vierte
Duma die erste repräsentiert, mit anderen Worten, die russische Intelligenz
kann im Namen der Nation zu uns sprechen, wir aber können ihre Worte
nur als Nachricht aus dritter Hand auffassen, die zwar nicht verfälscht,
aber doch durch die Entfernung verändert ist. Auch das. was die großen
russischen Realisten über ihr Volk schreiben, kann nur als ein Glauben und
Ahnen auf ziemlich große Distanz Geltung haben. Der Dichter trägt seine
Welt in sich und projiziert sie ins Volk. Jene „Philosophie" der großen
russischen Romanschriftsteller entspricht einer Tendenz, einer Illusion, sie ist
keine exakte, sondern eine intuitive Erkenntnis des Volkes. Der russische
Realismus grenzt an Sehertum und Mysüzismus. Europa war noch nicht
imstande, die sachliche Grundlage dieser Dichtung mit den Tatsachen des
russischen Lebens zu vergleichen, es ließ sich von der „psychologischen Treue"
faszinieren. In Wirklichkeit steht es folgendermaßen: an Stelle der realen
Wahrheit finden wir beim russischen Schriftsteller eine realistische Tendenz, eine
reale ethische Erbitterung, daher die scharfe Psychologie und der Kritizismus,
die das Geschaffene bis zur äußersten Wahrscheinlichkeit wahr erscheinen lassen.
Die europäische Kritik hat die Naht nicht gesehen, wo die Fabel des russischen
Romans zusammengenäht ist.

Dies glaubte ich, ehe günstige Umstände mich nach Rußland führten,
aber es war nur mehr oder weniger blasse Theorie, die auf meinen Anschauungen
vom poetischen Schaffen im allgemeinen begründet war und nicht speziell von
der russischen Literatur. Aber als ich über die „Grenze" kam, sah ich immer
deutlicher das Künstliche im russischen Realismus, erkannte ich immer mehr,
wie sehr das Kunstwerk über dem Leben schwebt.

Beweise hierfür hat man auch in der Privatkorrespondenz Gogols. Er
beklagt sich öfter, daß ihm niemand Material aus dem russischen Leben schicke,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/98>, abgerufen am 02.07.2024.