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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Kulturproblem

"Die russische Nation ist eine außergewöhnliche Erscheinung in der Geschichte
der ganzen Menschheit. Der Charakter des russischen Volkes ist den Charakteren
aller anderen europäischen Völker so unähnlich, daß die Europäer ihn bis heute
noch nicht verstehen; oder was noch schlimmer ist, sie verstehen alles in ihm
verkehrt. Die europäischen Völker streben alle demselben Ziele zu. . . . Aber
sie entzweien sich alle in ihren Interessen, die sich kreuzen und bis zur Unver-
söhnlichkeit ausschließen, daher gehen die Nationen immer mehr und mehr aus¬
einander. ... Die Idee der Allmenschheit schwindet bei ihnen ständig. . . .
Im Charakter der russischen Nation überwiegt die hohe synthetische Begabung,
die Begabung zur Universalität, zu Allmenschlichkeit. Dem russischen Menschen
fehlt die europäische Eckigkeit, Undurchdringlichkeit und Unnachgibigkeit. Er lebt
sich in alles ein, schmiegt sich allem an. Er fühlt überall, ohne Unterschied
der Nation, des Blutes oder des Landes das Menschliche. Er begreift und
billigt ohne Zaudern jede Vernünftigkeit in allem, worin sich wenn auch nur
etwas von allmenschlichem Interesse findet. In ihm lebt ein allmenschlicher
Instinkt. Mittels seiner errät er den allmenschlichen Zug selbst in den aller-
stärksten Gegensätzen anderer Völker, und bringt sie mit seiner Idee in Einklang,
und nicht selten findet er den Einigungs- und Versöhnungspunkt in völlig wider¬
sprechenden oder gegnerischen Ideen zweier verschiedener europäischer Nationen."

Diese Charakteristik ist so universell, daß sie alles unter sich faßt, was
man nur über den Charakter eines großen Volkes erdenken kann. In ihr
findet sich der Kosak mit der Nagajka und der Prediger Tolstoi mit dem
Evangelium; in ihr haben alle Pole der menschlichen Seele Platz. -- Eine
hohe Fähigkeit zur Synthese. Dostojewski selbst besaß sie; er verstand es, ein
Verbrechen als heiliges "Streben" darzustellen und die Heiligkeit als Wollust,
er verstand es, das russische Christentum und das tatarische Zarat in einer
Seele unterzubringen. Wie sind solche Paradoxe möglich? -- Hier die Lösung:
". . . Ich kämpfe mit meinen kleinen Gläubigern wie Laokoon mit den Schlangen,
ich brauche jetzt fünfzehn, nur fünfzehn Rubel. Diese fünfzehn Rubel werden
mir Ruhe verschaffen. Ich werde dann besser gestimmt und fähiger sein zu
schreiben." Hierin liegt das ganze Geheimnis der russischen Neigung zur
Synthese: Dostojewskis geistige Arbeit hängt von harten äußeren Bedingungen
ab. Auch das russische Volk mußte, um sich zu retten, sein heiligstes Sehnen
verbergen und peitscht seinen Körper mit derselben scharfen Knute, mit der es
sich Feinden gegenüber wehrt. Laokoon mit den Schlangen. Deshalb konnte
Dostojewski Tolstois Lehre nicht billigen. Als er einige Zeilen dieser Lehre gelesen
hatte, griff er sich verzweifelt an den Kopf und schrie leidenschaftlich: Nicht das, nur
nicht das! Einige Tage darauf war er tot und seine Lippen sagten uns nicht,
was ihn erregte. Aber es genügt, in den Werken Dostojewskis zu blättern. Sie
lehnten das Nazarenertum mit solcher Leidenschaft ab, daß es den Anschein hat,
als sei in ihnen Tolstoi prophetisch gezeichnet. In seinem letzten faustartigen
Roman, in den Brüdern Karamasow, löst Dostojewski die Antithese zwischen


Das slawische Kulturproblem

„Die russische Nation ist eine außergewöhnliche Erscheinung in der Geschichte
der ganzen Menschheit. Der Charakter des russischen Volkes ist den Charakteren
aller anderen europäischen Völker so unähnlich, daß die Europäer ihn bis heute
noch nicht verstehen; oder was noch schlimmer ist, sie verstehen alles in ihm
verkehrt. Die europäischen Völker streben alle demselben Ziele zu. . . . Aber
sie entzweien sich alle in ihren Interessen, die sich kreuzen und bis zur Unver-
söhnlichkeit ausschließen, daher gehen die Nationen immer mehr und mehr aus¬
einander. ... Die Idee der Allmenschheit schwindet bei ihnen ständig. . . .
Im Charakter der russischen Nation überwiegt die hohe synthetische Begabung,
die Begabung zur Universalität, zu Allmenschlichkeit. Dem russischen Menschen
fehlt die europäische Eckigkeit, Undurchdringlichkeit und Unnachgibigkeit. Er lebt
sich in alles ein, schmiegt sich allem an. Er fühlt überall, ohne Unterschied
der Nation, des Blutes oder des Landes das Menschliche. Er begreift und
billigt ohne Zaudern jede Vernünftigkeit in allem, worin sich wenn auch nur
etwas von allmenschlichem Interesse findet. In ihm lebt ein allmenschlicher
Instinkt. Mittels seiner errät er den allmenschlichen Zug selbst in den aller-
stärksten Gegensätzen anderer Völker, und bringt sie mit seiner Idee in Einklang,
und nicht selten findet er den Einigungs- und Versöhnungspunkt in völlig wider¬
sprechenden oder gegnerischen Ideen zweier verschiedener europäischer Nationen."

Diese Charakteristik ist so universell, daß sie alles unter sich faßt, was
man nur über den Charakter eines großen Volkes erdenken kann. In ihr
findet sich der Kosak mit der Nagajka und der Prediger Tolstoi mit dem
Evangelium; in ihr haben alle Pole der menschlichen Seele Platz. — Eine
hohe Fähigkeit zur Synthese. Dostojewski selbst besaß sie; er verstand es, ein
Verbrechen als heiliges „Streben" darzustellen und die Heiligkeit als Wollust,
er verstand es, das russische Christentum und das tatarische Zarat in einer
Seele unterzubringen. Wie sind solche Paradoxe möglich? — Hier die Lösung:
„. . . Ich kämpfe mit meinen kleinen Gläubigern wie Laokoon mit den Schlangen,
ich brauche jetzt fünfzehn, nur fünfzehn Rubel. Diese fünfzehn Rubel werden
mir Ruhe verschaffen. Ich werde dann besser gestimmt und fähiger sein zu
schreiben." Hierin liegt das ganze Geheimnis der russischen Neigung zur
Synthese: Dostojewskis geistige Arbeit hängt von harten äußeren Bedingungen
ab. Auch das russische Volk mußte, um sich zu retten, sein heiligstes Sehnen
verbergen und peitscht seinen Körper mit derselben scharfen Knute, mit der es
sich Feinden gegenüber wehrt. Laokoon mit den Schlangen. Deshalb konnte
Dostojewski Tolstois Lehre nicht billigen. Als er einige Zeilen dieser Lehre gelesen
hatte, griff er sich verzweifelt an den Kopf und schrie leidenschaftlich: Nicht das, nur
nicht das! Einige Tage darauf war er tot und seine Lippen sagten uns nicht,
was ihn erregte. Aber es genügt, in den Werken Dostojewskis zu blättern. Sie
lehnten das Nazarenertum mit solcher Leidenschaft ab, daß es den Anschein hat,
als sei in ihnen Tolstoi prophetisch gezeichnet. In seinem letzten faustartigen
Roman, in den Brüdern Karamasow, löst Dostojewski die Antithese zwischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/100>, abgerufen am 02.07.2024.