Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.Das slawische Kulturproblem von mehreren Familien unter der Verwaltung eines Ältesten. Im Mir Das slawische Kulturproblem von mehreren Familien unter der Verwaltung eines Ältesten. Im Mir <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0097" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329325"/> <fw type="header" place="top"> Das slawische Kulturproblem</fw><lb/> <p xml:id="ID_259" prev="#ID_258" next="#ID_260"> von mehreren Familien unter der Verwaltung eines Ältesten. Im Mir<lb/> sahen die Slawophilen Chomjakow und die Brüder Kirejewski sowie ihre<lb/> Jünger bis herab zu Pobedonoscew eine Bürgschaft für das Glück nicht nur<lb/> des russischen Volkes, sondern der ganzen Welt. Sie sahen im Mir das ver¬<lb/> wirklicht, was die Sozialdemokratie des Westens auf anderen Wegen vergebens<lb/> erstrebt. Der Mir war für sie ökonomischer Kommunismus und moralische<lb/> Bruderschaft, ein Unterpfand der Zukunft Rußlands, das Unterpfand dafür,<lb/> daß das russische Volk die soziale Frage in natürlicher Weise auf der Grund¬<lb/> lage von Gerechtigkeit und Liebe für die ganze Welt zu lösen berufen ist.<lb/> Von dieser Idee sehen wir die erleuchtetsten Geister Rußlands, wie z. B.<lb/> Dostojewski, ergriffen. Keine Lehre des Westens vermochte die Russen von<lb/> ihrem Irrtum zu überzeugen. Aber die Natur selbst focht dieses Trugbild an<lb/> und lenkte die Dinge auf den Weg der Vernunft und des Fortschritts. Dies<lb/> geschah auf ganz einfache Weise: in Rußland entstand — periodische Hungersnot.<lb/> Dieses Land, die Kornkammer von „ganz" Europa, hatte kein Rindchen Brot<lb/> für Millionen seiner fleißigen und redlichen Kinder. Man begriff nicht, wie die<lb/> Hungersnot in dem fruchtbaren Lande möglich war, das nicht entfernt so dicht<lb/> bevölkert ist als andere, unfruchtbare, menschenreiche und dennoch satte<lb/> europäische Staaten. Das hungrige russische Volk dachte, das Übel käme daher,<lb/> daß es nicht genug Land habe, es sprach davon, daß man es mit der Reform<lb/> von 1861, der Teilung der Grundstücke zwischen Herren und Bauern „betrogen"<lb/> habe, es begann den „darin" den Edelmann zu hassen, dem es noch Ab¬<lb/> lösungsgeld oder den „obrok" für den Boden zahlen mußte. Der wahre Grund<lb/> aber lag im Folgenden: der Mir oder die Gemeinde verlieh die Grundstücke<lb/> periodisch unter ihre Mitglieder nach altem Gewohnheitsrecht. Es kam nun<lb/> vor. daß hier und dort auf jeden Kopf in der Gemeinde nicht genügend Land<lb/> entfiel. Die Folge war — Hungersnot. Der Mir war autonom, er hatte<lb/> dieselben Rechte über seine Mitglieder, die ehemals der Grundbesitzer ausübte,<lb/> er hatte patrimoniale Gerichtsbarkeit, durfte sogar die Prügelstrafe und die<lb/> Verbannung nach Sibirien verhängen, er verteilte den Grund, trieb Steuern ein,<lb/> hielt die Kinder beisammen und griff auch nach denjenigen, die fliehen wollten,<lb/> da er das Recht hatte, Pässe zu verweigern. Immer deutlicher sah man in<lb/> den Neunziger Jahren ein, daß der Mir für das russische Volk moralisch und<lb/> materiell gefährlich sei. Mißernten und Hungersnot schlugen das Volk von<lb/> 1891 bis 1907 und noch 1911. Ich will den Leser nicht in all dieses<lb/> agrarische Elend einführen, in all diese Reformprobleme, Versuche, Reaktionen,<lb/> die viele Kapitel der neueren russischen Geschichte füllen, sondern nur hervor¬<lb/> heben, daß all dies zur Revolution des Jahres 1905 führte, die die russische<lb/> Regierung zu Maßnahmen veranlaßte, zu denen sie sich schon 1861 und noch<lb/> viel früher hätte entschließen sollen. Im Jahr 1906 löste die russische Re¬<lb/> gierung den Mir teilweise auf, schuf neue individuelle Bauernwirtschaften und<lb/> erkannte den Bauern alle bürgerlichen Rechte zu. Diese Reform, die erst von</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0097]
Das slawische Kulturproblem
von mehreren Familien unter der Verwaltung eines Ältesten. Im Mir
sahen die Slawophilen Chomjakow und die Brüder Kirejewski sowie ihre
Jünger bis herab zu Pobedonoscew eine Bürgschaft für das Glück nicht nur
des russischen Volkes, sondern der ganzen Welt. Sie sahen im Mir das ver¬
wirklicht, was die Sozialdemokratie des Westens auf anderen Wegen vergebens
erstrebt. Der Mir war für sie ökonomischer Kommunismus und moralische
Bruderschaft, ein Unterpfand der Zukunft Rußlands, das Unterpfand dafür,
daß das russische Volk die soziale Frage in natürlicher Weise auf der Grund¬
lage von Gerechtigkeit und Liebe für die ganze Welt zu lösen berufen ist.
Von dieser Idee sehen wir die erleuchtetsten Geister Rußlands, wie z. B.
Dostojewski, ergriffen. Keine Lehre des Westens vermochte die Russen von
ihrem Irrtum zu überzeugen. Aber die Natur selbst focht dieses Trugbild an
und lenkte die Dinge auf den Weg der Vernunft und des Fortschritts. Dies
geschah auf ganz einfache Weise: in Rußland entstand — periodische Hungersnot.
Dieses Land, die Kornkammer von „ganz" Europa, hatte kein Rindchen Brot
für Millionen seiner fleißigen und redlichen Kinder. Man begriff nicht, wie die
Hungersnot in dem fruchtbaren Lande möglich war, das nicht entfernt so dicht
bevölkert ist als andere, unfruchtbare, menschenreiche und dennoch satte
europäische Staaten. Das hungrige russische Volk dachte, das Übel käme daher,
daß es nicht genug Land habe, es sprach davon, daß man es mit der Reform
von 1861, der Teilung der Grundstücke zwischen Herren und Bauern „betrogen"
habe, es begann den „darin" den Edelmann zu hassen, dem es noch Ab¬
lösungsgeld oder den „obrok" für den Boden zahlen mußte. Der wahre Grund
aber lag im Folgenden: der Mir oder die Gemeinde verlieh die Grundstücke
periodisch unter ihre Mitglieder nach altem Gewohnheitsrecht. Es kam nun
vor. daß hier und dort auf jeden Kopf in der Gemeinde nicht genügend Land
entfiel. Die Folge war — Hungersnot. Der Mir war autonom, er hatte
dieselben Rechte über seine Mitglieder, die ehemals der Grundbesitzer ausübte,
er hatte patrimoniale Gerichtsbarkeit, durfte sogar die Prügelstrafe und die
Verbannung nach Sibirien verhängen, er verteilte den Grund, trieb Steuern ein,
hielt die Kinder beisammen und griff auch nach denjenigen, die fliehen wollten,
da er das Recht hatte, Pässe zu verweigern. Immer deutlicher sah man in
den Neunziger Jahren ein, daß der Mir für das russische Volk moralisch und
materiell gefährlich sei. Mißernten und Hungersnot schlugen das Volk von
1891 bis 1907 und noch 1911. Ich will den Leser nicht in all dieses
agrarische Elend einführen, in all diese Reformprobleme, Versuche, Reaktionen,
die viele Kapitel der neueren russischen Geschichte füllen, sondern nur hervor¬
heben, daß all dies zur Revolution des Jahres 1905 führte, die die russische
Regierung zu Maßnahmen veranlaßte, zu denen sie sich schon 1861 und noch
viel früher hätte entschließen sollen. Im Jahr 1906 löste die russische Re¬
gierung den Mir teilweise auf, schuf neue individuelle Bauernwirtschaften und
erkannte den Bauern alle bürgerlichen Rechte zu. Diese Reform, die erst von
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