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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Einigung Europas durch den Geist

28. August 1831 samt einem Siegel mit dem Wahlspruch: "Ohne Hast -- aber
ohne Rast" zum Geburtstage überreichten. Goethe erwiderte diese Ehrung
durch das Gedicht:

Den fünfzehn englischen Freunden
Worte, die der Dichter spricht,
Treu in heimischen Bezirken,
Wirken gleich, doch weiß er nicht,
Ob sie in die Ferne wirken. Briten I Habt sie aufgefaßt!
"Tätigen Sinn! Das Tun gezügelt;
stetig Streben, ohne Hast."
Und so wollt ihr es besiegelt.

Ja, man kann sagen, daß man schließlich jenseits des Kanals von der
durch Goethe geförderten geistigen Annäherung der Völker viel mehr erwartete
als Goethe selber. Glaubt sich doch Carlyle zu der Prophezeiung berechtigt ^
"Es mögen nur Völker gleich Individuen einander kennen lernen, so wird der
wechselseitige Haß wechselseitigen Helfen das Feld räumen, und statt natürlicher
Feinde, wie man bisweilen Nachbarländer nennt, werden wir alle natürliche
Freunde werden." Das folgende aber hat auf uns Deutsche von 1914 fast
die Wirkung von Hohn und Spott: "Überhaupt werden Britannien und Deutsch¬
land einander nicht immer fremd bleiben, vielmehr werden sie wie zwei
Schwestern, die lange durch Entfernung und böse Zungen geschieden waren,
einander voll Liebe begegnen und finden, daß sie derselben Herkunft sind."

Am 22. März 1832, kurz nach jener Huldigung der fünfzehn englischen
"Philogermanen", ist Goethe gestorben. Aber seine Gedanken sind das Erbe
des deutschen Idealismus geblieben. Immer und immer wieder hat man von
einer deutsch-englischen Verständigung gesprochen, immer und immer wieder hat
man gehofft, daß die fortgesetzt steigende geistige Kultur und wechselseitiger
geistiger Austausch das ihrige dazu beitragen würden, um politische und wirt¬
schaftliche Gegensätze zwischen den Völkern auszugleichen. Kein Volk ist von
jeher so bereit gewesen, fremde Geisteskultur in sich aufzunehmen, als das
deutsche. Von keines Volkes geistigen Errungenschaften hat die übrige Welt
aber auch so stark gezehrt wie von denen des deutschen.

Und doch -- wozu hat das alles geführt? Hat der literarische Austausch
zwischen England und Deutschland heute Früchte getragen? Haben die gegen¬
seitigen Pressebesuche, haben die immer aufs neue gegründeten Gesellschaften
und Komitees, die die deutsch-englische Freundschaft pflegen sollten, etwas
genützt? Wie danken es uns die Künstler und Schriftsteller fremder Nationen,
denen wir bereitwillig bei uns Boden gewährten für ihre Werke? Ein Gorki,
ein Hodler, ein Jacques Dalcroze beschimpften uns als Barbaren! England
aber hetzt die Welt gegen uns auf, in seinem Solde marschieren die Völker der
Welt gegen uns.


Die Einigung Europas durch den Geist

28. August 1831 samt einem Siegel mit dem Wahlspruch: „Ohne Hast — aber
ohne Rast" zum Geburtstage überreichten. Goethe erwiderte diese Ehrung
durch das Gedicht:

Den fünfzehn englischen Freunden
Worte, die der Dichter spricht,
Treu in heimischen Bezirken,
Wirken gleich, doch weiß er nicht,
Ob sie in die Ferne wirken. Briten I Habt sie aufgefaßt!
„Tätigen Sinn! Das Tun gezügelt;
stetig Streben, ohne Hast."
Und so wollt ihr es besiegelt.

Ja, man kann sagen, daß man schließlich jenseits des Kanals von der
durch Goethe geförderten geistigen Annäherung der Völker viel mehr erwartete
als Goethe selber. Glaubt sich doch Carlyle zu der Prophezeiung berechtigt ^
„Es mögen nur Völker gleich Individuen einander kennen lernen, so wird der
wechselseitige Haß wechselseitigen Helfen das Feld räumen, und statt natürlicher
Feinde, wie man bisweilen Nachbarländer nennt, werden wir alle natürliche
Freunde werden." Das folgende aber hat auf uns Deutsche von 1914 fast
die Wirkung von Hohn und Spott: „Überhaupt werden Britannien und Deutsch¬
land einander nicht immer fremd bleiben, vielmehr werden sie wie zwei
Schwestern, die lange durch Entfernung und böse Zungen geschieden waren,
einander voll Liebe begegnen und finden, daß sie derselben Herkunft sind."

Am 22. März 1832, kurz nach jener Huldigung der fünfzehn englischen
„Philogermanen", ist Goethe gestorben. Aber seine Gedanken sind das Erbe
des deutschen Idealismus geblieben. Immer und immer wieder hat man von
einer deutsch-englischen Verständigung gesprochen, immer und immer wieder hat
man gehofft, daß die fortgesetzt steigende geistige Kultur und wechselseitiger
geistiger Austausch das ihrige dazu beitragen würden, um politische und wirt¬
schaftliche Gegensätze zwischen den Völkern auszugleichen. Kein Volk ist von
jeher so bereit gewesen, fremde Geisteskultur in sich aufzunehmen, als das
deutsche. Von keines Volkes geistigen Errungenschaften hat die übrige Welt
aber auch so stark gezehrt wie von denen des deutschen.

Und doch — wozu hat das alles geführt? Hat der literarische Austausch
zwischen England und Deutschland heute Früchte getragen? Haben die gegen¬
seitigen Pressebesuche, haben die immer aufs neue gegründeten Gesellschaften
und Komitees, die die deutsch-englische Freundschaft pflegen sollten, etwas
genützt? Wie danken es uns die Künstler und Schriftsteller fremder Nationen,
denen wir bereitwillig bei uns Boden gewährten für ihre Werke? Ein Gorki,
ein Hodler, ein Jacques Dalcroze beschimpften uns als Barbaren! England
aber hetzt die Welt gegen uns auf, in seinem Solde marschieren die Völker der
Welt gegen uns.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/94>, abgerufen am 02.07.2024.