Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
von den Deutschen

er durchforscht die Literatur, durchdenkt Sitten und Gebräuche des fremden
Landes. Er gelangt zum Ziel -- die Erfassung des fremden Wesens -- ver¬
möge eines psychischen Vorganges, den man als "Einfühlung" zu bezeichnen
pflegt, d. h. er sucht das Objekt, dem er sich hingegeben hat, mit seinem ganzen
Ich zu durchdringen. Es ist natürlich, daß er damit Gefahr läuft, seine ganze
Persönlichkeit an das ihr ursprünglich Fremdartige zu verlieren, indem er in die
Lage eines Schauspielers kommt, der sich so sehr in seine Rolle einlebt, daß er
sein reales Ich darüber vergißt. Im allgemeinen kann man bei den Ausland¬
deutschen die Beobachtung machen, daß sie ihre Nationalität um so weniger
aufgeben, je bewußter sie leben, d. h. je mehr sie imstande sind, sich über ihr
eigenes Erleben, über die Wurzeln ihrer eigenen Kultur Rechenschaft abzulegen.
Die Vertreter "geistiger" Berufe neigen daher weniger dazu als z. B. Kaufleute.
Diese sind in ihrem Deutschtum naturgemäß auch noch durch ein materielles
Moment bedroht: sie verlassen die alte Heimat jung und arm, kommen im
Auslande dank ihres Fleißes zu Wohlstand und verlieren im Genusse materieller
Güter mehr oder weniger den Maßstab und den Sinn für das Ideelle. Es
kommt hinzu, daß der deutsche Nationalcharakter nicht einheitlich und daher
schwer auf eine Formel zu bringen ist, auch wegen seiner starken Inner¬
lichkeit überhaupt schwer greifbar ist. Der Organismus unseres Reiches mit
seinen vielen Staaten von ausgeprägter Eigenart spiegelt die Schwierigkeit,
die gemeinsamen Züge "des Deutschen" zu erkennen. Aus der bayerischen
derben Urwüchsigkeit und der verschlossenen, zurückhaltender Art der Norddeutschen,
läßt sich kaum die mittlere Proportionale ziehen: so schwankt das Bild im Geiste
des Außenstehenden. Ihm fehlt der klare Umriß für den Vergleich mit dem
Fremden. Der Reichtum individueller Mannigfaltigkeit, der aller unserer
"Uniform" zum Trotz besteht, ist für den steuerlosen Geist eine Wirrnis, in der er
sich nicht zurechtfindet und daher leicht in die einheitlichere Form fremder Völker
hinübergleitet. Bei ihnen findet er mit geringer Schwierigkeit die Prägung für das
praktische Leben. Wie einfach erscheint dem deutschen Nationalcharakter gegenüber
z. B. der russische. Der Russe hat ein Wort, das wir nicht kennen und das
sein Wesen treffend wiedergibt, es heißt in wörtlicher Übersetzung: "Seelen¬
einfachheit." Im Gegensatz zum Deutschen gleicht der Russe einem Instrument
mit wenigen Saiten, daher ist ihm deutsche Art verschlossen -- sie findet keinen
Widerhall. Können wir uns darüber wundern, wenn wir uns selbst so oft
ein Rätsel sind? Der neue Krieg wird hoffentlich nicht nur uns, fondern auch
den anderen Nationen Klarheit über uns verschaffen, aber auch Klarheit über
die anderen, mit denen wir in Fehde liegen. Schon heute sehen wir List und
Tücke, die Kennzeichen der Sklavennatur, wo wir an menschliche Größe und
Vornehmheit zu glauben bereit waren, und tierische Rohheit, wo Gutmütigkeit
und Weichheit auf das Panier erhoben wird. Der Krieg ist Selbstoffenbarung,
sagten wir.




von den Deutschen

er durchforscht die Literatur, durchdenkt Sitten und Gebräuche des fremden
Landes. Er gelangt zum Ziel — die Erfassung des fremden Wesens — ver¬
möge eines psychischen Vorganges, den man als „Einfühlung" zu bezeichnen
pflegt, d. h. er sucht das Objekt, dem er sich hingegeben hat, mit seinem ganzen
Ich zu durchdringen. Es ist natürlich, daß er damit Gefahr läuft, seine ganze
Persönlichkeit an das ihr ursprünglich Fremdartige zu verlieren, indem er in die
Lage eines Schauspielers kommt, der sich so sehr in seine Rolle einlebt, daß er
sein reales Ich darüber vergißt. Im allgemeinen kann man bei den Ausland¬
deutschen die Beobachtung machen, daß sie ihre Nationalität um so weniger
aufgeben, je bewußter sie leben, d. h. je mehr sie imstande sind, sich über ihr
eigenes Erleben, über die Wurzeln ihrer eigenen Kultur Rechenschaft abzulegen.
Die Vertreter „geistiger" Berufe neigen daher weniger dazu als z. B. Kaufleute.
Diese sind in ihrem Deutschtum naturgemäß auch noch durch ein materielles
Moment bedroht: sie verlassen die alte Heimat jung und arm, kommen im
Auslande dank ihres Fleißes zu Wohlstand und verlieren im Genusse materieller
Güter mehr oder weniger den Maßstab und den Sinn für das Ideelle. Es
kommt hinzu, daß der deutsche Nationalcharakter nicht einheitlich und daher
schwer auf eine Formel zu bringen ist, auch wegen seiner starken Inner¬
lichkeit überhaupt schwer greifbar ist. Der Organismus unseres Reiches mit
seinen vielen Staaten von ausgeprägter Eigenart spiegelt die Schwierigkeit,
die gemeinsamen Züge „des Deutschen" zu erkennen. Aus der bayerischen
derben Urwüchsigkeit und der verschlossenen, zurückhaltender Art der Norddeutschen,
läßt sich kaum die mittlere Proportionale ziehen: so schwankt das Bild im Geiste
des Außenstehenden. Ihm fehlt der klare Umriß für den Vergleich mit dem
Fremden. Der Reichtum individueller Mannigfaltigkeit, der aller unserer
„Uniform" zum Trotz besteht, ist für den steuerlosen Geist eine Wirrnis, in der er
sich nicht zurechtfindet und daher leicht in die einheitlichere Form fremder Völker
hinübergleitet. Bei ihnen findet er mit geringer Schwierigkeit die Prägung für das
praktische Leben. Wie einfach erscheint dem deutschen Nationalcharakter gegenüber
z. B. der russische. Der Russe hat ein Wort, das wir nicht kennen und das
sein Wesen treffend wiedergibt, es heißt in wörtlicher Übersetzung: „Seelen¬
einfachheit." Im Gegensatz zum Deutschen gleicht der Russe einem Instrument
mit wenigen Saiten, daher ist ihm deutsche Art verschlossen — sie findet keinen
Widerhall. Können wir uns darüber wundern, wenn wir uns selbst so oft
ein Rätsel sind? Der neue Krieg wird hoffentlich nicht nur uns, fondern auch
den anderen Nationen Klarheit über uns verschaffen, aber auch Klarheit über
die anderen, mit denen wir in Fehde liegen. Schon heute sehen wir List und
Tücke, die Kennzeichen der Sklavennatur, wo wir an menschliche Größe und
Vornehmheit zu glauben bereit waren, und tierische Rohheit, wo Gutmütigkeit
und Weichheit auf das Panier erhoben wird. Der Krieg ist Selbstoffenbarung,
sagten wir.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329298"/>
          <fw type="header" place="top"> von den Deutschen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_161" prev="#ID_160"> er durchforscht die Literatur, durchdenkt Sitten und Gebräuche des fremden<lb/>
Landes. Er gelangt zum Ziel &#x2014; die Erfassung des fremden Wesens &#x2014; ver¬<lb/>
möge eines psychischen Vorganges, den man als &#x201E;Einfühlung" zu bezeichnen<lb/>
pflegt, d. h. er sucht das Objekt, dem er sich hingegeben hat, mit seinem ganzen<lb/>
Ich zu durchdringen. Es ist natürlich, daß er damit Gefahr läuft, seine ganze<lb/>
Persönlichkeit an das ihr ursprünglich Fremdartige zu verlieren, indem er in die<lb/>
Lage eines Schauspielers kommt, der sich so sehr in seine Rolle einlebt, daß er<lb/>
sein reales Ich darüber vergißt. Im allgemeinen kann man bei den Ausland¬<lb/>
deutschen die Beobachtung machen, daß sie ihre Nationalität um so weniger<lb/>
aufgeben, je bewußter sie leben, d. h. je mehr sie imstande sind, sich über ihr<lb/>
eigenes Erleben, über die Wurzeln ihrer eigenen Kultur Rechenschaft abzulegen.<lb/>
Die Vertreter &#x201E;geistiger" Berufe neigen daher weniger dazu als z. B. Kaufleute.<lb/>
Diese sind in ihrem Deutschtum naturgemäß auch noch durch ein materielles<lb/>
Moment bedroht: sie verlassen die alte Heimat jung und arm, kommen im<lb/>
Auslande dank ihres Fleißes zu Wohlstand und verlieren im Genusse materieller<lb/>
Güter mehr oder weniger den Maßstab und den Sinn für das Ideelle. Es<lb/>
kommt hinzu, daß der deutsche Nationalcharakter nicht einheitlich und daher<lb/>
schwer auf eine Formel zu bringen ist, auch wegen seiner starken Inner¬<lb/>
lichkeit überhaupt schwer greifbar ist. Der Organismus unseres Reiches mit<lb/>
seinen vielen Staaten von ausgeprägter Eigenart spiegelt die Schwierigkeit,<lb/>
die gemeinsamen Züge &#x201E;des Deutschen" zu erkennen. Aus der bayerischen<lb/>
derben Urwüchsigkeit und der verschlossenen, zurückhaltender Art der Norddeutschen,<lb/>
läßt sich kaum die mittlere Proportionale ziehen: so schwankt das Bild im Geiste<lb/>
des Außenstehenden. Ihm fehlt der klare Umriß für den Vergleich mit dem<lb/>
Fremden. Der Reichtum individueller Mannigfaltigkeit, der aller unserer<lb/>
&#x201E;Uniform" zum Trotz besteht, ist für den steuerlosen Geist eine Wirrnis, in der er<lb/>
sich nicht zurechtfindet und daher leicht in die einheitlichere Form fremder Völker<lb/>
hinübergleitet. Bei ihnen findet er mit geringer Schwierigkeit die Prägung für das<lb/>
praktische Leben. Wie einfach erscheint dem deutschen Nationalcharakter gegenüber<lb/>
z. B. der russische. Der Russe hat ein Wort, das wir nicht kennen und das<lb/>
sein Wesen treffend wiedergibt, es heißt in wörtlicher Übersetzung: &#x201E;Seelen¬<lb/>
einfachheit." Im Gegensatz zum Deutschen gleicht der Russe einem Instrument<lb/>
mit wenigen Saiten, daher ist ihm deutsche Art verschlossen &#x2014; sie findet keinen<lb/>
Widerhall. Können wir uns darüber wundern, wenn wir uns selbst so oft<lb/>
ein Rätsel sind? Der neue Krieg wird hoffentlich nicht nur uns, fondern auch<lb/>
den anderen Nationen Klarheit über uns verschaffen, aber auch Klarheit über<lb/>
die anderen, mit denen wir in Fehde liegen. Schon heute sehen wir List und<lb/>
Tücke, die Kennzeichen der Sklavennatur, wo wir an menschliche Größe und<lb/>
Vornehmheit zu glauben bereit waren, und tierische Rohheit, wo Gutmütigkeit<lb/>
und Weichheit auf das Panier erhoben wird. Der Krieg ist Selbstoffenbarung,<lb/>
sagten wir.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] von den Deutschen er durchforscht die Literatur, durchdenkt Sitten und Gebräuche des fremden Landes. Er gelangt zum Ziel — die Erfassung des fremden Wesens — ver¬ möge eines psychischen Vorganges, den man als „Einfühlung" zu bezeichnen pflegt, d. h. er sucht das Objekt, dem er sich hingegeben hat, mit seinem ganzen Ich zu durchdringen. Es ist natürlich, daß er damit Gefahr läuft, seine ganze Persönlichkeit an das ihr ursprünglich Fremdartige zu verlieren, indem er in die Lage eines Schauspielers kommt, der sich so sehr in seine Rolle einlebt, daß er sein reales Ich darüber vergißt. Im allgemeinen kann man bei den Ausland¬ deutschen die Beobachtung machen, daß sie ihre Nationalität um so weniger aufgeben, je bewußter sie leben, d. h. je mehr sie imstande sind, sich über ihr eigenes Erleben, über die Wurzeln ihrer eigenen Kultur Rechenschaft abzulegen. Die Vertreter „geistiger" Berufe neigen daher weniger dazu als z. B. Kaufleute. Diese sind in ihrem Deutschtum naturgemäß auch noch durch ein materielles Moment bedroht: sie verlassen die alte Heimat jung und arm, kommen im Auslande dank ihres Fleißes zu Wohlstand und verlieren im Genusse materieller Güter mehr oder weniger den Maßstab und den Sinn für das Ideelle. Es kommt hinzu, daß der deutsche Nationalcharakter nicht einheitlich und daher schwer auf eine Formel zu bringen ist, auch wegen seiner starken Inner¬ lichkeit überhaupt schwer greifbar ist. Der Organismus unseres Reiches mit seinen vielen Staaten von ausgeprägter Eigenart spiegelt die Schwierigkeit, die gemeinsamen Züge „des Deutschen" zu erkennen. Aus der bayerischen derben Urwüchsigkeit und der verschlossenen, zurückhaltender Art der Norddeutschen, läßt sich kaum die mittlere Proportionale ziehen: so schwankt das Bild im Geiste des Außenstehenden. Ihm fehlt der klare Umriß für den Vergleich mit dem Fremden. Der Reichtum individueller Mannigfaltigkeit, der aller unserer „Uniform" zum Trotz besteht, ist für den steuerlosen Geist eine Wirrnis, in der er sich nicht zurechtfindet und daher leicht in die einheitlichere Form fremder Völker hinübergleitet. Bei ihnen findet er mit geringer Schwierigkeit die Prägung für das praktische Leben. Wie einfach erscheint dem deutschen Nationalcharakter gegenüber z. B. der russische. Der Russe hat ein Wort, das wir nicht kennen und das sein Wesen treffend wiedergibt, es heißt in wörtlicher Übersetzung: „Seelen¬ einfachheit." Im Gegensatz zum Deutschen gleicht der Russe einem Instrument mit wenigen Saiten, daher ist ihm deutsche Art verschlossen — sie findet keinen Widerhall. Können wir uns darüber wundern, wenn wir uns selbst so oft ein Rätsel sind? Der neue Krieg wird hoffentlich nicht nur uns, fondern auch den anderen Nationen Klarheit über uns verschaffen, aber auch Klarheit über die anderen, mit denen wir in Fehde liegen. Schon heute sehen wir List und Tücke, die Kennzeichen der Sklavennatur, wo wir an menschliche Größe und Vornehmheit zu glauben bereit waren, und tierische Rohheit, wo Gutmütigkeit und Weichheit auf das Panier erhoben wird. Der Krieg ist Selbstoffenbarung, sagten wir.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/70>, abgerufen am 02.07.2024.