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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches

auch im Auslande dieses Ergebnis für einen Sieg napoleonischer Staatskunst,
für eine wahrhafte Befestigung napoleonischer Macht.

In der Tat vermag heute kein Mensch zu sagen, ob das zweite Kaiserreich
ohne die Katastrophe von 1870 nicht imstande gewesen wäre, sich zu halten.
Ein kräftiges Argument allerdings spricht gegen die Bejahung dieser Frage.
Der Manu, auf dessen so schwach gewordenen Schultern die ganze napoleonische
Tradition ruhte, der Emporgekommene, der nicht wie ein altlegitimer Herrscher
die Krone einfach auf seinen Sohn übertragen konnte, -- er war damals schon
ein dem Tode Geweihter. Wenige Wochen vor der Kriegserklärung hatten die
Ärzte bei Napoleon ein Steinleiden schwerer Art erkannt. Die französische
Armee erhielt, als sie gegen den Rhein zog, einen Oberfeldherrn, der sich nur
unter Qualen mehr im Sattel halten konnte. Welch ein Gegensatz zu dem um
elf Jahre älteren und noch so überaus rüstigen königlichen Führer der ver¬
einigten deutschen Heere! Körperlich und seelisch gebrochen ging Louis Napoleon
in den Feldzug wie in sein sicheres Verderben. Die hochtönenden, siegessicheren
Phrasen seiner Proklamationen waren seine letzten Lügen.

Schon diese trostlosen physischen Umstände scheinen ein Beweis, daß Louis
Napoleon den Krieg von 1870 nicht gewollt hat. Machte er doch solchen, die
ihm nahe standen, schon lange den Eindruck eines Herrschers, der, statt selbst
zu wollen und zu handeln, von den Ereignissen und von den Personen seiner
Umgebung geschoben wurde. Die große Masse der Zeitgenossen aber wußte
von all dem nichts. Sie hielt die französische Armee nach wie vor für die
bestorganisierte und bestgeführte, den Kaiser aber sür einen mächtigen und klugen
Mann, der nur losschlug, wenn er seiner Sache sicher war. Ihn gering zu
schätzen, fiel weder Freund noch Feind ein. Erst aus der traurigen Rolle, zu
der Napoleon in der ersten Phase des großen Krieges verurteilt war, entsprang
die niedere Wertung seiner Person, die eine Zeitlang Mode blieb. Die Nach¬
welt sollte dieses Urteil überprüfen und richtig stellen. Sie breitet auch über
das ruhmlose Ende des dritten Napoleon den Schleier menschlichen Mitgefühls.




Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches

auch im Auslande dieses Ergebnis für einen Sieg napoleonischer Staatskunst,
für eine wahrhafte Befestigung napoleonischer Macht.

In der Tat vermag heute kein Mensch zu sagen, ob das zweite Kaiserreich
ohne die Katastrophe von 1870 nicht imstande gewesen wäre, sich zu halten.
Ein kräftiges Argument allerdings spricht gegen die Bejahung dieser Frage.
Der Manu, auf dessen so schwach gewordenen Schultern die ganze napoleonische
Tradition ruhte, der Emporgekommene, der nicht wie ein altlegitimer Herrscher
die Krone einfach auf seinen Sohn übertragen konnte, — er war damals schon
ein dem Tode Geweihter. Wenige Wochen vor der Kriegserklärung hatten die
Ärzte bei Napoleon ein Steinleiden schwerer Art erkannt. Die französische
Armee erhielt, als sie gegen den Rhein zog, einen Oberfeldherrn, der sich nur
unter Qualen mehr im Sattel halten konnte. Welch ein Gegensatz zu dem um
elf Jahre älteren und noch so überaus rüstigen königlichen Führer der ver¬
einigten deutschen Heere! Körperlich und seelisch gebrochen ging Louis Napoleon
in den Feldzug wie in sein sicheres Verderben. Die hochtönenden, siegessicheren
Phrasen seiner Proklamationen waren seine letzten Lügen.

Schon diese trostlosen physischen Umstände scheinen ein Beweis, daß Louis
Napoleon den Krieg von 1870 nicht gewollt hat. Machte er doch solchen, die
ihm nahe standen, schon lange den Eindruck eines Herrschers, der, statt selbst
zu wollen und zu handeln, von den Ereignissen und von den Personen seiner
Umgebung geschoben wurde. Die große Masse der Zeitgenossen aber wußte
von all dem nichts. Sie hielt die französische Armee nach wie vor für die
bestorganisierte und bestgeführte, den Kaiser aber sür einen mächtigen und klugen
Mann, der nur losschlug, wenn er seiner Sache sicher war. Ihn gering zu
schätzen, fiel weder Freund noch Feind ein. Erst aus der traurigen Rolle, zu
der Napoleon in der ersten Phase des großen Krieges verurteilt war, entsprang
die niedere Wertung seiner Person, die eine Zeitlang Mode blieb. Die Nach¬
welt sollte dieses Urteil überprüfen und richtig stellen. Sie breitet auch über
das ruhmlose Ende des dritten Napoleon den Schleier menschlichen Mitgefühls.




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[0065] Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches auch im Auslande dieses Ergebnis für einen Sieg napoleonischer Staatskunst, für eine wahrhafte Befestigung napoleonischer Macht. In der Tat vermag heute kein Mensch zu sagen, ob das zweite Kaiserreich ohne die Katastrophe von 1870 nicht imstande gewesen wäre, sich zu halten. Ein kräftiges Argument allerdings spricht gegen die Bejahung dieser Frage. Der Manu, auf dessen so schwach gewordenen Schultern die ganze napoleonische Tradition ruhte, der Emporgekommene, der nicht wie ein altlegitimer Herrscher die Krone einfach auf seinen Sohn übertragen konnte, — er war damals schon ein dem Tode Geweihter. Wenige Wochen vor der Kriegserklärung hatten die Ärzte bei Napoleon ein Steinleiden schwerer Art erkannt. Die französische Armee erhielt, als sie gegen den Rhein zog, einen Oberfeldherrn, der sich nur unter Qualen mehr im Sattel halten konnte. Welch ein Gegensatz zu dem um elf Jahre älteren und noch so überaus rüstigen königlichen Führer der ver¬ einigten deutschen Heere! Körperlich und seelisch gebrochen ging Louis Napoleon in den Feldzug wie in sein sicheres Verderben. Die hochtönenden, siegessicheren Phrasen seiner Proklamationen waren seine letzten Lügen. Schon diese trostlosen physischen Umstände scheinen ein Beweis, daß Louis Napoleon den Krieg von 1870 nicht gewollt hat. Machte er doch solchen, die ihm nahe standen, schon lange den Eindruck eines Herrschers, der, statt selbst zu wollen und zu handeln, von den Ereignissen und von den Personen seiner Umgebung geschoben wurde. Die große Masse der Zeitgenossen aber wußte von all dem nichts. Sie hielt die französische Armee nach wie vor für die bestorganisierte und bestgeführte, den Kaiser aber sür einen mächtigen und klugen Mann, der nur losschlug, wenn er seiner Sache sicher war. Ihn gering zu schätzen, fiel weder Freund noch Feind ein. Erst aus der traurigen Rolle, zu der Napoleon in der ersten Phase des großen Krieges verurteilt war, entsprang die niedere Wertung seiner Person, die eine Zeitlang Mode blieb. Die Nach¬ welt sollte dieses Urteil überprüfen und richtig stellen. Sie breitet auch über das ruhmlose Ende des dritten Napoleon den Schleier menschlichen Mitgefühls.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/65>, abgerufen am 02.07.2024.