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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches

im August 1869, war für den Kaiser wie für die Armee ein schwerer Verlust.
Sein Nachfolger im Kriegsministerium zählt schon zu den tragischen Gestalten
eines neuen Frankreich, dem keine Siege mehr beschieden sein sollten. Es war
Leboeuf, der letzte von Napoleon dem Dritten ernannte Marschall, der Mann
des unseligen "pret aiLnipret", der vielleicht über Gebühr geschmähte General¬
stabschef in den vierundzwanzig ersten Tagen des großen Krieges. --

Frankreich hatte, fast unmittelbar, ehe es in den verhängnisvollsten all'
seiner Kriege zog, sein politisches Antlitz völlig geändert. Ein Verhängnis auch
dies schon; denn das Zusammentreffen von äußeren Verwicklungen mit noch
unkonsolidierten inneren Umgestaltungen birgt an sich eine Gefahr. Die Wahlen
in den gesetzgebenden Körper, Mai 1869, hatten ein Anwachsen der oppositio¬
nellen Stimmen von 810000 (im Jahre 1852) auf 3310000 gezeigt. Die ge¬
mäßigten Liberalen unter Emil Olliviers Führung hatten nun, zusammen mit
der republikanischen Linken die Mehrheit in der Kammer, die denn ohne Ver¬
zug eine der konstitutionellen Hauptgarantien, ein verantwortliches Ministerium,
begehrte. Der Kaiser zog daraus -- ein ungewohntes Schauspiel für die Welt
-- in völlig englisch-parlamentarischer Weise die Konsequenzen. Er entließ
Rouher und berief Ollivier, mit dem er übrigens seit langem schon freund¬
schaftlich verkehrte. Ob im ersten und letzten konstitutionellen Premier Frank¬
reichs mehr steckte als ein freisinniger Schönredner: das zu beurteilen ließ das
Schicksal nicht die Zeit. Gewiß aber verlor Napoleon in Eugen Rouher einen
höchst fähigen und treuen Minister, der freilich im Lande als der energische
Träger des autokratischen Systems verhaßt war*).

Mit dem Senatuskonsult vom 20. April 1870 wurden die Hauptzüge der
Verfassungsrevision festgelegt: Ministerverantwortlichkeit, Initiativrecht derKammer
zu Gesetzesvorschlägen, das Recht, Interpellationen zu stellen und Petitionen
anzunehmen. Es war sozusagen Louis Napoleons letzte Tat. daß er die seit
1860 vorgenommenen liberalen Reformen der Genehmigung der ganzen Nation
unterzog. Noch einmal lenkte ein Plebiszit, das vom 8. Mai 1870, die Augen
der Welt auf Frankreich. Wohl spottete man vielfach über diese Volks¬
abstimmung, da man zu wissen meinte, wie derlei gemacht werde. Aber trotz
der den Beamten anbefohlenen "verzehrenden Tätigkeit", und wenn auch aus
dem Heere allein 40000 Nein kamen, wenn in Paris und in fast allen großen
Städten die Nein überwogen, wenn diese 1530610 Nein nicht als ein Votum
gegen das liberale Kaiserreich, sondern gegen das Kaiserreich überhaupt aufzu¬
fassen waren: -- die 7 210296 Ja waren im großen und ganzen doch wohl
der wirkliche Ausdruck des nationalen Mehrheitswillens. So hielt man denn



*) Der obenerwähnte "^nZIsis a Paris" erzählt, daß am 4. September 1370 die
Erbitterung des Volks, zumal in der Provinz, gegen den vice-empereur noch weit heftiger
war als gegen den Kaiser selbst. Er war der Geschicktere bon beiden -- tobte das Volk --,
er hätte dem Kaiser nicht gestatten sollen, diesen Krieg zu beginnen; er hätte es mit einem
einzigen Worte verhindern können.
Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches

im August 1869, war für den Kaiser wie für die Armee ein schwerer Verlust.
Sein Nachfolger im Kriegsministerium zählt schon zu den tragischen Gestalten
eines neuen Frankreich, dem keine Siege mehr beschieden sein sollten. Es war
Leboeuf, der letzte von Napoleon dem Dritten ernannte Marschall, der Mann
des unseligen „pret aiLnipret", der vielleicht über Gebühr geschmähte General¬
stabschef in den vierundzwanzig ersten Tagen des großen Krieges. —

Frankreich hatte, fast unmittelbar, ehe es in den verhängnisvollsten all'
seiner Kriege zog, sein politisches Antlitz völlig geändert. Ein Verhängnis auch
dies schon; denn das Zusammentreffen von äußeren Verwicklungen mit noch
unkonsolidierten inneren Umgestaltungen birgt an sich eine Gefahr. Die Wahlen
in den gesetzgebenden Körper, Mai 1869, hatten ein Anwachsen der oppositio¬
nellen Stimmen von 810000 (im Jahre 1852) auf 3310000 gezeigt. Die ge¬
mäßigten Liberalen unter Emil Olliviers Führung hatten nun, zusammen mit
der republikanischen Linken die Mehrheit in der Kammer, die denn ohne Ver¬
zug eine der konstitutionellen Hauptgarantien, ein verantwortliches Ministerium,
begehrte. Der Kaiser zog daraus — ein ungewohntes Schauspiel für die Welt
— in völlig englisch-parlamentarischer Weise die Konsequenzen. Er entließ
Rouher und berief Ollivier, mit dem er übrigens seit langem schon freund¬
schaftlich verkehrte. Ob im ersten und letzten konstitutionellen Premier Frank¬
reichs mehr steckte als ein freisinniger Schönredner: das zu beurteilen ließ das
Schicksal nicht die Zeit. Gewiß aber verlor Napoleon in Eugen Rouher einen
höchst fähigen und treuen Minister, der freilich im Lande als der energische
Träger des autokratischen Systems verhaßt war*).

Mit dem Senatuskonsult vom 20. April 1870 wurden die Hauptzüge der
Verfassungsrevision festgelegt: Ministerverantwortlichkeit, Initiativrecht derKammer
zu Gesetzesvorschlägen, das Recht, Interpellationen zu stellen und Petitionen
anzunehmen. Es war sozusagen Louis Napoleons letzte Tat. daß er die seit
1860 vorgenommenen liberalen Reformen der Genehmigung der ganzen Nation
unterzog. Noch einmal lenkte ein Plebiszit, das vom 8. Mai 1870, die Augen
der Welt auf Frankreich. Wohl spottete man vielfach über diese Volks¬
abstimmung, da man zu wissen meinte, wie derlei gemacht werde. Aber trotz
der den Beamten anbefohlenen „verzehrenden Tätigkeit", und wenn auch aus
dem Heere allein 40000 Nein kamen, wenn in Paris und in fast allen großen
Städten die Nein überwogen, wenn diese 1530610 Nein nicht als ein Votum
gegen das liberale Kaiserreich, sondern gegen das Kaiserreich überhaupt aufzu¬
fassen waren: — die 7 210296 Ja waren im großen und ganzen doch wohl
der wirkliche Ausdruck des nationalen Mehrheitswillens. So hielt man denn



*) Der obenerwähnte „^nZIsis a Paris" erzählt, daß am 4. September 1370 die
Erbitterung des Volks, zumal in der Provinz, gegen den vice-empereur noch weit heftiger
war als gegen den Kaiser selbst. Er war der Geschicktere bon beiden — tobte das Volk —,
er hätte dem Kaiser nicht gestatten sollen, diesen Krieg zu beginnen; er hätte es mit einem
einzigen Worte verhindern können.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/64>, abgerufen am 02.07.2024.