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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches

ihrer unermüdlichen Eifersucht beehrte. So war es bei Persigny, Fleury, Morny,
Walewski, später bei Ollivier. So war es vor allem bei Eugöne Rouher.
Wir dürfen in dem hochbegabten und imponierender Auvergnaten die bedeutendste
staatsmännische Erscheinung des zweiten Kaiserreichs sehen. Scharfer Verstand
und mächtige Beredsamkeit, Arbeitskraft, Festigkeit im Wollen und Handeln
heben ihn hoch über alle anderen Minister Napoleons. Seine makellos reinen
Hände machen den mächtigen "Vizekaiser" fast zu einer vereinzelten Erscheinung
inmitten von so viel Selbstsucht und sittlicher Fäulnis.

Rouher war der entschiedene Gegner liberaler Nachgiebigkeit. Aber andere
Einflüsse gewannen beim Kaiser die Oberhand. Seit 1866 läßt sich das Ein¬
lenken in konstitutionelle Bahnen deutlichst konstatieren. Mit seinem Schreiben
vom 19. Januar 1867 versprach Napoleon das Jnterpellationsrecht der Kammer.
Reformen im Vereins-, Versammlungs- und Preßwesen, die denn auch wirklich
folgten. Vielleicht nur langsamer, als es gut gewesen wäre.

Zugleich arbeitete der Kaiser, freilich mit jener Unentschlossenheit, die immer
mehr ein Hauptzug seines Wesens wurde, an der Stärkung der Wehrmacht.
Er hatte schon vor 1859 die gezogenen Geschütze eingeführt; das Feldlager von
Chalons war seine Einrichtung. Im einzelnen geschah manches; im allgemeinen
nichts Durchgreifendes. Ein Blick auf die Streitkräfte, die dem norddeutschen
Bunde in einem künftigen Kriege zur Verfügung stehen mußten, schien zur Eile
zu mahnen. Aber die im November 1866 zu Compiegne begonnenen großen
Militärkonferenzen ergaben kein Resultat. Den Forderungen nach einer, natürlich
teuren Heeresreform traten immer wieder die Einwendungen der anderen Minister,
die Kritik der liberalen Opposition, am meisten vielleicht die Abneigung des
französischen Volkes gegen Militärzwang und allgemeine Wehrpflicht entgegen.
Der brave Randon, seit 1859 Kriegsminister, schien die Sache nicht weiterzu¬
bringen. Ihm folgte also im Januar 1867 Adolfe Niet, den wir den bedeu¬
tendsten Militär des zweiten Kaiserreichs nennen möchten. Vor Sebastopol hatte
zuletzt doch er die Entscheidung herbeigeführt; Marschall war er seit Solferino;
nun zählt er schon 65 Jahre: ein Herr von nicht angenehmem Wesen, aber
großer Tätigkeit, der auch in der Kammer die heftigen Angriffe der Opposition
mit Geist und Gewandtheit zu parieren verstand. So kam endlich am 1. Februar
1868, wenn auch mit einigen nicht unbedenklichen Änderungen am Entwürfe,
das neue Heeresgesetz zustande. Über die Einzelheiten unterrichtet uns
Szczepanskis oben erwähntes treffliches Buch. Hier sei nur erwähnt, daß die
Hauptziele der Heeresreform -- die Erhöhung der Heeresstärke auf 800000
Mann und die Schaffung einer Reservearmee -- erst nach acht Jahren völlig zu
erreichen war. Und solange konnte, möchte man sagen, die Weltgeschichte nicht
warten.

Mit Eiser und Geschick leitete Niet diese Neuorganisation in die Wege.
In kurzer Zeit bewaffnete er die Infanterie mit Hinterladern (den Chassepots);
er ergänzte die Vorräte, verstärkte die Befestigungen usw. Sein früher Tod,


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Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches

ihrer unermüdlichen Eifersucht beehrte. So war es bei Persigny, Fleury, Morny,
Walewski, später bei Ollivier. So war es vor allem bei Eugöne Rouher.
Wir dürfen in dem hochbegabten und imponierender Auvergnaten die bedeutendste
staatsmännische Erscheinung des zweiten Kaiserreichs sehen. Scharfer Verstand
und mächtige Beredsamkeit, Arbeitskraft, Festigkeit im Wollen und Handeln
heben ihn hoch über alle anderen Minister Napoleons. Seine makellos reinen
Hände machen den mächtigen „Vizekaiser" fast zu einer vereinzelten Erscheinung
inmitten von so viel Selbstsucht und sittlicher Fäulnis.

Rouher war der entschiedene Gegner liberaler Nachgiebigkeit. Aber andere
Einflüsse gewannen beim Kaiser die Oberhand. Seit 1866 läßt sich das Ein¬
lenken in konstitutionelle Bahnen deutlichst konstatieren. Mit seinem Schreiben
vom 19. Januar 1867 versprach Napoleon das Jnterpellationsrecht der Kammer.
Reformen im Vereins-, Versammlungs- und Preßwesen, die denn auch wirklich
folgten. Vielleicht nur langsamer, als es gut gewesen wäre.

Zugleich arbeitete der Kaiser, freilich mit jener Unentschlossenheit, die immer
mehr ein Hauptzug seines Wesens wurde, an der Stärkung der Wehrmacht.
Er hatte schon vor 1859 die gezogenen Geschütze eingeführt; das Feldlager von
Chalons war seine Einrichtung. Im einzelnen geschah manches; im allgemeinen
nichts Durchgreifendes. Ein Blick auf die Streitkräfte, die dem norddeutschen
Bunde in einem künftigen Kriege zur Verfügung stehen mußten, schien zur Eile
zu mahnen. Aber die im November 1866 zu Compiegne begonnenen großen
Militärkonferenzen ergaben kein Resultat. Den Forderungen nach einer, natürlich
teuren Heeresreform traten immer wieder die Einwendungen der anderen Minister,
die Kritik der liberalen Opposition, am meisten vielleicht die Abneigung des
französischen Volkes gegen Militärzwang und allgemeine Wehrpflicht entgegen.
Der brave Randon, seit 1859 Kriegsminister, schien die Sache nicht weiterzu¬
bringen. Ihm folgte also im Januar 1867 Adolfe Niet, den wir den bedeu¬
tendsten Militär des zweiten Kaiserreichs nennen möchten. Vor Sebastopol hatte
zuletzt doch er die Entscheidung herbeigeführt; Marschall war er seit Solferino;
nun zählt er schon 65 Jahre: ein Herr von nicht angenehmem Wesen, aber
großer Tätigkeit, der auch in der Kammer die heftigen Angriffe der Opposition
mit Geist und Gewandtheit zu parieren verstand. So kam endlich am 1. Februar
1868, wenn auch mit einigen nicht unbedenklichen Änderungen am Entwürfe,
das neue Heeresgesetz zustande. Über die Einzelheiten unterrichtet uns
Szczepanskis oben erwähntes treffliches Buch. Hier sei nur erwähnt, daß die
Hauptziele der Heeresreform — die Erhöhung der Heeresstärke auf 800000
Mann und die Schaffung einer Reservearmee — erst nach acht Jahren völlig zu
erreichen war. Und solange konnte, möchte man sagen, die Weltgeschichte nicht
warten.

Mit Eiser und Geschick leitete Niet diese Neuorganisation in die Wege.
In kurzer Zeit bewaffnete er die Infanterie mit Hinterladern (den Chassepots);
er ergänzte die Vorräte, verstärkte die Befestigungen usw. Sein früher Tod,


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[0063] Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches ihrer unermüdlichen Eifersucht beehrte. So war es bei Persigny, Fleury, Morny, Walewski, später bei Ollivier. So war es vor allem bei Eugöne Rouher. Wir dürfen in dem hochbegabten und imponierender Auvergnaten die bedeutendste staatsmännische Erscheinung des zweiten Kaiserreichs sehen. Scharfer Verstand und mächtige Beredsamkeit, Arbeitskraft, Festigkeit im Wollen und Handeln heben ihn hoch über alle anderen Minister Napoleons. Seine makellos reinen Hände machen den mächtigen „Vizekaiser" fast zu einer vereinzelten Erscheinung inmitten von so viel Selbstsucht und sittlicher Fäulnis. Rouher war der entschiedene Gegner liberaler Nachgiebigkeit. Aber andere Einflüsse gewannen beim Kaiser die Oberhand. Seit 1866 läßt sich das Ein¬ lenken in konstitutionelle Bahnen deutlichst konstatieren. Mit seinem Schreiben vom 19. Januar 1867 versprach Napoleon das Jnterpellationsrecht der Kammer. Reformen im Vereins-, Versammlungs- und Preßwesen, die denn auch wirklich folgten. Vielleicht nur langsamer, als es gut gewesen wäre. Zugleich arbeitete der Kaiser, freilich mit jener Unentschlossenheit, die immer mehr ein Hauptzug seines Wesens wurde, an der Stärkung der Wehrmacht. Er hatte schon vor 1859 die gezogenen Geschütze eingeführt; das Feldlager von Chalons war seine Einrichtung. Im einzelnen geschah manches; im allgemeinen nichts Durchgreifendes. Ein Blick auf die Streitkräfte, die dem norddeutschen Bunde in einem künftigen Kriege zur Verfügung stehen mußten, schien zur Eile zu mahnen. Aber die im November 1866 zu Compiegne begonnenen großen Militärkonferenzen ergaben kein Resultat. Den Forderungen nach einer, natürlich teuren Heeresreform traten immer wieder die Einwendungen der anderen Minister, die Kritik der liberalen Opposition, am meisten vielleicht die Abneigung des französischen Volkes gegen Militärzwang und allgemeine Wehrpflicht entgegen. Der brave Randon, seit 1859 Kriegsminister, schien die Sache nicht weiterzu¬ bringen. Ihm folgte also im Januar 1867 Adolfe Niet, den wir den bedeu¬ tendsten Militär des zweiten Kaiserreichs nennen möchten. Vor Sebastopol hatte zuletzt doch er die Entscheidung herbeigeführt; Marschall war er seit Solferino; nun zählt er schon 65 Jahre: ein Herr von nicht angenehmem Wesen, aber großer Tätigkeit, der auch in der Kammer die heftigen Angriffe der Opposition mit Geist und Gewandtheit zu parieren verstand. So kam endlich am 1. Februar 1868, wenn auch mit einigen nicht unbedenklichen Änderungen am Entwürfe, das neue Heeresgesetz zustande. Über die Einzelheiten unterrichtet uns Szczepanskis oben erwähntes treffliches Buch. Hier sei nur erwähnt, daß die Hauptziele der Heeresreform — die Erhöhung der Heeresstärke auf 800000 Mann und die Schaffung einer Reservearmee — erst nach acht Jahren völlig zu erreichen war. Und solange konnte, möchte man sagen, die Weltgeschichte nicht warten. Mit Eiser und Geschick leitete Niet diese Neuorganisation in die Wege. In kurzer Zeit bewaffnete er die Infanterie mit Hinterladern (den Chassepots); er ergänzte die Vorräte, verstärkte die Befestigungen usw. Sein früher Tod, 4*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/63>, abgerufen am 02.07.2024.