Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches

hatte sich in dem merkwürdigen Geheimvertrage vom 12. Juni 1866 Napoleon
gegenüber zur Abtretung Venetiens in jedem Falle, auch in dem eines Sieges
über beide Gegner, verpflichtet. Endlich kam Königgrätz: die "patriotischen Be¬
klemmungen Frankreichs, von denen Eugen Rouher in der Kammer sprach; die von
Thiers geprägte rsvaactiö pour Lacioxva; die durch Preußens überraschende
Waffenerfolge geweckte nervöse Empfindlichkeit der Nation, die der Kaiser für
seine Person nicht teilte, der er aber Rechnung tragen mußte. Damals holte
sich Napoleon seine erste große Niederlage. Als Benedetti am 5. August im
Auftrag seines Kaisers nicht mehr wie früher 6e8 petite8 röLti!icatic>n8 as
fronliöre, sondern Mainz, Saarlouis, Saarbrücken und die bäuerische Rhein-
pfalz verlangte, wies ihm Bismarck zum ersten Male die Zähne. Er werde mit
Österreich um jeden Preis Frieden machen -- antwortete er -- und sich gemeinsam
mit ihm gegen Frankreich wenden. Napoleon, nichts weniger als kriegsbereit,
mußte die diplomatische Ohrfeige ruhig einstecken. Sein Jnterventionsversuch
dürfte aber gleichwohl Bismarcks Wunsch nach einem raschen und billigen, ohne
fremde Einmischung zu erzielenden Frieden mit Österreich noch gesteigert haben.
So hatte der überfeine Rechner in Paris auch hier das Gegenteil von dem
bewirkt, was er angestrebt. Er hatte ja, was heute klar ist, bestimmt auf
Österreichs Sieg gerechnet und gehofft, dann als Mittler für Frankreich ein
Geschäft zu machen. ... -- Es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß dieser
Niedergang eines Regimes, das so ganz auf einer Person ruhte, in einem
tiefen inneren Zusammenhang mit dem physischen Befinden dieser einen Person
stand. Napoleon war, zum mindesten seit 1863, an Blase und Niere erkrankt.
Zwei Jahre später hatte er einen schweren Anfall, der geheim gehalten wurde.
Nicht gewohnt zu klagen und von einer unglaublichen Selbstbeherrschung konnte
er sich oft in den wichtigsten Momenten nur unter furchtbaren Schmerzen auf¬
recht erhalten. Unter diesen peinlichen körperlichen Zuständen litt nicht nur die
Bestimmtheit seines Entschlusses, sondern oft auch die Klarheit seines Geistes.
Es ist menschlich nur erklärlich, wenn bei ihm der angeborene Hang zum
Grübeln immer stärker, wenn die Irrwege seiner unberechenbaren Politik immer
dunkler wurden.

"Zwischen zwei Kriegen" hat man zutreffend die Jahre von 1866 bis
1870 genannt. Die Abrechnung zwischen dem stetig an Macht sinkenden Frankreich
und dem so überrasch emporgestiegenen, nun nicht mehr "allzu mageren" Preußen
schien allen Eingeweihten in der politischen Luft zu liegen. Es ist wie das
Bild von zwei Menschen, die fühlen, daß es zwischen ihnen zur Entscheidung
kommen müsse, die aber nicht losgehen wollen: der eine nicht, weil er sich
nicht stark genug, der andere, weil er sich noch nicht stark genug sühlt. Napoleon
scheute den Kampf mit den Deutschen, dieser Rasse der Zukunft, wie er sie
selbst genannt hat. Er war in Deutschland erzogen, er sprach besser deutsch
als französisch, er schätzte deutsches Wesen. Er war ja selber, wenn, wie man
behauptet, der holländische Admiral Verhuell sein wirklicher Vater gewesen ist,


Grenzboten IV 1914 4
Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches

hatte sich in dem merkwürdigen Geheimvertrage vom 12. Juni 1866 Napoleon
gegenüber zur Abtretung Venetiens in jedem Falle, auch in dem eines Sieges
über beide Gegner, verpflichtet. Endlich kam Königgrätz: die „patriotischen Be¬
klemmungen Frankreichs, von denen Eugen Rouher in der Kammer sprach; die von
Thiers geprägte rsvaactiö pour Lacioxva; die durch Preußens überraschende
Waffenerfolge geweckte nervöse Empfindlichkeit der Nation, die der Kaiser für
seine Person nicht teilte, der er aber Rechnung tragen mußte. Damals holte
sich Napoleon seine erste große Niederlage. Als Benedetti am 5. August im
Auftrag seines Kaisers nicht mehr wie früher 6e8 petite8 röLti!icatic>n8 as
fronliöre, sondern Mainz, Saarlouis, Saarbrücken und die bäuerische Rhein-
pfalz verlangte, wies ihm Bismarck zum ersten Male die Zähne. Er werde mit
Österreich um jeden Preis Frieden machen — antwortete er — und sich gemeinsam
mit ihm gegen Frankreich wenden. Napoleon, nichts weniger als kriegsbereit,
mußte die diplomatische Ohrfeige ruhig einstecken. Sein Jnterventionsversuch
dürfte aber gleichwohl Bismarcks Wunsch nach einem raschen und billigen, ohne
fremde Einmischung zu erzielenden Frieden mit Österreich noch gesteigert haben.
So hatte der überfeine Rechner in Paris auch hier das Gegenteil von dem
bewirkt, was er angestrebt. Er hatte ja, was heute klar ist, bestimmt auf
Österreichs Sieg gerechnet und gehofft, dann als Mittler für Frankreich ein
Geschäft zu machen. ... — Es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß dieser
Niedergang eines Regimes, das so ganz auf einer Person ruhte, in einem
tiefen inneren Zusammenhang mit dem physischen Befinden dieser einen Person
stand. Napoleon war, zum mindesten seit 1863, an Blase und Niere erkrankt.
Zwei Jahre später hatte er einen schweren Anfall, der geheim gehalten wurde.
Nicht gewohnt zu klagen und von einer unglaublichen Selbstbeherrschung konnte
er sich oft in den wichtigsten Momenten nur unter furchtbaren Schmerzen auf¬
recht erhalten. Unter diesen peinlichen körperlichen Zuständen litt nicht nur die
Bestimmtheit seines Entschlusses, sondern oft auch die Klarheit seines Geistes.
Es ist menschlich nur erklärlich, wenn bei ihm der angeborene Hang zum
Grübeln immer stärker, wenn die Irrwege seiner unberechenbaren Politik immer
dunkler wurden.

„Zwischen zwei Kriegen" hat man zutreffend die Jahre von 1866 bis
1870 genannt. Die Abrechnung zwischen dem stetig an Macht sinkenden Frankreich
und dem so überrasch emporgestiegenen, nun nicht mehr „allzu mageren" Preußen
schien allen Eingeweihten in der politischen Luft zu liegen. Es ist wie das
Bild von zwei Menschen, die fühlen, daß es zwischen ihnen zur Entscheidung
kommen müsse, die aber nicht losgehen wollen: der eine nicht, weil er sich
nicht stark genug, der andere, weil er sich noch nicht stark genug sühlt. Napoleon
scheute den Kampf mit den Deutschen, dieser Rasse der Zukunft, wie er sie
selbst genannt hat. Er war in Deutschland erzogen, er sprach besser deutsch
als französisch, er schätzte deutsches Wesen. Er war ja selber, wenn, wie man
behauptet, der holländische Admiral Verhuell sein wirklicher Vater gewesen ist,


Grenzboten IV 1914 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0061" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329289"/>
            <fw type="header" place="top"> Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_135" prev="#ID_134"> hatte sich in dem merkwürdigen Geheimvertrage vom 12. Juni 1866 Napoleon<lb/>
gegenüber zur Abtretung Venetiens in jedem Falle, auch in dem eines Sieges<lb/>
über beide Gegner, verpflichtet. Endlich kam Königgrätz: die &#x201E;patriotischen Be¬<lb/>
klemmungen Frankreichs, von denen Eugen Rouher in der Kammer sprach; die von<lb/>
Thiers geprägte rsvaactiö pour Lacioxva; die durch Preußens überraschende<lb/>
Waffenerfolge geweckte nervöse Empfindlichkeit der Nation, die der Kaiser für<lb/>
seine Person nicht teilte, der er aber Rechnung tragen mußte. Damals holte<lb/>
sich Napoleon seine erste große Niederlage. Als Benedetti am 5. August im<lb/>
Auftrag seines Kaisers nicht mehr wie früher 6e8 petite8 röLti!icatic&gt;n8 as<lb/>
fronliöre, sondern Mainz, Saarlouis, Saarbrücken und die bäuerische Rhein-<lb/>
pfalz verlangte, wies ihm Bismarck zum ersten Male die Zähne. Er werde mit<lb/>
Österreich um jeden Preis Frieden machen &#x2014; antwortete er &#x2014; und sich gemeinsam<lb/>
mit ihm gegen Frankreich wenden. Napoleon, nichts weniger als kriegsbereit,<lb/>
mußte die diplomatische Ohrfeige ruhig einstecken. Sein Jnterventionsversuch<lb/>
dürfte aber gleichwohl Bismarcks Wunsch nach einem raschen und billigen, ohne<lb/>
fremde Einmischung zu erzielenden Frieden mit Österreich noch gesteigert haben.<lb/>
So hatte der überfeine Rechner in Paris auch hier das Gegenteil von dem<lb/>
bewirkt, was er angestrebt. Er hatte ja, was heute klar ist, bestimmt auf<lb/>
Österreichs Sieg gerechnet und gehofft, dann als Mittler für Frankreich ein<lb/>
Geschäft zu machen. ... &#x2014; Es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß dieser<lb/>
Niedergang eines Regimes, das so ganz auf einer Person ruhte, in einem<lb/>
tiefen inneren Zusammenhang mit dem physischen Befinden dieser einen Person<lb/>
stand. Napoleon war, zum mindesten seit 1863, an Blase und Niere erkrankt.<lb/>
Zwei Jahre später hatte er einen schweren Anfall, der geheim gehalten wurde.<lb/>
Nicht gewohnt zu klagen und von einer unglaublichen Selbstbeherrschung konnte<lb/>
er sich oft in den wichtigsten Momenten nur unter furchtbaren Schmerzen auf¬<lb/>
recht erhalten. Unter diesen peinlichen körperlichen Zuständen litt nicht nur die<lb/>
Bestimmtheit seines Entschlusses, sondern oft auch die Klarheit seines Geistes.<lb/>
Es ist menschlich nur erklärlich, wenn bei ihm der angeborene Hang zum<lb/>
Grübeln immer stärker, wenn die Irrwege seiner unberechenbaren Politik immer<lb/>
dunkler wurden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_136" next="#ID_137"> &#x201E;Zwischen zwei Kriegen" hat man zutreffend die Jahre von 1866 bis<lb/>
1870 genannt. Die Abrechnung zwischen dem stetig an Macht sinkenden Frankreich<lb/>
und dem so überrasch emporgestiegenen, nun nicht mehr &#x201E;allzu mageren" Preußen<lb/>
schien allen Eingeweihten in der politischen Luft zu liegen. Es ist wie das<lb/>
Bild von zwei Menschen, die fühlen, daß es zwischen ihnen zur Entscheidung<lb/>
kommen müsse, die aber nicht losgehen wollen: der eine nicht, weil er sich<lb/>
nicht stark genug, der andere, weil er sich noch nicht stark genug sühlt. Napoleon<lb/>
scheute den Kampf mit den Deutschen, dieser Rasse der Zukunft, wie er sie<lb/>
selbst genannt hat. Er war in Deutschland erzogen, er sprach besser deutsch<lb/>
als französisch, er schätzte deutsches Wesen. Er war ja selber, wenn, wie man<lb/>
behauptet, der holländische Admiral Verhuell sein wirklicher Vater gewesen ist,</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1914 4</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0061] Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches hatte sich in dem merkwürdigen Geheimvertrage vom 12. Juni 1866 Napoleon gegenüber zur Abtretung Venetiens in jedem Falle, auch in dem eines Sieges über beide Gegner, verpflichtet. Endlich kam Königgrätz: die „patriotischen Be¬ klemmungen Frankreichs, von denen Eugen Rouher in der Kammer sprach; die von Thiers geprägte rsvaactiö pour Lacioxva; die durch Preußens überraschende Waffenerfolge geweckte nervöse Empfindlichkeit der Nation, die der Kaiser für seine Person nicht teilte, der er aber Rechnung tragen mußte. Damals holte sich Napoleon seine erste große Niederlage. Als Benedetti am 5. August im Auftrag seines Kaisers nicht mehr wie früher 6e8 petite8 röLti!icatic>n8 as fronliöre, sondern Mainz, Saarlouis, Saarbrücken und die bäuerische Rhein- pfalz verlangte, wies ihm Bismarck zum ersten Male die Zähne. Er werde mit Österreich um jeden Preis Frieden machen — antwortete er — und sich gemeinsam mit ihm gegen Frankreich wenden. Napoleon, nichts weniger als kriegsbereit, mußte die diplomatische Ohrfeige ruhig einstecken. Sein Jnterventionsversuch dürfte aber gleichwohl Bismarcks Wunsch nach einem raschen und billigen, ohne fremde Einmischung zu erzielenden Frieden mit Österreich noch gesteigert haben. So hatte der überfeine Rechner in Paris auch hier das Gegenteil von dem bewirkt, was er angestrebt. Er hatte ja, was heute klar ist, bestimmt auf Österreichs Sieg gerechnet und gehofft, dann als Mittler für Frankreich ein Geschäft zu machen. ... — Es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß dieser Niedergang eines Regimes, das so ganz auf einer Person ruhte, in einem tiefen inneren Zusammenhang mit dem physischen Befinden dieser einen Person stand. Napoleon war, zum mindesten seit 1863, an Blase und Niere erkrankt. Zwei Jahre später hatte er einen schweren Anfall, der geheim gehalten wurde. Nicht gewohnt zu klagen und von einer unglaublichen Selbstbeherrschung konnte er sich oft in den wichtigsten Momenten nur unter furchtbaren Schmerzen auf¬ recht erhalten. Unter diesen peinlichen körperlichen Zuständen litt nicht nur die Bestimmtheit seines Entschlusses, sondern oft auch die Klarheit seines Geistes. Es ist menschlich nur erklärlich, wenn bei ihm der angeborene Hang zum Grübeln immer stärker, wenn die Irrwege seiner unberechenbaren Politik immer dunkler wurden. „Zwischen zwei Kriegen" hat man zutreffend die Jahre von 1866 bis 1870 genannt. Die Abrechnung zwischen dem stetig an Macht sinkenden Frankreich und dem so überrasch emporgestiegenen, nun nicht mehr „allzu mageren" Preußen schien allen Eingeweihten in der politischen Luft zu liegen. Es ist wie das Bild von zwei Menschen, die fühlen, daß es zwischen ihnen zur Entscheidung kommen müsse, die aber nicht losgehen wollen: der eine nicht, weil er sich nicht stark genug, der andere, weil er sich noch nicht stark genug sühlt. Napoleon scheute den Kampf mit den Deutschen, dieser Rasse der Zukunft, wie er sie selbst genannt hat. Er war in Deutschland erzogen, er sprach besser deutsch als französisch, er schätzte deutsches Wesen. Er war ja selber, wenn, wie man behauptet, der holländische Admiral Verhuell sein wirklicher Vater gewesen ist, Grenzboten IV 1914 4

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/61
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/61>, abgerufen am 02.07.2024.