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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches

selten dankt, siebzig Jahre nach dem Beginn der großen Revolution unter dem
Druck eines Absolutismus, wie das ganze neunzehnte Jahrhundert ihn kaum
gesehen hat.

Die Verfassung des Kaiserreichs war eine große Lüge, wie ja das ganze
Regime und sein Held selber starke Züge der Unaufrichtigkeit und der Täuschung
an sich tragen. Daß König Louis von Holland nicht der wirkliche Vater Napoleons
des Dritten, daß dieser also gar kein Bonaparte und somit auch nicht "der
Neffe des Onkels" war, nimmt man heute ziemlich allgemein an. In der Taufe
war er nicht Napoleon, sondern Karl Ludwig genannt worden, und auch als
Napoleon wäre er nicht der Dritte, sondern der Zweite. Mit dem Eide auf
eine Verfassung, die er wohl von vornherein zu brechen gewillt war, trat er
ins politische Leben. Die verschlungenen Wege blieben ihm fortab die liebsten,
und sein ganzes öffentliches Handeln war bis zuletzt von einer tiefsitzenden
Neigung zur Intrige und zur Irreführung durchtränkt.

Gleichwohl hat man Napoleon den Dritten nicht ganz mit Unrecht einen
durchaus modernen Menschen genannt, der die Strömungen und Strebungen seiner
Zeit mit regsten Geiste beobachtete, die öffentliche Meinung zum Gegenstande seines
intensivsten Studiums machte -- ein Herrscher, der noch für etwas anderes
Verständnis hatte als für Soldatenspielen, Jagd oder Hoffeste. "Eine Re¬
gierung", schrieb er, "kann ungestraft das Gesetz, selbst die Freiheit verletzen;
aber wenn sie sich nicht offen an die Spitze der großen Interessen der
Zivilisation stellt, hat sie nur eine kurze Dauer." Eine Auffassung, gewiß nicht
ohne Größe und sie wenigstens ist ehrlich gemeint und mit Kraft durchgeführt. Das
ist der "soziale Kaiser", der eifrige Förderer aller technischen Fortschritte und
Erfindungen, der einsichtsvolle Begründer des Freihandels für Frankreich, der
mächtige Begünstiger des großen Suezkanalwerkes. Der Ausbau des Eisenbahn¬
netzes, gewerbliche und landwirtschaftliche Reformen, die Hebung des Seehandels,
die Fürsorge für den vierten Stand, der Beginn einer sozialpolitischen Gesetz¬
gebung, als der ersten dieser Art auf dem Kontinent; die großartige Neu¬
gestaltung von Paris -- alles dies sind Habenposten im Hauptbuche des
Kaiserreichs. Die Ausfuhr Frankreichs mehrte sich gewaltig; die Zahl der
kleinen Rentner stieg stetig; der allgemeine Wohlstand wuchs, allerdings wuchsen
auch die Staatsschulden ins Riesenhafte. Friedjung sagt sehr richtig, daß seit
Colbert keine französische Regierung so viel für die wirtschaftliche Wohlfahrt
des Landes geleistet habe, wie die Napoleons des Dritten. Die Schatten
in diesem glanzvollen Bilde waren freilich die Verallgemeinerung einer kra߬
materialistischen Weltanschauung, eine auri sacra laues, ungezählte schwindel¬
hafte Gründungen, ein Spieler- und Spekulantengeist, der selbst sonst solide
Schichten ergriff; kurz, was man Korruption im weitesten Sinne zu nennen
pflegt. Auch diese Erscheinungen sind charakteristisch für die Zeit eines
Monarchen, der es auch für seine Person liebte, die Geschäfte der Politik mit
denen der Börse zu vermischen.


Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches

selten dankt, siebzig Jahre nach dem Beginn der großen Revolution unter dem
Druck eines Absolutismus, wie das ganze neunzehnte Jahrhundert ihn kaum
gesehen hat.

Die Verfassung des Kaiserreichs war eine große Lüge, wie ja das ganze
Regime und sein Held selber starke Züge der Unaufrichtigkeit und der Täuschung
an sich tragen. Daß König Louis von Holland nicht der wirkliche Vater Napoleons
des Dritten, daß dieser also gar kein Bonaparte und somit auch nicht „der
Neffe des Onkels" war, nimmt man heute ziemlich allgemein an. In der Taufe
war er nicht Napoleon, sondern Karl Ludwig genannt worden, und auch als
Napoleon wäre er nicht der Dritte, sondern der Zweite. Mit dem Eide auf
eine Verfassung, die er wohl von vornherein zu brechen gewillt war, trat er
ins politische Leben. Die verschlungenen Wege blieben ihm fortab die liebsten,
und sein ganzes öffentliches Handeln war bis zuletzt von einer tiefsitzenden
Neigung zur Intrige und zur Irreführung durchtränkt.

Gleichwohl hat man Napoleon den Dritten nicht ganz mit Unrecht einen
durchaus modernen Menschen genannt, der die Strömungen und Strebungen seiner
Zeit mit regsten Geiste beobachtete, die öffentliche Meinung zum Gegenstande seines
intensivsten Studiums machte — ein Herrscher, der noch für etwas anderes
Verständnis hatte als für Soldatenspielen, Jagd oder Hoffeste. „Eine Re¬
gierung", schrieb er, „kann ungestraft das Gesetz, selbst die Freiheit verletzen;
aber wenn sie sich nicht offen an die Spitze der großen Interessen der
Zivilisation stellt, hat sie nur eine kurze Dauer." Eine Auffassung, gewiß nicht
ohne Größe und sie wenigstens ist ehrlich gemeint und mit Kraft durchgeführt. Das
ist der „soziale Kaiser", der eifrige Förderer aller technischen Fortschritte und
Erfindungen, der einsichtsvolle Begründer des Freihandels für Frankreich, der
mächtige Begünstiger des großen Suezkanalwerkes. Der Ausbau des Eisenbahn¬
netzes, gewerbliche und landwirtschaftliche Reformen, die Hebung des Seehandels,
die Fürsorge für den vierten Stand, der Beginn einer sozialpolitischen Gesetz¬
gebung, als der ersten dieser Art auf dem Kontinent; die großartige Neu¬
gestaltung von Paris — alles dies sind Habenposten im Hauptbuche des
Kaiserreichs. Die Ausfuhr Frankreichs mehrte sich gewaltig; die Zahl der
kleinen Rentner stieg stetig; der allgemeine Wohlstand wuchs, allerdings wuchsen
auch die Staatsschulden ins Riesenhafte. Friedjung sagt sehr richtig, daß seit
Colbert keine französische Regierung so viel für die wirtschaftliche Wohlfahrt
des Landes geleistet habe, wie die Napoleons des Dritten. Die Schatten
in diesem glanzvollen Bilde waren freilich die Verallgemeinerung einer kra߬
materialistischen Weltanschauung, eine auri sacra laues, ungezählte schwindel¬
hafte Gründungen, ein Spieler- und Spekulantengeist, der selbst sonst solide
Schichten ergriff; kurz, was man Korruption im weitesten Sinne zu nennen
pflegt. Auch diese Erscheinungen sind charakteristisch für die Zeit eines
Monarchen, der es auch für seine Person liebte, die Geschäfte der Politik mit
denen der Börse zu vermischen.


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[0055] Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Kaiserreiches selten dankt, siebzig Jahre nach dem Beginn der großen Revolution unter dem Druck eines Absolutismus, wie das ganze neunzehnte Jahrhundert ihn kaum gesehen hat. Die Verfassung des Kaiserreichs war eine große Lüge, wie ja das ganze Regime und sein Held selber starke Züge der Unaufrichtigkeit und der Täuschung an sich tragen. Daß König Louis von Holland nicht der wirkliche Vater Napoleons des Dritten, daß dieser also gar kein Bonaparte und somit auch nicht „der Neffe des Onkels" war, nimmt man heute ziemlich allgemein an. In der Taufe war er nicht Napoleon, sondern Karl Ludwig genannt worden, und auch als Napoleon wäre er nicht der Dritte, sondern der Zweite. Mit dem Eide auf eine Verfassung, die er wohl von vornherein zu brechen gewillt war, trat er ins politische Leben. Die verschlungenen Wege blieben ihm fortab die liebsten, und sein ganzes öffentliches Handeln war bis zuletzt von einer tiefsitzenden Neigung zur Intrige und zur Irreführung durchtränkt. Gleichwohl hat man Napoleon den Dritten nicht ganz mit Unrecht einen durchaus modernen Menschen genannt, der die Strömungen und Strebungen seiner Zeit mit regsten Geiste beobachtete, die öffentliche Meinung zum Gegenstande seines intensivsten Studiums machte — ein Herrscher, der noch für etwas anderes Verständnis hatte als für Soldatenspielen, Jagd oder Hoffeste. „Eine Re¬ gierung", schrieb er, „kann ungestraft das Gesetz, selbst die Freiheit verletzen; aber wenn sie sich nicht offen an die Spitze der großen Interessen der Zivilisation stellt, hat sie nur eine kurze Dauer." Eine Auffassung, gewiß nicht ohne Größe und sie wenigstens ist ehrlich gemeint und mit Kraft durchgeführt. Das ist der „soziale Kaiser", der eifrige Förderer aller technischen Fortschritte und Erfindungen, der einsichtsvolle Begründer des Freihandels für Frankreich, der mächtige Begünstiger des großen Suezkanalwerkes. Der Ausbau des Eisenbahn¬ netzes, gewerbliche und landwirtschaftliche Reformen, die Hebung des Seehandels, die Fürsorge für den vierten Stand, der Beginn einer sozialpolitischen Gesetz¬ gebung, als der ersten dieser Art auf dem Kontinent; die großartige Neu¬ gestaltung von Paris — alles dies sind Habenposten im Hauptbuche des Kaiserreichs. Die Ausfuhr Frankreichs mehrte sich gewaltig; die Zahl der kleinen Rentner stieg stetig; der allgemeine Wohlstand wuchs, allerdings wuchsen auch die Staatsschulden ins Riesenhafte. Friedjung sagt sehr richtig, daß seit Colbert keine französische Regierung so viel für die wirtschaftliche Wohlfahrt des Landes geleistet habe, wie die Napoleons des Dritten. Die Schatten in diesem glanzvollen Bilde waren freilich die Verallgemeinerung einer kra߬ materialistischen Weltanschauung, eine auri sacra laues, ungezählte schwindel¬ hafte Gründungen, ein Spieler- und Spekulantengeist, der selbst sonst solide Schichten ergriff; kurz, was man Korruption im weitesten Sinne zu nennen pflegt. Auch diese Erscheinungen sind charakteristisch für die Zeit eines Monarchen, der es auch für seine Person liebte, die Geschäfte der Politik mit denen der Börse zu vermischen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/55>, abgerufen am 02.07.2024.