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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Polen und Rußland

lebensvolles Organ geschaffen hatten, mit dem sie eine, wenn auch uns Deutschen
nicht sehr angenehme, aber für die polnische Nation wertvolle Politik treiben
konnten, haben nun die eigenen Sozialisten der Gnade oder Ungnade des
jeweiligen militärischen Gewalthabers ausgeliefert, ihr Geschick im allgemeinen
aber in die Hände einer unkontrollierbaren kosmopolitischen Klique gelegt, die
glaubt, ihre materielle Interessen wiesen sie nach Nußland, und die darum auch
keine Neigung hat, für ein selbständiges Polen zu wirken, in dem diese Interessen
doch nicht genug sichergestellt erscheinen.

So sah es in Warschau aus, als plötzlich die Kriegserklärung über Europa
hereinbrach.

In den ersten Wochen hielten sich die Polen -- viele Führer waren verreist
-- zurück. Als aber der russische Oberkommandierende am 11. August den
Polen Befreiung zugesichert hatte, und das Reichsratsmitglied Jgnatz Schebeko
aus Deutschland nach Petrograd zurückgekehrt war, erschien am 1. September in
der polnischen und russischen Presse ein Aufruf, der unter anderem auch den
folgenden Satz enthielt:

"Die öffentliche Meinung der Polen betrachtet die Personen, die an den
verschiedenen freiwilligen Organisationen, welche die österreichische Armee unter¬
stützen, teilnehmen, als unbewußte Verteidiger des Deutschtums, als Feinde der
polnischen Sache und des gesamten Slawentums. . . ." Unterschrieben ist das
Schriftstück von Graf S. Wielopolski, I. Garussewitsch. S. Glesmer. P. Gvrski,
R. Dmowski. E. Dobecki, L. Dymsza, E. Kronenberg, G. Kutnowski. S. Lopa-
szynski, A. Meisztowicz. Fürst Radziwill, K. Skirmunt, G. Swencicki, F. Jurewicz,
Jgnatz Schebeko.

Außerdem veröffentlichte die Gruppe Dmowskis unter der Firma der
Realistenpartei und der Partei der Nationaldemokraten folgendes gegen die
Haltung der Wiener Polen gerichtetes Protokoll:

"Indem wir erwägen:

1. daß der Sieg der russisch - französischen - englischen Koalition dem pol¬
nischen Volke aller polnischen Länder eine Vereinigung und einen Zugang zum
Baltischen Meere verspricht, während ein Sieg des österreich-deutschen Bündnisses
eine neue Teilung Polens nach den Angaben Preußens zur Folge haben wird,

2. daß Rußland gegenwärtig bezüglich der polnischen Frage ein Programm
aufgestellt hat, das im Aufruf des Großfürsten seinen Ausdruck findet und so¬
wohl in Frankreich als auch in England mit Begeisterung aufgenommen worden
ist, während Österreich die Frage nicht in ihrer Vollständigkeit aufgerollt hat,
was man aus dem Aufruf des galizisch-polnischen Koko ersehen kann,

3. daß der gegenwärtige Krieg nicht durch einen Konflikt zwischen Osterreich
und Rußland hervorgerufen ist, in dem die Stellung Galiziens zugunsten Öster¬
reichs wenn auch politisch unverständlich aber doch psychologisch verständlich
wäre, sondern daß der gegenwärtige Krieg ein Kampf der Völker gegen die
Herrschaft der Preußen ist, in deren Diensten sich Österreich befindet, so daß die


Die Polen und Rußland

lebensvolles Organ geschaffen hatten, mit dem sie eine, wenn auch uns Deutschen
nicht sehr angenehme, aber für die polnische Nation wertvolle Politik treiben
konnten, haben nun die eigenen Sozialisten der Gnade oder Ungnade des
jeweiligen militärischen Gewalthabers ausgeliefert, ihr Geschick im allgemeinen
aber in die Hände einer unkontrollierbaren kosmopolitischen Klique gelegt, die
glaubt, ihre materielle Interessen wiesen sie nach Nußland, und die darum auch
keine Neigung hat, für ein selbständiges Polen zu wirken, in dem diese Interessen
doch nicht genug sichergestellt erscheinen.

So sah es in Warschau aus, als plötzlich die Kriegserklärung über Europa
hereinbrach.

In den ersten Wochen hielten sich die Polen — viele Führer waren verreist
— zurück. Als aber der russische Oberkommandierende am 11. August den
Polen Befreiung zugesichert hatte, und das Reichsratsmitglied Jgnatz Schebeko
aus Deutschland nach Petrograd zurückgekehrt war, erschien am 1. September in
der polnischen und russischen Presse ein Aufruf, der unter anderem auch den
folgenden Satz enthielt:

„Die öffentliche Meinung der Polen betrachtet die Personen, die an den
verschiedenen freiwilligen Organisationen, welche die österreichische Armee unter¬
stützen, teilnehmen, als unbewußte Verteidiger des Deutschtums, als Feinde der
polnischen Sache und des gesamten Slawentums. . . ." Unterschrieben ist das
Schriftstück von Graf S. Wielopolski, I. Garussewitsch. S. Glesmer. P. Gvrski,
R. Dmowski. E. Dobecki, L. Dymsza, E. Kronenberg, G. Kutnowski. S. Lopa-
szynski, A. Meisztowicz. Fürst Radziwill, K. Skirmunt, G. Swencicki, F. Jurewicz,
Jgnatz Schebeko.

Außerdem veröffentlichte die Gruppe Dmowskis unter der Firma der
Realistenpartei und der Partei der Nationaldemokraten folgendes gegen die
Haltung der Wiener Polen gerichtetes Protokoll:

„Indem wir erwägen:

1. daß der Sieg der russisch - französischen - englischen Koalition dem pol¬
nischen Volke aller polnischen Länder eine Vereinigung und einen Zugang zum
Baltischen Meere verspricht, während ein Sieg des österreich-deutschen Bündnisses
eine neue Teilung Polens nach den Angaben Preußens zur Folge haben wird,

2. daß Rußland gegenwärtig bezüglich der polnischen Frage ein Programm
aufgestellt hat, das im Aufruf des Großfürsten seinen Ausdruck findet und so¬
wohl in Frankreich als auch in England mit Begeisterung aufgenommen worden
ist, während Österreich die Frage nicht in ihrer Vollständigkeit aufgerollt hat,
was man aus dem Aufruf des galizisch-polnischen Koko ersehen kann,

3. daß der gegenwärtige Krieg nicht durch einen Konflikt zwischen Osterreich
und Rußland hervorgerufen ist, in dem die Stellung Galiziens zugunsten Öster¬
reichs wenn auch politisch unverständlich aber doch psychologisch verständlich
wäre, sondern daß der gegenwärtige Krieg ein Kampf der Völker gegen die
Herrschaft der Preußen ist, in deren Diensten sich Österreich befindet, so daß die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/49>, abgerufen am 30.06.2024.