Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.Die Polen und Rußland Möglichkeit zu geben, schon damals eine Politik aaf eigene Faust zu treiben Die Polen und Rußland Möglichkeit zu geben, schon damals eine Politik aaf eigene Faust zu treiben <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0048" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329276"/> <fw type="header" place="top"> Die Polen und Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_92" prev="#ID_91" next="#ID_93"> Möglichkeit zu geben, schon damals eine Politik aaf eigene Faust zu treiben<lb/> und sich später der russischen Regierung als loyale Diener gegen den Umsturz<lb/> zur Verfügung stellen zu können. Die Polen konnten sich ohne weiteres sagen,<lb/> daß die deutsche Regierung die Vorgänge in Rußland solange ignorieren<lb/> würde, als sie nicht über unsere Grenze griffen. In Wirklichkeit war den Polen,<lb/> die dem Liberalismus der russischen Demokraten bezüglich der Nationalitäten¬<lb/> frage durchaus nicht trauten, an einem vollständigen Siege dieser Demokraten<lb/> über die Bureaukratie, in der sie zahlreiche wichtige Stellen besetzt hielten, gar<lb/> nichts gelegen; von der Regierung konnten sie noch allerhand erhoffen. Im<lb/> Grunde ihres Herzens verachteten sie die Russen! Sie wählten darum auch<lb/> nicht etwa freisinnig, wie die Russen es wünschten, sondern stramm national¬<lb/> demokratisch, und in der Reichsduma störten sie als erste die Einheit der<lb/> Opposition, indem sie Forderungen stellten, die weit über das hinausgingen,<lb/> was ihnen von den russischen Demokraten zugebilligt worden war, ohne dabei,<lb/> und zwar mit Rücksicht auf den polnischen Großgrundbesitz in Litauen und<lb/> Wolhynien auf wirtschaftlichem Gebiet, z. B. in der Agrarfrage die weitgehenden<lb/> Forderungen der Russen zu unterstützen. Um das Mißtrauen der Russen zu<lb/> beschwichtigen, ritten sie um so mehr auf dem Schlagwort von der deutschen<lb/> Gefahr herum. Wer die Warschauer Witzblätter in jener Zeit der unbeschränkten<lb/> Preßfreiheit durchblättert, muß sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, daß<lb/> Warschau nicht in Preußen, sondern in Rußland liegt, so wenig wurde Kritik<lb/> an der russischen, so viel an der preußischen Regierung geübt! Das ist denn<lb/> auch die einzige Aufgabe der polnischen Politik seit 1904, in der sie sich treu<lb/> geblieben ist. Im übrigen haben die Polen unter der Führung Roman<lb/> Dmowskis, der nach seiner Vergangenheit sehr wohl die Hoffnung wecken konnte,<lb/> ein großer nationaler Führer zu werden, nicht mehr Politik, sondern Taktik,<lb/> eine perfide, unaufrichtige Taktik getrieben. Dmowski ist soweit untreu gegen<lb/> die russischen Bundesgenossen geworden, daß er um den Preis der Selbst¬<lb/> verwaltung in den Städten mit Stolupin paktierte und diesem obendrein noch<lb/> die Schaffung des Gouvernements Chota parlamentarisch erleichterte. Zur<lb/> Ehre der Polen muß freilich festgestellt werden, daß ihm dafür die meisten die<lb/> Gefolgschaft kündigten. Die Nationaldemokraten spalteten sich. Das veranlaßte<lb/> nun Dmowski kurzerhand sein eigenes nationaldemokratisches Program-in preis¬<lb/> zugeben und vor etwa Jahresfrist hat er sich mit den Leuten der sogenannten<lb/> Versöhnungspartei, mit der Ugoda, auch Realisten genannt, verbunden, die den<lb/> Anschluß der Polen an Rußland aus wirtschaftlichen Gründen um jeden Preis<lb/> predigt. In dieser kurz gekennzeichneten Entwicklung aber liegt das Verhängnis<lb/> nicht nur für die russischen Polen in diesem weltgeschichtlichen Augenblick: es<lb/> gibt gegenwärtig in Russisch-Polen keine organisierte national¬<lb/> polnische Partei, sondern nur die führerlosen polnischen Sozialisten<lb/> und die kosmopolitischen Realisten! Die polnischen Führer, die sich in<lb/> der nationaldemokratischen Partei seit 1894 wirklich ein starkes und kulturell</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0048]
Die Polen und Rußland
Möglichkeit zu geben, schon damals eine Politik aaf eigene Faust zu treiben
und sich später der russischen Regierung als loyale Diener gegen den Umsturz
zur Verfügung stellen zu können. Die Polen konnten sich ohne weiteres sagen,
daß die deutsche Regierung die Vorgänge in Rußland solange ignorieren
würde, als sie nicht über unsere Grenze griffen. In Wirklichkeit war den Polen,
die dem Liberalismus der russischen Demokraten bezüglich der Nationalitäten¬
frage durchaus nicht trauten, an einem vollständigen Siege dieser Demokraten
über die Bureaukratie, in der sie zahlreiche wichtige Stellen besetzt hielten, gar
nichts gelegen; von der Regierung konnten sie noch allerhand erhoffen. Im
Grunde ihres Herzens verachteten sie die Russen! Sie wählten darum auch
nicht etwa freisinnig, wie die Russen es wünschten, sondern stramm national¬
demokratisch, und in der Reichsduma störten sie als erste die Einheit der
Opposition, indem sie Forderungen stellten, die weit über das hinausgingen,
was ihnen von den russischen Demokraten zugebilligt worden war, ohne dabei,
und zwar mit Rücksicht auf den polnischen Großgrundbesitz in Litauen und
Wolhynien auf wirtschaftlichem Gebiet, z. B. in der Agrarfrage die weitgehenden
Forderungen der Russen zu unterstützen. Um das Mißtrauen der Russen zu
beschwichtigen, ritten sie um so mehr auf dem Schlagwort von der deutschen
Gefahr herum. Wer die Warschauer Witzblätter in jener Zeit der unbeschränkten
Preßfreiheit durchblättert, muß sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, daß
Warschau nicht in Preußen, sondern in Rußland liegt, so wenig wurde Kritik
an der russischen, so viel an der preußischen Regierung geübt! Das ist denn
auch die einzige Aufgabe der polnischen Politik seit 1904, in der sie sich treu
geblieben ist. Im übrigen haben die Polen unter der Führung Roman
Dmowskis, der nach seiner Vergangenheit sehr wohl die Hoffnung wecken konnte,
ein großer nationaler Führer zu werden, nicht mehr Politik, sondern Taktik,
eine perfide, unaufrichtige Taktik getrieben. Dmowski ist soweit untreu gegen
die russischen Bundesgenossen geworden, daß er um den Preis der Selbst¬
verwaltung in den Städten mit Stolupin paktierte und diesem obendrein noch
die Schaffung des Gouvernements Chota parlamentarisch erleichterte. Zur
Ehre der Polen muß freilich festgestellt werden, daß ihm dafür die meisten die
Gefolgschaft kündigten. Die Nationaldemokraten spalteten sich. Das veranlaßte
nun Dmowski kurzerhand sein eigenes nationaldemokratisches Program-in preis¬
zugeben und vor etwa Jahresfrist hat er sich mit den Leuten der sogenannten
Versöhnungspartei, mit der Ugoda, auch Realisten genannt, verbunden, die den
Anschluß der Polen an Rußland aus wirtschaftlichen Gründen um jeden Preis
predigt. In dieser kurz gekennzeichneten Entwicklung aber liegt das Verhängnis
nicht nur für die russischen Polen in diesem weltgeschichtlichen Augenblick: es
gibt gegenwärtig in Russisch-Polen keine organisierte national¬
polnische Partei, sondern nur die führerlosen polnischen Sozialisten
und die kosmopolitischen Realisten! Die polnischen Führer, die sich in
der nationaldemokratischen Partei seit 1894 wirklich ein starkes und kulturell
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