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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Der Einfluß des Krieges auf die Intelligenz

Etwas ganz Ähnliches geschieht zur Zeit eines gewaltigen, das Volk in
seinen Tiefen aufwühlenden Krieges, wie des gegenwärtigen, nur ist hier alles
unvergleichlich wirksamer und vor allem menschlich bedeutsamer. In der langen
Friedenszeit drängte sich gar manche "Kultur"binde hervor, der von Rechts wegen
eine minder hohe Rangordnung zukam. Wer wollte leugnen, daß das Wirtschafts¬
leben im Kulturbewußtsein der Zeit vor den Augusttagen eine solche Rangstellung
innehatte? Die Verbesserung der "Lebensstellung" d. h. eines möglichst hohen
Einkommens bei möglichst geringer Anstrengung war das Leitmotiv der Lebens¬
führung vieler. Sie bestimmte die Berufswahl, sie drückte dem altklugen Mulus
die Einkommentabellen der zu ergreifenden Berufe, dem krassen Fuchs die Prüfungs¬
ordnung, auf daß er nicht "zu viel" lerne, in die Hand. Wer so für sein
eigenes höheres Ich keine wirtschaftlichen Opfer bringen wollte, lernte jetzt im
Kriege, daß ganz andere Opfer gebracht werden müssen und nicht einmal nur
für sich: der Begriff der Gemeinschaft, des Volkes, der aufeinander anweisenden
Zusammengehörigkeit, Solidarität und Kameradschaft leuchtete mit einer Klarheit
auf, die vorher nicht möglich war. Auch vorher stand das Einzelich in Wahrheit
nicht für sich, aber es wähnte sich irrtümlicherweise isoliert. Jeder ging seinem
Geschäft, seiner Partei, Familiensimpelei. seinem Vergnügen nach und sah
die sinnlich unsichtbaren und doch so wirklich-n Zusammenhänge der einzelnen
mit dem Ganzen nicht. Die Intelligenz des Arbeiters, die wohl die Zusammen¬
gehörigkeit mit seinesgleichen erkannte, reichte nicht aus, die nationale Interessen-
gemeinschaft mit dem Arbeitgeber zu sehen; der Arbeitgeber gelangte ebenso
in seiner Apperzeption nur zum Syndikat mit den Berufsgenossen. Beidemal
drang sie nicht darüber hinaus zu den letzten Wirklichkeiten, zu der Gemeinschaft
der obersten Interessen. Es war ein bloßer Schein, der einseitig nur die
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessenten zu Verbänden zusammenschloß,
die den tatsächlich vorhandenen höchsten Interessen nicht im entferntesten ent¬
sprachen. Dieser trügerische Schein, hervorgerufen durch die sinnlich greifbaren
Gruppierungen der Wirtschaftsordnung und der Klassen, lief den im Frieden nur
latenten, wenig sichtbaren, aber wirklichkeilsharten nationalen Gruppierungen der
Weltmächte im Denken den Rang ab. Die Intelligenz erlag dem Schein und über¬
sah die wichtigste Jnteressengruppierung. Die Apperzeption drang nicht kräftig
genug zum Begriff des Volkes und Staates vor, sondern blieb unterwegs stecken.
Wie ist das durch den Krieg anders geworden I Die Frauen schließen sich nicht
mehr aggressiv von den Männern ab. die Protestanten nicht von den
Katholiken. Die Frauen fühlen sich in ihrer Intelligenz bereichert, indem
ihre Apperzeption nicht beim Begriff "Frau" stehen bleibt, sondern durch
die Kriegsereignisse den Schwung bekommen hat. sich als "deutsch" zu be¬
greifen, als dasselbe also, was auch der Mann ist. Und dies alles, weil
der Krieg die Apperzepnonskette, die zum Begriff des "Deutschtums"
führt, durch den Fortfall aller kleinlichen Eigenbrödeleien wesentlich ab¬
gekürzt hat.


Der Einfluß des Krieges auf die Intelligenz

Etwas ganz Ähnliches geschieht zur Zeit eines gewaltigen, das Volk in
seinen Tiefen aufwühlenden Krieges, wie des gegenwärtigen, nur ist hier alles
unvergleichlich wirksamer und vor allem menschlich bedeutsamer. In der langen
Friedenszeit drängte sich gar manche „Kultur"binde hervor, der von Rechts wegen
eine minder hohe Rangordnung zukam. Wer wollte leugnen, daß das Wirtschafts¬
leben im Kulturbewußtsein der Zeit vor den Augusttagen eine solche Rangstellung
innehatte? Die Verbesserung der „Lebensstellung" d. h. eines möglichst hohen
Einkommens bei möglichst geringer Anstrengung war das Leitmotiv der Lebens¬
führung vieler. Sie bestimmte die Berufswahl, sie drückte dem altklugen Mulus
die Einkommentabellen der zu ergreifenden Berufe, dem krassen Fuchs die Prüfungs¬
ordnung, auf daß er nicht „zu viel" lerne, in die Hand. Wer so für sein
eigenes höheres Ich keine wirtschaftlichen Opfer bringen wollte, lernte jetzt im
Kriege, daß ganz andere Opfer gebracht werden müssen und nicht einmal nur
für sich: der Begriff der Gemeinschaft, des Volkes, der aufeinander anweisenden
Zusammengehörigkeit, Solidarität und Kameradschaft leuchtete mit einer Klarheit
auf, die vorher nicht möglich war. Auch vorher stand das Einzelich in Wahrheit
nicht für sich, aber es wähnte sich irrtümlicherweise isoliert. Jeder ging seinem
Geschäft, seiner Partei, Familiensimpelei. seinem Vergnügen nach und sah
die sinnlich unsichtbaren und doch so wirklich-n Zusammenhänge der einzelnen
mit dem Ganzen nicht. Die Intelligenz des Arbeiters, die wohl die Zusammen¬
gehörigkeit mit seinesgleichen erkannte, reichte nicht aus, die nationale Interessen-
gemeinschaft mit dem Arbeitgeber zu sehen; der Arbeitgeber gelangte ebenso
in seiner Apperzeption nur zum Syndikat mit den Berufsgenossen. Beidemal
drang sie nicht darüber hinaus zu den letzten Wirklichkeiten, zu der Gemeinschaft
der obersten Interessen. Es war ein bloßer Schein, der einseitig nur die
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessenten zu Verbänden zusammenschloß,
die den tatsächlich vorhandenen höchsten Interessen nicht im entferntesten ent¬
sprachen. Dieser trügerische Schein, hervorgerufen durch die sinnlich greifbaren
Gruppierungen der Wirtschaftsordnung und der Klassen, lief den im Frieden nur
latenten, wenig sichtbaren, aber wirklichkeilsharten nationalen Gruppierungen der
Weltmächte im Denken den Rang ab. Die Intelligenz erlag dem Schein und über¬
sah die wichtigste Jnteressengruppierung. Die Apperzeption drang nicht kräftig
genug zum Begriff des Volkes und Staates vor, sondern blieb unterwegs stecken.
Wie ist das durch den Krieg anders geworden I Die Frauen schließen sich nicht
mehr aggressiv von den Männern ab. die Protestanten nicht von den
Katholiken. Die Frauen fühlen sich in ihrer Intelligenz bereichert, indem
ihre Apperzeption nicht beim Begriff „Frau" stehen bleibt, sondern durch
die Kriegsereignisse den Schwung bekommen hat. sich als „deutsch" zu be¬
greifen, als dasselbe also, was auch der Mann ist. Und dies alles, weil
der Krieg die Apperzepnonskette, die zum Begriff des „Deutschtums"
führt, durch den Fortfall aller kleinlichen Eigenbrödeleien wesentlich ab¬
gekürzt hat.


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[0425] Der Einfluß des Krieges auf die Intelligenz Etwas ganz Ähnliches geschieht zur Zeit eines gewaltigen, das Volk in seinen Tiefen aufwühlenden Krieges, wie des gegenwärtigen, nur ist hier alles unvergleichlich wirksamer und vor allem menschlich bedeutsamer. In der langen Friedenszeit drängte sich gar manche „Kultur"binde hervor, der von Rechts wegen eine minder hohe Rangordnung zukam. Wer wollte leugnen, daß das Wirtschafts¬ leben im Kulturbewußtsein der Zeit vor den Augusttagen eine solche Rangstellung innehatte? Die Verbesserung der „Lebensstellung" d. h. eines möglichst hohen Einkommens bei möglichst geringer Anstrengung war das Leitmotiv der Lebens¬ führung vieler. Sie bestimmte die Berufswahl, sie drückte dem altklugen Mulus die Einkommentabellen der zu ergreifenden Berufe, dem krassen Fuchs die Prüfungs¬ ordnung, auf daß er nicht „zu viel" lerne, in die Hand. Wer so für sein eigenes höheres Ich keine wirtschaftlichen Opfer bringen wollte, lernte jetzt im Kriege, daß ganz andere Opfer gebracht werden müssen und nicht einmal nur für sich: der Begriff der Gemeinschaft, des Volkes, der aufeinander anweisenden Zusammengehörigkeit, Solidarität und Kameradschaft leuchtete mit einer Klarheit auf, die vorher nicht möglich war. Auch vorher stand das Einzelich in Wahrheit nicht für sich, aber es wähnte sich irrtümlicherweise isoliert. Jeder ging seinem Geschäft, seiner Partei, Familiensimpelei. seinem Vergnügen nach und sah die sinnlich unsichtbaren und doch so wirklich-n Zusammenhänge der einzelnen mit dem Ganzen nicht. Die Intelligenz des Arbeiters, die wohl die Zusammen¬ gehörigkeit mit seinesgleichen erkannte, reichte nicht aus, die nationale Interessen- gemeinschaft mit dem Arbeitgeber zu sehen; der Arbeitgeber gelangte ebenso in seiner Apperzeption nur zum Syndikat mit den Berufsgenossen. Beidemal drang sie nicht darüber hinaus zu den letzten Wirklichkeiten, zu der Gemeinschaft der obersten Interessen. Es war ein bloßer Schein, der einseitig nur die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessenten zu Verbänden zusammenschloß, die den tatsächlich vorhandenen höchsten Interessen nicht im entferntesten ent¬ sprachen. Dieser trügerische Schein, hervorgerufen durch die sinnlich greifbaren Gruppierungen der Wirtschaftsordnung und der Klassen, lief den im Frieden nur latenten, wenig sichtbaren, aber wirklichkeilsharten nationalen Gruppierungen der Weltmächte im Denken den Rang ab. Die Intelligenz erlag dem Schein und über¬ sah die wichtigste Jnteressengruppierung. Die Apperzeption drang nicht kräftig genug zum Begriff des Volkes und Staates vor, sondern blieb unterwegs stecken. Wie ist das durch den Krieg anders geworden I Die Frauen schließen sich nicht mehr aggressiv von den Männern ab. die Protestanten nicht von den Katholiken. Die Frauen fühlen sich in ihrer Intelligenz bereichert, indem ihre Apperzeption nicht beim Begriff „Frau" stehen bleibt, sondern durch die Kriegsereignisse den Schwung bekommen hat. sich als „deutsch" zu be¬ greifen, als dasselbe also, was auch der Mann ist. Und dies alles, weil der Krieg die Apperzepnonskette, die zum Begriff des „Deutschtums" führt, durch den Fortfall aller kleinlichen Eigenbrödeleien wesentlich ab¬ gekürzt hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/425>, abgerufen am 02.07.2024.