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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Der Einfluß des Krieges auf die Intelligenz

Eine Umwälzung in der Denkweise aller derjenigen, die im Frieden groß
geworden sind, hat ihre Erkenntnis gereift. Nicht die einmalige nackte Tat¬
sache des Krieges als plumpe Erfahrung hat dies bewirkt, sondern die durch
den Krieg nur ausgelöste und wiedergewonnene, sonst vielfach verlorene Hell"
sichtigkeit für die dauernden organischen Zusammenhänge allgemein-menschlichen
Lebens und menschlicher Solidarität, dann auch -- bei den tiefer Veranlagten
-- für die ewigen Fragen nach Sinn und Zweck des Daseins. Darf der
Krieg auch nicht für das einzige Mittel gegen einschläfernde und versimpelnde,
ja verdummende Wirkungen angesehen werden, so macht er uns doch ein in
ähnlicher Fülle nicht leicht zu beschaffendes Anschauungsmaterial von höchster
Eindringlichkeit zugänglich.

Dieses alles fördert die Apperzeption (Auffassung), die Grundfunktion der
menschlichen Intelligenz. Was das heißt, soll gleich klarer werden. Der Mensch
neigt dazu, zum Augenblickstier zu werden und den sinnlich gegenwärtigen
Sinneseindrücken und Gefühlen innerhalb der Rangabstufungen menschlicher
Lebenszusammenhänge eine höhere Stellung anzuweisen, als ihnen zukommt,
dasjenige, was sachlich Ziel und Zweck ist, zugunsten untergeordneter, nur
mittelbar wichtiger Einrichtungen zu übersehen oder zu verkennen, bis dann ein
neues Ereignis eintritt, für das die bisherigen Grundsätze keine passende Formel
mehr abgeben. Alsdann verfällt der gedankenlose Mensch einer neuen Ein¬
seitigkeit, die wiederum nur der sinnlichen Gegenwart ein Genüge leistet. Und
so taumelt er, im Gänsemarsch die Kette der Augenblicksereignisse durchlaufend,
von Extrem zu Extrem, ohne mit einem Schlage alle Einzelzusammenhänge
zugleich zu erfassen und deren von innen her treibendes Gesetz zu finden. Was
ist das Laster des Geizes anderes als die Unfähigkeit, das sinnliche Augen¬
blickserlebnis der lockenden Münze zu überwinden, um zu dem hinter der
Sinnlichkeit stehenden Zweckgedanken, der die Münze schuf, zu gelangen? Alle
Intelligenz besteht in der Überwindung des sinnlichen Augenblickseindruckes
zugunsten der unsichtbaren Zweckgedanken.

Dieser Zielgedanke ist hier: der Erwerb menschlicher Kulturgüter. Erst hier
schließt sich die Gedankenkette, von der das Geld nur ein Mittelglied ist. Dem
Geistesträgen aber geht der Atem aus, ehe er die Kette durchlaufen hat; darum
bleibt er in der Mitte, beim Gelde stehen. Und die Lücke, die der zu wenig
wachsame Verstand gelassen, erspäht das Laster. Nun werden des Geizigen
Schätze gestohlen. Diese neue Tatsache raubt dem Bedauernswerten vielleicht
jeden Lebensinhalt, weil sein Leben nicht von Gesichtspunkten geleitet war,
die sich der plumpen Erfahrung gegenüber behaupten. Oder aber er erkennt
jetzt den richtigen Gebrauch des Geldes und beginnt eine vernünftige Lebens¬
führung. Wirwerden dieseEinsicht seiner Intelligenz folgendermaßen charakterisieren:
die Gedankenkette, die zum Ziel und Zweck des Lebens hinführt, ist durch den
Ausfall eines Mittelgliedes (das Geld) abgekürzt und kann damit leichter bis
zum Ziel durchlaufen werden.


Der Einfluß des Krieges auf die Intelligenz

Eine Umwälzung in der Denkweise aller derjenigen, die im Frieden groß
geworden sind, hat ihre Erkenntnis gereift. Nicht die einmalige nackte Tat¬
sache des Krieges als plumpe Erfahrung hat dies bewirkt, sondern die durch
den Krieg nur ausgelöste und wiedergewonnene, sonst vielfach verlorene Hell»
sichtigkeit für die dauernden organischen Zusammenhänge allgemein-menschlichen
Lebens und menschlicher Solidarität, dann auch — bei den tiefer Veranlagten
— für die ewigen Fragen nach Sinn und Zweck des Daseins. Darf der
Krieg auch nicht für das einzige Mittel gegen einschläfernde und versimpelnde,
ja verdummende Wirkungen angesehen werden, so macht er uns doch ein in
ähnlicher Fülle nicht leicht zu beschaffendes Anschauungsmaterial von höchster
Eindringlichkeit zugänglich.

Dieses alles fördert die Apperzeption (Auffassung), die Grundfunktion der
menschlichen Intelligenz. Was das heißt, soll gleich klarer werden. Der Mensch
neigt dazu, zum Augenblickstier zu werden und den sinnlich gegenwärtigen
Sinneseindrücken und Gefühlen innerhalb der Rangabstufungen menschlicher
Lebenszusammenhänge eine höhere Stellung anzuweisen, als ihnen zukommt,
dasjenige, was sachlich Ziel und Zweck ist, zugunsten untergeordneter, nur
mittelbar wichtiger Einrichtungen zu übersehen oder zu verkennen, bis dann ein
neues Ereignis eintritt, für das die bisherigen Grundsätze keine passende Formel
mehr abgeben. Alsdann verfällt der gedankenlose Mensch einer neuen Ein¬
seitigkeit, die wiederum nur der sinnlichen Gegenwart ein Genüge leistet. Und
so taumelt er, im Gänsemarsch die Kette der Augenblicksereignisse durchlaufend,
von Extrem zu Extrem, ohne mit einem Schlage alle Einzelzusammenhänge
zugleich zu erfassen und deren von innen her treibendes Gesetz zu finden. Was
ist das Laster des Geizes anderes als die Unfähigkeit, das sinnliche Augen¬
blickserlebnis der lockenden Münze zu überwinden, um zu dem hinter der
Sinnlichkeit stehenden Zweckgedanken, der die Münze schuf, zu gelangen? Alle
Intelligenz besteht in der Überwindung des sinnlichen Augenblickseindruckes
zugunsten der unsichtbaren Zweckgedanken.

Dieser Zielgedanke ist hier: der Erwerb menschlicher Kulturgüter. Erst hier
schließt sich die Gedankenkette, von der das Geld nur ein Mittelglied ist. Dem
Geistesträgen aber geht der Atem aus, ehe er die Kette durchlaufen hat; darum
bleibt er in der Mitte, beim Gelde stehen. Und die Lücke, die der zu wenig
wachsame Verstand gelassen, erspäht das Laster. Nun werden des Geizigen
Schätze gestohlen. Diese neue Tatsache raubt dem Bedauernswerten vielleicht
jeden Lebensinhalt, weil sein Leben nicht von Gesichtspunkten geleitet war,
die sich der plumpen Erfahrung gegenüber behaupten. Oder aber er erkennt
jetzt den richtigen Gebrauch des Geldes und beginnt eine vernünftige Lebens¬
führung. Wirwerden dieseEinsicht seiner Intelligenz folgendermaßen charakterisieren:
die Gedankenkette, die zum Ziel und Zweck des Lebens hinführt, ist durch den
Ausfall eines Mittelgliedes (das Geld) abgekürzt und kann damit leichter bis
zum Ziel durchlaufen werden.


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[0424] Der Einfluß des Krieges auf die Intelligenz Eine Umwälzung in der Denkweise aller derjenigen, die im Frieden groß geworden sind, hat ihre Erkenntnis gereift. Nicht die einmalige nackte Tat¬ sache des Krieges als plumpe Erfahrung hat dies bewirkt, sondern die durch den Krieg nur ausgelöste und wiedergewonnene, sonst vielfach verlorene Hell» sichtigkeit für die dauernden organischen Zusammenhänge allgemein-menschlichen Lebens und menschlicher Solidarität, dann auch — bei den tiefer Veranlagten — für die ewigen Fragen nach Sinn und Zweck des Daseins. Darf der Krieg auch nicht für das einzige Mittel gegen einschläfernde und versimpelnde, ja verdummende Wirkungen angesehen werden, so macht er uns doch ein in ähnlicher Fülle nicht leicht zu beschaffendes Anschauungsmaterial von höchster Eindringlichkeit zugänglich. Dieses alles fördert die Apperzeption (Auffassung), die Grundfunktion der menschlichen Intelligenz. Was das heißt, soll gleich klarer werden. Der Mensch neigt dazu, zum Augenblickstier zu werden und den sinnlich gegenwärtigen Sinneseindrücken und Gefühlen innerhalb der Rangabstufungen menschlicher Lebenszusammenhänge eine höhere Stellung anzuweisen, als ihnen zukommt, dasjenige, was sachlich Ziel und Zweck ist, zugunsten untergeordneter, nur mittelbar wichtiger Einrichtungen zu übersehen oder zu verkennen, bis dann ein neues Ereignis eintritt, für das die bisherigen Grundsätze keine passende Formel mehr abgeben. Alsdann verfällt der gedankenlose Mensch einer neuen Ein¬ seitigkeit, die wiederum nur der sinnlichen Gegenwart ein Genüge leistet. Und so taumelt er, im Gänsemarsch die Kette der Augenblicksereignisse durchlaufend, von Extrem zu Extrem, ohne mit einem Schlage alle Einzelzusammenhänge zugleich zu erfassen und deren von innen her treibendes Gesetz zu finden. Was ist das Laster des Geizes anderes als die Unfähigkeit, das sinnliche Augen¬ blickserlebnis der lockenden Münze zu überwinden, um zu dem hinter der Sinnlichkeit stehenden Zweckgedanken, der die Münze schuf, zu gelangen? Alle Intelligenz besteht in der Überwindung des sinnlichen Augenblickseindruckes zugunsten der unsichtbaren Zweckgedanken. Dieser Zielgedanke ist hier: der Erwerb menschlicher Kulturgüter. Erst hier schließt sich die Gedankenkette, von der das Geld nur ein Mittelglied ist. Dem Geistesträgen aber geht der Atem aus, ehe er die Kette durchlaufen hat; darum bleibt er in der Mitte, beim Gelde stehen. Und die Lücke, die der zu wenig wachsame Verstand gelassen, erspäht das Laster. Nun werden des Geizigen Schätze gestohlen. Diese neue Tatsache raubt dem Bedauernswerten vielleicht jeden Lebensinhalt, weil sein Leben nicht von Gesichtspunkten geleitet war, die sich der plumpen Erfahrung gegenüber behaupten. Oder aber er erkennt jetzt den richtigen Gebrauch des Geldes und beginnt eine vernünftige Lebens¬ führung. Wirwerden dieseEinsicht seiner Intelligenz folgendermaßen charakterisieren: die Gedankenkette, die zum Ziel und Zweck des Lebens hinführt, ist durch den Ausfall eines Mittelgliedes (das Geld) abgekürzt und kann damit leichter bis zum Ziel durchlaufen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/424>, abgerufen am 02.07.2024.