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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Ungebundenen

"Einen Stift?" B. 2 gab seinem Bündel und seinen Stiefeln einen Ruck
und stieß hastig beide Hände in die Taschen.

"Da. da!" stotterte er. "Da is noch 'n Ende!" Der Schriftsteller fühlte
ein feuchtes Klümpchen in der Hand, daß er beinahe vor Ekel fallen gelassen
hätte. Noch rechtzeitig besann er sich, daß "Stift" in der Sprache des Volkes
statt des Wortes "Kautabak" gebraucht wird. Und er dankte und tat so, als
schöbe er die so bereitwillig gespendete Gabe in seinen Mund.

Jetzt trat der Feldwebel in Begleitung eines Offiziers noch einmal an die
Abteilung heran, deren Verlesung er beendigt hatte, und rief mit lauter Stimme:
"Die eine Krankheit oder ein Gebrechen haben, sollen vortreten!" Da ging
ein Raunen und Spotten durch die Reihen, und kein einziger der Männer
folgte der Aufforderung, als sei sie nur ein Scherz gewesen.

"Na, alter Freund?" sagte der Feldwebel zu dem Landstreicher, den er
vor sich bemerkte. "Nur nicht lange geniert!" Dann wiederholte er noch ein¬
mal lauter und zur Allgemeinheit sich wendend: "Wer eine Krankheit oder ein
Gebrechen hat!"

Da faßte B. 1 seinen Nebenmann am Arm und sagte: "Kommen Sie!"

Es war ihm, als hätte die Aufforderung des Feldwebels nicht nur dem
Vagabunden, sondern auch ihm selbst gegolten, ein so starkes Solidaritätsgefühl
verband ihn mit dem Ausgestoßenen. In einer Art Reflexbewegung hatte er
ihn berührt und war mit ihm vor die Front getreten. Nun drängten sich
noch viele andere durch die Reihen und der Feldwebel mußte stoppend die
Hand heben: "Bitte nicht der ganze Jahrgang!"

In Sektionen zu viere ging es in den Saal hinein, wo die Stabsärzte
Musterung hielten. "Wo fehlt es?" -- "An der Leber?" -- "Zeigen Sie
her!" Rasch wurden die vermeintlichen kranken Organe betastet und behorcht,
und es dauerte nicht lange, da waren die wirklich Untauglichen abge¬
sondert.

B. 2 bekam nichts als einen langen Blick, der sich zu einem vielsagenden
Lächeln des einen der Stabsärzte zum andern fortsetzte. B. 1 aber, der hinter
ihm stand und den Verband vom rechten Ohr genommen hatte, hörte ein
bedenkliches Zungenschnalzen, als der Arzt das kranke Organ untersuchte. Und
dann gab es wieder ein Ausrufen und die Namen Brandis und Bungert fielen
wieder dicht beieinander.

Nun war es schon richtig Nacht geworden. Als die beiden Kameraden
dieses langen Tages ihren Zettel ausgehändigt bekommen hatten, der ihnen
ihre Untauglichkeit bescheinigte, standen sie ratlos im Saal und wußten nicht,
was sie jetzt zu tun hatten.

"Sie können abschieben!" sagte der Feldwebel zu B. 2, als er seine
Unschlüssigkeit sah. "Das Vaterland braucht Sie nicht weiter!"

"Und mich auch nicht!" dachte der Schriftsteller und fühlte wieder das
verwünschte Verlegenheitslächeln auf feinem Gesicht versteinert.


Die Ungebundenen

„Einen Stift?" B. 2 gab seinem Bündel und seinen Stiefeln einen Ruck
und stieß hastig beide Hände in die Taschen.

„Da. da!" stotterte er. „Da is noch 'n Ende!" Der Schriftsteller fühlte
ein feuchtes Klümpchen in der Hand, daß er beinahe vor Ekel fallen gelassen
hätte. Noch rechtzeitig besann er sich, daß „Stift" in der Sprache des Volkes
statt des Wortes „Kautabak" gebraucht wird. Und er dankte und tat so, als
schöbe er die so bereitwillig gespendete Gabe in seinen Mund.

Jetzt trat der Feldwebel in Begleitung eines Offiziers noch einmal an die
Abteilung heran, deren Verlesung er beendigt hatte, und rief mit lauter Stimme:
„Die eine Krankheit oder ein Gebrechen haben, sollen vortreten!" Da ging
ein Raunen und Spotten durch die Reihen, und kein einziger der Männer
folgte der Aufforderung, als sei sie nur ein Scherz gewesen.

„Na, alter Freund?" sagte der Feldwebel zu dem Landstreicher, den er
vor sich bemerkte. „Nur nicht lange geniert!" Dann wiederholte er noch ein¬
mal lauter und zur Allgemeinheit sich wendend: „Wer eine Krankheit oder ein
Gebrechen hat!"

Da faßte B. 1 seinen Nebenmann am Arm und sagte: „Kommen Sie!"

Es war ihm, als hätte die Aufforderung des Feldwebels nicht nur dem
Vagabunden, sondern auch ihm selbst gegolten, ein so starkes Solidaritätsgefühl
verband ihn mit dem Ausgestoßenen. In einer Art Reflexbewegung hatte er
ihn berührt und war mit ihm vor die Front getreten. Nun drängten sich
noch viele andere durch die Reihen und der Feldwebel mußte stoppend die
Hand heben: „Bitte nicht der ganze Jahrgang!"

In Sektionen zu viere ging es in den Saal hinein, wo die Stabsärzte
Musterung hielten. „Wo fehlt es?" — „An der Leber?" — „Zeigen Sie
her!" Rasch wurden die vermeintlichen kranken Organe betastet und behorcht,
und es dauerte nicht lange, da waren die wirklich Untauglichen abge¬
sondert.

B. 2 bekam nichts als einen langen Blick, der sich zu einem vielsagenden
Lächeln des einen der Stabsärzte zum andern fortsetzte. B. 1 aber, der hinter
ihm stand und den Verband vom rechten Ohr genommen hatte, hörte ein
bedenkliches Zungenschnalzen, als der Arzt das kranke Organ untersuchte. Und
dann gab es wieder ein Ausrufen und die Namen Brandis und Bungert fielen
wieder dicht beieinander.

Nun war es schon richtig Nacht geworden. Als die beiden Kameraden
dieses langen Tages ihren Zettel ausgehändigt bekommen hatten, der ihnen
ihre Untauglichkeit bescheinigte, standen sie ratlos im Saal und wußten nicht,
was sie jetzt zu tun hatten.

„Sie können abschieben!" sagte der Feldwebel zu B. 2, als er seine
Unschlüssigkeit sah. „Das Vaterland braucht Sie nicht weiter!"

„Und mich auch nicht!" dachte der Schriftsteller und fühlte wieder das
verwünschte Verlegenheitslächeln auf feinem Gesicht versteinert.


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[0422] Die Ungebundenen „Einen Stift?" B. 2 gab seinem Bündel und seinen Stiefeln einen Ruck und stieß hastig beide Hände in die Taschen. „Da. da!" stotterte er. „Da is noch 'n Ende!" Der Schriftsteller fühlte ein feuchtes Klümpchen in der Hand, daß er beinahe vor Ekel fallen gelassen hätte. Noch rechtzeitig besann er sich, daß „Stift" in der Sprache des Volkes statt des Wortes „Kautabak" gebraucht wird. Und er dankte und tat so, als schöbe er die so bereitwillig gespendete Gabe in seinen Mund. Jetzt trat der Feldwebel in Begleitung eines Offiziers noch einmal an die Abteilung heran, deren Verlesung er beendigt hatte, und rief mit lauter Stimme: „Die eine Krankheit oder ein Gebrechen haben, sollen vortreten!" Da ging ein Raunen und Spotten durch die Reihen, und kein einziger der Männer folgte der Aufforderung, als sei sie nur ein Scherz gewesen. „Na, alter Freund?" sagte der Feldwebel zu dem Landstreicher, den er vor sich bemerkte. „Nur nicht lange geniert!" Dann wiederholte er noch ein¬ mal lauter und zur Allgemeinheit sich wendend: „Wer eine Krankheit oder ein Gebrechen hat!" Da faßte B. 1 seinen Nebenmann am Arm und sagte: „Kommen Sie!" Es war ihm, als hätte die Aufforderung des Feldwebels nicht nur dem Vagabunden, sondern auch ihm selbst gegolten, ein so starkes Solidaritätsgefühl verband ihn mit dem Ausgestoßenen. In einer Art Reflexbewegung hatte er ihn berührt und war mit ihm vor die Front getreten. Nun drängten sich noch viele andere durch die Reihen und der Feldwebel mußte stoppend die Hand heben: „Bitte nicht der ganze Jahrgang!" In Sektionen zu viere ging es in den Saal hinein, wo die Stabsärzte Musterung hielten. „Wo fehlt es?" — „An der Leber?" — „Zeigen Sie her!" Rasch wurden die vermeintlichen kranken Organe betastet und behorcht, und es dauerte nicht lange, da waren die wirklich Untauglichen abge¬ sondert. B. 2 bekam nichts als einen langen Blick, der sich zu einem vielsagenden Lächeln des einen der Stabsärzte zum andern fortsetzte. B. 1 aber, der hinter ihm stand und den Verband vom rechten Ohr genommen hatte, hörte ein bedenkliches Zungenschnalzen, als der Arzt das kranke Organ untersuchte. Und dann gab es wieder ein Ausrufen und die Namen Brandis und Bungert fielen wieder dicht beieinander. Nun war es schon richtig Nacht geworden. Als die beiden Kameraden dieses langen Tages ihren Zettel ausgehändigt bekommen hatten, der ihnen ihre Untauglichkeit bescheinigte, standen sie ratlos im Saal und wußten nicht, was sie jetzt zu tun hatten. „Sie können abschieben!" sagte der Feldwebel zu B. 2, als er seine Unschlüssigkeit sah. „Das Vaterland braucht Sie nicht weiter!" „Und mich auch nicht!" dachte der Schriftsteller und fühlte wieder das verwünschte Verlegenheitslächeln auf feinem Gesicht versteinert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/422>, abgerufen am 02.07.2024.