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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Ungebundenen

Es war schon spät am Nachmittag, als endlich der Aufruf seines Jahr¬
gangs begann. Immer wieder war ihm ein Zweifel aufgestiegen, ob sein Name auch
wirklich in den Listen stand. Da war er viele Jahre lang kreuz und quer
durch Europa gewandert, hatte Verbindungen geknüpft und gelöst, Quartiere
gemietet und gekündigt, und sein Name sollte während all dieser Zeit ruhig
hier in der Liste des Bezirkskommandos gestanden und auf diesen Tag seiner
Verlesung gewartet haben? B. 1 kam diese Treue des toten Buchstaben zu
merkwürdig vor. Er stellte sich dicht neben den Tisch des Feldwebels auf, um
ja nicht zu überhören, wenn sein Name fallen würde und wandte dem
Sprechenden das unverbundene Ohr zu.

Wieviel Leute es doch gibt, die mit A anfangen! Aber jetzt ist "B" dran.
Ein "hier" nach dem andern fällt, und ehe er es sich versah, hatten auch seine
Lippen eins gesprochen. "Wilhelm Brandes" -- "Hier", das war alles ge¬
wesen. Wie seltsam! dachte er. Ich bin also wirklich nicht vergessen worden
unter den Hunderten von Namen! Als er sich dann zu den Abgezählten stellte,
ärgerte er sich über das verlegene Lachen, zu dem sich sein Gesicht gegen seinen
Willen verzog. Aber das hatte seinen Grund nur in dem Gefühl, daß er
eigentlich gar nicht hierher gehörte, weder nach Abstammung noch nach Beruf,
und es erlosch in demselben Augenblick, als er einen Kameraden bekam. B. 2
war es, der des Feldwebels Worte "August Bungert" mit seinem krächzenden
"hier" quittiert hatte und jetzt, die Stiefel immer noch am Strick über seiner
Schulter, statt an den Füßen tragend, über den Rasen gestolpert kam und sich
neben B. 1 postierte. Er hatte wahrhaftig das gleiche verlegene Lächeln auf
seinem versoffenen Gesicht stehen wie er selbst, und da wußte er plötzlich, daß
sie beide zusammengehörten, weil sie beide Einsame waren.

Noch eine Stunde lang standen sie so nebeneinander, der entwurzelte
Schriftsteller und der landstreichende Gelegenheitsarbeiter. Obwohl sie nicht
miteinander sprachen, fühlten sie sich doch jetzt sicherer als zuvor und blickten
mit mutigen Grimme drein. Morgen, wenn sie erst des Königs Rock tragen
würden, dachte der Schriftsteller, dann würde sich schon eine Brücke zu den
andern hinüber finden. Der Landstreicher dachte nicht so weit. Er witterte
in die Abendluft und sah unruhig nach den Wolken aus, die sich vor die unter¬
gehende Sonne schoben. Wenn die herunter kommen, ob er da wohl unter
Dach und Fach ist? Er hörte nur halb auf die Gespräche hin, die um ihn
herum geführt wurden. Und, als es hieß, der Landsturmjahrgang solle heute
noch bis nach Erfurt marschieren, da ließ er die Leute getrost bei der Meinung,
daß solch ein Marsch möglich sei: er wußte es ganz genau, daß man
mindestens fünf Stunden bis dahin braucht. B. 1 aber hatte einen Schreck
bekommen. Was? Es sollte gleich los gehen? Er hatte ja noch nicht einmal
die Hotelrechnung bezahlt. Da mußte er schleunigst jemanden hinschicken! Er
suchte nach seinem Bleistift, um die Botschaft aufzuschreiben, und, als er ihn
nicht fand, fragte er seinen Nachbarn, ob er vielleicht einen Stift bei sich hätte.


Die Ungebundenen

Es war schon spät am Nachmittag, als endlich der Aufruf seines Jahr¬
gangs begann. Immer wieder war ihm ein Zweifel aufgestiegen, ob sein Name auch
wirklich in den Listen stand. Da war er viele Jahre lang kreuz und quer
durch Europa gewandert, hatte Verbindungen geknüpft und gelöst, Quartiere
gemietet und gekündigt, und sein Name sollte während all dieser Zeit ruhig
hier in der Liste des Bezirkskommandos gestanden und auf diesen Tag seiner
Verlesung gewartet haben? B. 1 kam diese Treue des toten Buchstaben zu
merkwürdig vor. Er stellte sich dicht neben den Tisch des Feldwebels auf, um
ja nicht zu überhören, wenn sein Name fallen würde und wandte dem
Sprechenden das unverbundene Ohr zu.

Wieviel Leute es doch gibt, die mit A anfangen! Aber jetzt ist „B" dran.
Ein „hier" nach dem andern fällt, und ehe er es sich versah, hatten auch seine
Lippen eins gesprochen. „Wilhelm Brandes" — „Hier", das war alles ge¬
wesen. Wie seltsam! dachte er. Ich bin also wirklich nicht vergessen worden
unter den Hunderten von Namen! Als er sich dann zu den Abgezählten stellte,
ärgerte er sich über das verlegene Lachen, zu dem sich sein Gesicht gegen seinen
Willen verzog. Aber das hatte seinen Grund nur in dem Gefühl, daß er
eigentlich gar nicht hierher gehörte, weder nach Abstammung noch nach Beruf,
und es erlosch in demselben Augenblick, als er einen Kameraden bekam. B. 2
war es, der des Feldwebels Worte „August Bungert" mit seinem krächzenden
„hier" quittiert hatte und jetzt, die Stiefel immer noch am Strick über seiner
Schulter, statt an den Füßen tragend, über den Rasen gestolpert kam und sich
neben B. 1 postierte. Er hatte wahrhaftig das gleiche verlegene Lächeln auf
seinem versoffenen Gesicht stehen wie er selbst, und da wußte er plötzlich, daß
sie beide zusammengehörten, weil sie beide Einsame waren.

Noch eine Stunde lang standen sie so nebeneinander, der entwurzelte
Schriftsteller und der landstreichende Gelegenheitsarbeiter. Obwohl sie nicht
miteinander sprachen, fühlten sie sich doch jetzt sicherer als zuvor und blickten
mit mutigen Grimme drein. Morgen, wenn sie erst des Königs Rock tragen
würden, dachte der Schriftsteller, dann würde sich schon eine Brücke zu den
andern hinüber finden. Der Landstreicher dachte nicht so weit. Er witterte
in die Abendluft und sah unruhig nach den Wolken aus, die sich vor die unter¬
gehende Sonne schoben. Wenn die herunter kommen, ob er da wohl unter
Dach und Fach ist? Er hörte nur halb auf die Gespräche hin, die um ihn
herum geführt wurden. Und, als es hieß, der Landsturmjahrgang solle heute
noch bis nach Erfurt marschieren, da ließ er die Leute getrost bei der Meinung,
daß solch ein Marsch möglich sei: er wußte es ganz genau, daß man
mindestens fünf Stunden bis dahin braucht. B. 1 aber hatte einen Schreck
bekommen. Was? Es sollte gleich los gehen? Er hatte ja noch nicht einmal
die Hotelrechnung bezahlt. Da mußte er schleunigst jemanden hinschicken! Er
suchte nach seinem Bleistift, um die Botschaft aufzuschreiben, und, als er ihn
nicht fand, fragte er seinen Nachbarn, ob er vielleicht einen Stift bei sich hätte.


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[0421] Die Ungebundenen Es war schon spät am Nachmittag, als endlich der Aufruf seines Jahr¬ gangs begann. Immer wieder war ihm ein Zweifel aufgestiegen, ob sein Name auch wirklich in den Listen stand. Da war er viele Jahre lang kreuz und quer durch Europa gewandert, hatte Verbindungen geknüpft und gelöst, Quartiere gemietet und gekündigt, und sein Name sollte während all dieser Zeit ruhig hier in der Liste des Bezirkskommandos gestanden und auf diesen Tag seiner Verlesung gewartet haben? B. 1 kam diese Treue des toten Buchstaben zu merkwürdig vor. Er stellte sich dicht neben den Tisch des Feldwebels auf, um ja nicht zu überhören, wenn sein Name fallen würde und wandte dem Sprechenden das unverbundene Ohr zu. Wieviel Leute es doch gibt, die mit A anfangen! Aber jetzt ist „B" dran. Ein „hier" nach dem andern fällt, und ehe er es sich versah, hatten auch seine Lippen eins gesprochen. „Wilhelm Brandes" — „Hier", das war alles ge¬ wesen. Wie seltsam! dachte er. Ich bin also wirklich nicht vergessen worden unter den Hunderten von Namen! Als er sich dann zu den Abgezählten stellte, ärgerte er sich über das verlegene Lachen, zu dem sich sein Gesicht gegen seinen Willen verzog. Aber das hatte seinen Grund nur in dem Gefühl, daß er eigentlich gar nicht hierher gehörte, weder nach Abstammung noch nach Beruf, und es erlosch in demselben Augenblick, als er einen Kameraden bekam. B. 2 war es, der des Feldwebels Worte „August Bungert" mit seinem krächzenden „hier" quittiert hatte und jetzt, die Stiefel immer noch am Strick über seiner Schulter, statt an den Füßen tragend, über den Rasen gestolpert kam und sich neben B. 1 postierte. Er hatte wahrhaftig das gleiche verlegene Lächeln auf seinem versoffenen Gesicht stehen wie er selbst, und da wußte er plötzlich, daß sie beide zusammengehörten, weil sie beide Einsame waren. Noch eine Stunde lang standen sie so nebeneinander, der entwurzelte Schriftsteller und der landstreichende Gelegenheitsarbeiter. Obwohl sie nicht miteinander sprachen, fühlten sie sich doch jetzt sicherer als zuvor und blickten mit mutigen Grimme drein. Morgen, wenn sie erst des Königs Rock tragen würden, dachte der Schriftsteller, dann würde sich schon eine Brücke zu den andern hinüber finden. Der Landstreicher dachte nicht so weit. Er witterte in die Abendluft und sah unruhig nach den Wolken aus, die sich vor die unter¬ gehende Sonne schoben. Wenn die herunter kommen, ob er da wohl unter Dach und Fach ist? Er hörte nur halb auf die Gespräche hin, die um ihn herum geführt wurden. Und, als es hieß, der Landsturmjahrgang solle heute noch bis nach Erfurt marschieren, da ließ er die Leute getrost bei der Meinung, daß solch ein Marsch möglich sei: er wußte es ganz genau, daß man mindestens fünf Stunden bis dahin braucht. B. 1 aber hatte einen Schreck bekommen. Was? Es sollte gleich los gehen? Er hatte ja noch nicht einmal die Hotelrechnung bezahlt. Da mußte er schleunigst jemanden hinschicken! Er suchte nach seinem Bleistift, um die Botschaft aufzuschreiben, und, als er ihn nicht fand, fragte er seinen Nachbarn, ob er vielleicht einen Stift bei sich hätte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/421>, abgerufen am 02.07.2024.