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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Ungebundenen

Lebensmut gebracht, der ihm seit gestern Schwingen verlieh. So verhindern
oft Äußerlichkeiten, daß sich Menschen zusammenfinden, die zueinander gehören,
und werden zum Anlaß, daß sie sich kränken, statt daß sie sich gegenseitig
stützen. B. 1 nahm seine Ledertasche und ging. B. 2 gab mit einem Ruck
seinem Bündel die bequemste Lage und ging auch. Hunderte waren vor ihnen,
neben ihnen, hinter ihnen in derselben Richtung unterwegs, nur zielbewußter
als die beiden und ganz und gar nicht von ihrem Zweifel besessen: "Ob ich
auch richtig gehe?"

Oben unter den Eichen des Schießhausgartens begann mit Heda und
Halloh ein lautes Begrüßen. Ein freundschaftlicher Puff in die Seite, ein
kräftiger Schlag der flachen Hand auf Schulter oder Rücken, oder auch auf
die Mütze, ersetzte den zahmen Händedruck. "Bist du auch da, alter Kräuter?
Hallo! Da ist ja auch der Vetter aus Vieselbach!" Überallher finden sich die
Bekannten und Verwandten und brechen in gutmütiges Lachen aus, wenn sie
sich entdecken. Regimentskameraden erkennen sich wieder unter angegrauten
Haar oder unter dem Fettpolster, das sie sich in den guten Zeiten angemästet
haben, kurz, es gibt kaum einen, der sich nicht nach wenigen Minuten Kopf-
Wendens oder Halsreckens seiner Freundschaft hätte angliedern können. Da
wurde es B. 1 einsam und traurig zumute, denn er kannte niemand von all
diesen fröhlichen Männern. Es fing ihn an zu frieren, und zum erstenmal
seit seiner Abreise dachte er wieder an seine Krankheit und fühlte den Lärm
um ihn herum in seinem Ohr ein schmerzhaftes Echo wecken. Es war aber
vor allem der Zustand seines Gemüts, der ihn frösteln machte. Einen Kognak
wollte er trinken, um sich gegen all die festen Männer in der Runde zu er¬
mannen. Da machte er die Erfahrung, daß ihre derbe Fröhlichkeit ohne einen
Tropfen Alkohol zustandegekommen war: dem Befehl gemäß durfte weder
Schnaps noch Bier auf dieser Gestellung zum Ausschau! gelangen. So blieb
ihm nichts anderes übrig, als inmitten der Herzenswärme rings weiter zu frieren.

Plötzlich bekam das kreuz und quer erschallende Lachen des menschen¬
erfüllten Gartens Ziel und Richtung: eine Gasse bildete sich, und durch sie
hindurch kam B. 2 geschritten. Vor sich verbreitete er sprachlose Überraschung,
hinter sich aber entfesseltste er wahre Salven von Gelächter. Das knatterte
und schnob und prustete in allen Tonarten. Zuzugeben ist, daß er zum Tot¬
lachen aussah, der arme Kerl, mitten unter diesen Männern der Arbeit und
des Fleißes: die alte Jockenmütze schief auf den angegrauten Locken seines
Haars, das stopplige Kinn vorgestreckt, das rötliche, mit Pickeln bedeckte Gesicht
zu einem gewaltsamen Trotz zusammengezogen, der zu den tränenden Augen
und der tröpfelnden Nase nicht recht stimmte. -- so sah auch B. 1 den Mann an
sich vorüberziehen, und da wollte es ihm vorkommen, als sähe er endlich ein
bekanntes Gesicht. Wo nur war er ihm begegnet? Diesem ausgemergelten
durchfurchten Hals, diesen dürren Beinen mit den pustelübersäten, nackten Füßen
und vor allem diesem lächerlichen, blaugrauen Sweater, der an der Stelle des


Die Ungebundenen

Lebensmut gebracht, der ihm seit gestern Schwingen verlieh. So verhindern
oft Äußerlichkeiten, daß sich Menschen zusammenfinden, die zueinander gehören,
und werden zum Anlaß, daß sie sich kränken, statt daß sie sich gegenseitig
stützen. B. 1 nahm seine Ledertasche und ging. B. 2 gab mit einem Ruck
seinem Bündel die bequemste Lage und ging auch. Hunderte waren vor ihnen,
neben ihnen, hinter ihnen in derselben Richtung unterwegs, nur zielbewußter
als die beiden und ganz und gar nicht von ihrem Zweifel besessen: „Ob ich
auch richtig gehe?"

Oben unter den Eichen des Schießhausgartens begann mit Heda und
Halloh ein lautes Begrüßen. Ein freundschaftlicher Puff in die Seite, ein
kräftiger Schlag der flachen Hand auf Schulter oder Rücken, oder auch auf
die Mütze, ersetzte den zahmen Händedruck. „Bist du auch da, alter Kräuter?
Hallo! Da ist ja auch der Vetter aus Vieselbach!" Überallher finden sich die
Bekannten und Verwandten und brechen in gutmütiges Lachen aus, wenn sie
sich entdecken. Regimentskameraden erkennen sich wieder unter angegrauten
Haar oder unter dem Fettpolster, das sie sich in den guten Zeiten angemästet
haben, kurz, es gibt kaum einen, der sich nicht nach wenigen Minuten Kopf-
Wendens oder Halsreckens seiner Freundschaft hätte angliedern können. Da
wurde es B. 1 einsam und traurig zumute, denn er kannte niemand von all
diesen fröhlichen Männern. Es fing ihn an zu frieren, und zum erstenmal
seit seiner Abreise dachte er wieder an seine Krankheit und fühlte den Lärm
um ihn herum in seinem Ohr ein schmerzhaftes Echo wecken. Es war aber
vor allem der Zustand seines Gemüts, der ihn frösteln machte. Einen Kognak
wollte er trinken, um sich gegen all die festen Männer in der Runde zu er¬
mannen. Da machte er die Erfahrung, daß ihre derbe Fröhlichkeit ohne einen
Tropfen Alkohol zustandegekommen war: dem Befehl gemäß durfte weder
Schnaps noch Bier auf dieser Gestellung zum Ausschau! gelangen. So blieb
ihm nichts anderes übrig, als inmitten der Herzenswärme rings weiter zu frieren.

Plötzlich bekam das kreuz und quer erschallende Lachen des menschen¬
erfüllten Gartens Ziel und Richtung: eine Gasse bildete sich, und durch sie
hindurch kam B. 2 geschritten. Vor sich verbreitete er sprachlose Überraschung,
hinter sich aber entfesseltste er wahre Salven von Gelächter. Das knatterte
und schnob und prustete in allen Tonarten. Zuzugeben ist, daß er zum Tot¬
lachen aussah, der arme Kerl, mitten unter diesen Männern der Arbeit und
des Fleißes: die alte Jockenmütze schief auf den angegrauten Locken seines
Haars, das stopplige Kinn vorgestreckt, das rötliche, mit Pickeln bedeckte Gesicht
zu einem gewaltsamen Trotz zusammengezogen, der zu den tränenden Augen
und der tröpfelnden Nase nicht recht stimmte. — so sah auch B. 1 den Mann an
sich vorüberziehen, und da wollte es ihm vorkommen, als sähe er endlich ein
bekanntes Gesicht. Wo nur war er ihm begegnet? Diesem ausgemergelten
durchfurchten Hals, diesen dürren Beinen mit den pustelübersäten, nackten Füßen
und vor allem diesem lächerlichen, blaugrauen Sweater, der an der Stelle des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/419>, abgerufen am 02.07.2024.