Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Ungebundenen

stellte er fest, daß die Stiefel fest und ohne Fehl waren, und, daß der wollene
"Schwitzer" nicht einmal zwängte, wenn er ihn über seiner Jacke trug. "Der
Herr Kantor scheint gut bei Leibe zu sein!" dachte B. schmunzelnd. "Aber,
weshalb die junge Frau wohl so traurige Augen gemacht hat?" Nicht nur
voraus, auch zurück konnte er jetzt seine Gedanken schicken, nachdem er aus seiner
Gleichgültigkeit aufgeweckt worden war. Und da griff es ihn plötzlich ans
Herz: Der Mann war tot, dessen Sachen er in seinen Händen hielt, war ge¬
fallen im Kampf fürs Vaterland. Nun verstand er die Worte der bekümmerten
Spenderin: "Nehmen Sie die Stiefel! Ich hätte sie ihm ja auch ins Feld
geschickt!"

Vielfältige Empfindungen waren es, die den Beschenkten auf dem Nest
seines Weges erfüllten und beschäftigten, so daß er seine wunden Füße vergaß.
Mitleid war dabei, aber auch Erstaunen, darüber, daß die Welle der gewaltigen
Zeit bis in sein armseliges Geschick hineinflutete. Eine Spur von Menschen¬
würde war in dem Bewußtsein des Vagabunden wach geworden. So kam es,
daß er wirklich noch vor Nacht in der Herberge von W. anlangte.---

Der Versammlungsplatz für den Landsturm war der geräumige Garten
des Schützenhauses. Heute ging es dort her, wie es vor zweitausend Jahren
im germanischen Walde zugegangen sein mag, wenn die waffenfähigen Männer
zum Ting zusammenströmten. Die Gestellung betraf die Jahrgänge 38 bis 42,
die nun in Scharen aus Dorf und Stadt und Wald anmarschiert kamen,
meistens aber aus dem Dorfe, denn W. ist die Hauptstadt eines Bauernlandes.
Frisch aus der Ernte kam die Mehrzahl und war deshalb braun gebrannt an
Gesicht und Händen und fröhlichen Gemüts: Sonne und Wind hatten ihre
Arbeit gesegnet und ihnen die Scheuern gefüllt. Da konnte man getrost den
Frauen und den Großvätern und Kindern überlassen, was es noch zu tun
gab im Felde, und selber mal für eine Weile nach Frankreich ziehen oder
gegen die Kosaken, die dreimal verfluchten Mordbrenner. Lauter stattliche,
blonde Männer waren es, die hintereinander her oder in Gruppen den Berg
hinanpilgerten, eine Pappschachtel mit den vorgeschriebenen Ausrüstungsgegen¬
ständen in der Hand oder über dem Rücken.

B. 1 und B. 2 schritten denselben Weg, immer noch, ohne von einander
zu wissen. Und doch waren sie sich kurz vorher schon einmal begegnet. Es
war auf dem Markt am Rathaus, wo B. 1 das Plakat mit der Einberufungs¬
order zu allem Überfluß noch einmal studierte. Auch B. 2 hatte sich dazu
gestellt und machte den Versuch, seinen Jahrgang herauszufinden, aber ihm
tränken die Augen von dem Wind der Landstraße und vom scharfen Fusel, den er
sich am Morgen noch rasch erschnorrt hatte. Der Hauch seines Mundes be¬
leidigte den Geruchssinn des Herrn neben ihm, dem er seinen Kopf hatte nahe
bringen müssen, um besser sehen zu können. Er kannte diese Miene des Ab¬
scheus, mit der jener sich umdrehte aus mancher, längst nicht mehr demütigender
Erfahrung, aber heute fühlte er sich von ihr getroffen und um den schönen


Die Ungebundenen

stellte er fest, daß die Stiefel fest und ohne Fehl waren, und, daß der wollene
„Schwitzer" nicht einmal zwängte, wenn er ihn über seiner Jacke trug. „Der
Herr Kantor scheint gut bei Leibe zu sein!" dachte B. schmunzelnd. „Aber,
weshalb die junge Frau wohl so traurige Augen gemacht hat?" Nicht nur
voraus, auch zurück konnte er jetzt seine Gedanken schicken, nachdem er aus seiner
Gleichgültigkeit aufgeweckt worden war. Und da griff es ihn plötzlich ans
Herz: Der Mann war tot, dessen Sachen er in seinen Händen hielt, war ge¬
fallen im Kampf fürs Vaterland. Nun verstand er die Worte der bekümmerten
Spenderin: „Nehmen Sie die Stiefel! Ich hätte sie ihm ja auch ins Feld
geschickt!"

Vielfältige Empfindungen waren es, die den Beschenkten auf dem Nest
seines Weges erfüllten und beschäftigten, so daß er seine wunden Füße vergaß.
Mitleid war dabei, aber auch Erstaunen, darüber, daß die Welle der gewaltigen
Zeit bis in sein armseliges Geschick hineinflutete. Eine Spur von Menschen¬
würde war in dem Bewußtsein des Vagabunden wach geworden. So kam es,
daß er wirklich noch vor Nacht in der Herberge von W. anlangte.---

Der Versammlungsplatz für den Landsturm war der geräumige Garten
des Schützenhauses. Heute ging es dort her, wie es vor zweitausend Jahren
im germanischen Walde zugegangen sein mag, wenn die waffenfähigen Männer
zum Ting zusammenströmten. Die Gestellung betraf die Jahrgänge 38 bis 42,
die nun in Scharen aus Dorf und Stadt und Wald anmarschiert kamen,
meistens aber aus dem Dorfe, denn W. ist die Hauptstadt eines Bauernlandes.
Frisch aus der Ernte kam die Mehrzahl und war deshalb braun gebrannt an
Gesicht und Händen und fröhlichen Gemüts: Sonne und Wind hatten ihre
Arbeit gesegnet und ihnen die Scheuern gefüllt. Da konnte man getrost den
Frauen und den Großvätern und Kindern überlassen, was es noch zu tun
gab im Felde, und selber mal für eine Weile nach Frankreich ziehen oder
gegen die Kosaken, die dreimal verfluchten Mordbrenner. Lauter stattliche,
blonde Männer waren es, die hintereinander her oder in Gruppen den Berg
hinanpilgerten, eine Pappschachtel mit den vorgeschriebenen Ausrüstungsgegen¬
ständen in der Hand oder über dem Rücken.

B. 1 und B. 2 schritten denselben Weg, immer noch, ohne von einander
zu wissen. Und doch waren sie sich kurz vorher schon einmal begegnet. Es
war auf dem Markt am Rathaus, wo B. 1 das Plakat mit der Einberufungs¬
order zu allem Überfluß noch einmal studierte. Auch B. 2 hatte sich dazu
gestellt und machte den Versuch, seinen Jahrgang herauszufinden, aber ihm
tränken die Augen von dem Wind der Landstraße und vom scharfen Fusel, den er
sich am Morgen noch rasch erschnorrt hatte. Der Hauch seines Mundes be¬
leidigte den Geruchssinn des Herrn neben ihm, dem er seinen Kopf hatte nahe
bringen müssen, um besser sehen zu können. Er kannte diese Miene des Ab¬
scheus, mit der jener sich umdrehte aus mancher, längst nicht mehr demütigender
Erfahrung, aber heute fühlte er sich von ihr getroffen und um den schönen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0418" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329646"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Ungebundenen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1453" prev="#ID_1452"> stellte er fest, daß die Stiefel fest und ohne Fehl waren, und, daß der wollene<lb/>
&#x201E;Schwitzer" nicht einmal zwängte, wenn er ihn über seiner Jacke trug. &#x201E;Der<lb/>
Herr Kantor scheint gut bei Leibe zu sein!" dachte B. schmunzelnd. &#x201E;Aber,<lb/>
weshalb die junge Frau wohl so traurige Augen gemacht hat?" Nicht nur<lb/>
voraus, auch zurück konnte er jetzt seine Gedanken schicken, nachdem er aus seiner<lb/>
Gleichgültigkeit aufgeweckt worden war. Und da griff es ihn plötzlich ans<lb/>
Herz: Der Mann war tot, dessen Sachen er in seinen Händen hielt, war ge¬<lb/>
fallen im Kampf fürs Vaterland. Nun verstand er die Worte der bekümmerten<lb/>
Spenderin: &#x201E;Nehmen Sie die Stiefel! Ich hätte sie ihm ja auch ins Feld<lb/>
geschickt!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1454"> Vielfältige Empfindungen waren es, die den Beschenkten auf dem Nest<lb/>
seines Weges erfüllten und beschäftigten, so daß er seine wunden Füße vergaß.<lb/>
Mitleid war dabei, aber auch Erstaunen, darüber, daß die Welle der gewaltigen<lb/>
Zeit bis in sein armseliges Geschick hineinflutete. Eine Spur von Menschen¬<lb/>
würde war in dem Bewußtsein des Vagabunden wach geworden. So kam es,<lb/>
daß er wirklich noch vor Nacht in der Herberge von W. anlangte.---</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1455"> Der Versammlungsplatz für den Landsturm war der geräumige Garten<lb/>
des Schützenhauses. Heute ging es dort her, wie es vor zweitausend Jahren<lb/>
im germanischen Walde zugegangen sein mag, wenn die waffenfähigen Männer<lb/>
zum Ting zusammenströmten. Die Gestellung betraf die Jahrgänge 38 bis 42,<lb/>
die nun in Scharen aus Dorf und Stadt und Wald anmarschiert kamen,<lb/>
meistens aber aus dem Dorfe, denn W. ist die Hauptstadt eines Bauernlandes.<lb/>
Frisch aus der Ernte kam die Mehrzahl und war deshalb braun gebrannt an<lb/>
Gesicht und Händen und fröhlichen Gemüts: Sonne und Wind hatten ihre<lb/>
Arbeit gesegnet und ihnen die Scheuern gefüllt. Da konnte man getrost den<lb/>
Frauen und den Großvätern und Kindern überlassen, was es noch zu tun<lb/>
gab im Felde, und selber mal für eine Weile nach Frankreich ziehen oder<lb/>
gegen die Kosaken, die dreimal verfluchten Mordbrenner. Lauter stattliche,<lb/>
blonde Männer waren es, die hintereinander her oder in Gruppen den Berg<lb/>
hinanpilgerten, eine Pappschachtel mit den vorgeschriebenen Ausrüstungsgegen¬<lb/>
ständen in der Hand oder über dem Rücken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1456" next="#ID_1457"> B. 1 und B. 2 schritten denselben Weg, immer noch, ohne von einander<lb/>
zu wissen. Und doch waren sie sich kurz vorher schon einmal begegnet. Es<lb/>
war auf dem Markt am Rathaus, wo B. 1 das Plakat mit der Einberufungs¬<lb/>
order zu allem Überfluß noch einmal studierte. Auch B. 2 hatte sich dazu<lb/>
gestellt und machte den Versuch, seinen Jahrgang herauszufinden, aber ihm<lb/>
tränken die Augen von dem Wind der Landstraße und vom scharfen Fusel, den er<lb/>
sich am Morgen noch rasch erschnorrt hatte. Der Hauch seines Mundes be¬<lb/>
leidigte den Geruchssinn des Herrn neben ihm, dem er seinen Kopf hatte nahe<lb/>
bringen müssen, um besser sehen zu können. Er kannte diese Miene des Ab¬<lb/>
scheus, mit der jener sich umdrehte aus mancher, längst nicht mehr demütigender<lb/>
Erfahrung, aber heute fühlte er sich von ihr getroffen und um den schönen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0418] Die Ungebundenen stellte er fest, daß die Stiefel fest und ohne Fehl waren, und, daß der wollene „Schwitzer" nicht einmal zwängte, wenn er ihn über seiner Jacke trug. „Der Herr Kantor scheint gut bei Leibe zu sein!" dachte B. schmunzelnd. „Aber, weshalb die junge Frau wohl so traurige Augen gemacht hat?" Nicht nur voraus, auch zurück konnte er jetzt seine Gedanken schicken, nachdem er aus seiner Gleichgültigkeit aufgeweckt worden war. Und da griff es ihn plötzlich ans Herz: Der Mann war tot, dessen Sachen er in seinen Händen hielt, war ge¬ fallen im Kampf fürs Vaterland. Nun verstand er die Worte der bekümmerten Spenderin: „Nehmen Sie die Stiefel! Ich hätte sie ihm ja auch ins Feld geschickt!" Vielfältige Empfindungen waren es, die den Beschenkten auf dem Nest seines Weges erfüllten und beschäftigten, so daß er seine wunden Füße vergaß. Mitleid war dabei, aber auch Erstaunen, darüber, daß die Welle der gewaltigen Zeit bis in sein armseliges Geschick hineinflutete. Eine Spur von Menschen¬ würde war in dem Bewußtsein des Vagabunden wach geworden. So kam es, daß er wirklich noch vor Nacht in der Herberge von W. anlangte.--- Der Versammlungsplatz für den Landsturm war der geräumige Garten des Schützenhauses. Heute ging es dort her, wie es vor zweitausend Jahren im germanischen Walde zugegangen sein mag, wenn die waffenfähigen Männer zum Ting zusammenströmten. Die Gestellung betraf die Jahrgänge 38 bis 42, die nun in Scharen aus Dorf und Stadt und Wald anmarschiert kamen, meistens aber aus dem Dorfe, denn W. ist die Hauptstadt eines Bauernlandes. Frisch aus der Ernte kam die Mehrzahl und war deshalb braun gebrannt an Gesicht und Händen und fröhlichen Gemüts: Sonne und Wind hatten ihre Arbeit gesegnet und ihnen die Scheuern gefüllt. Da konnte man getrost den Frauen und den Großvätern und Kindern überlassen, was es noch zu tun gab im Felde, und selber mal für eine Weile nach Frankreich ziehen oder gegen die Kosaken, die dreimal verfluchten Mordbrenner. Lauter stattliche, blonde Männer waren es, die hintereinander her oder in Gruppen den Berg hinanpilgerten, eine Pappschachtel mit den vorgeschriebenen Ausrüstungsgegen¬ ständen in der Hand oder über dem Rücken. B. 1 und B. 2 schritten denselben Weg, immer noch, ohne von einander zu wissen. Und doch waren sie sich kurz vorher schon einmal begegnet. Es war auf dem Markt am Rathaus, wo B. 1 das Plakat mit der Einberufungs¬ order zu allem Überfluß noch einmal studierte. Auch B. 2 hatte sich dazu gestellt und machte den Versuch, seinen Jahrgang herauszufinden, aber ihm tränken die Augen von dem Wind der Landstraße und vom scharfen Fusel, den er sich am Morgen noch rasch erschnorrt hatte. Der Hauch seines Mundes be¬ leidigte den Geruchssinn des Herrn neben ihm, dem er seinen Kopf hatte nahe bringen müssen, um besser sehen zu können. Er kannte diese Miene des Ab¬ scheus, mit der jener sich umdrehte aus mancher, längst nicht mehr demütigender Erfahrung, aber heute fühlte er sich von ihr getroffen und um den schönen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/418
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/418>, abgerufen am 02.07.2024.