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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Ungebundenen

sah er eine Kompagnie Soldaten üben. Eben standen sie noch, schnurgerade
ausgerichtet, in breitem Zug, da lösten sie sich auf das Kommando ihres berittenen
Führers und schwenkten in Sektionen zu viere, strammen Schritts in die Chaussee
ein. Hier aber hieß es "ohne Tritt marsch". Die Haltung des einzelnen löste
sich, die Gewehre wurden an den Riemen gehängt oder in beliebiger Lage
getragen, so daß sie ein Durcheinander ergaben, wie die Zweige des entblätterten
Waldes, und bald setzten Hunderte von kräftigen Soldatenstimmen zu einem
Marschlicd ein, daß die unwilligen Gliedmaßen des guten B. 2 auf einmal
gefügig machte, so daß es ihm gelang, eine ganze Weile im Tonbereich der
Truppe vor ihm zu bleiben und die Kilometersteine am Straßenrand zu vergessen.
Ja -- er summte sogar im Takte mit und krächzte schließlich zwischen seinen
Zahnlücken dieses und jenes Textwort hervor, das sein trübes Gedächtnis behalten
hatte. Beim Lied vom guten Kameraden wurde ihm ganz warm ums Herz
und er sah das Leben, das ihn erwartete, plötzlich in einem neuen Licht. Er
sollte also auch nochmal mit andern, mit Kameraden, in gleichem Schritt und
Tritt marschieren dürfen?

Als die Truppe bei einer Straßenkreuzung von der Richtung abbog, die
der Landsturmmann zu nehmen hatte, blieb er lange stehen und sah ihr nach,
etwa wie ein Hund seinem Herrn nachsteht, wenn er ihn nicht weiter begleiten
darf. Er wäre am liebsten bis ans Ende der Welt dem Zuge dieser Rhythmen
gefolgt. Allein weiter zu marschieren wurde ihm jetzt erst recht sauer, aber so
war er aufgerüttelt worden aus seiner Stumpfheit, daß er seinen Schritten
einen Gedanken vorausschicken konnte, während er gestern noch nicht weiter hätte
denken können als bis zur nächsten Stunde oder bis zum nächsten Dorf.
"Donnerwetter!" dachte er, "morgen bist du auch darunter. Da haben die
jungen Leute, die dort marschieren, nichts mehr vor dir voraus. Auch dich
hat das Vaterland gerufen, weil es dich braucht. Erinnerst du dich, daß dich
überhaupt mal jemand gebraucht hat? Also sei froh, alter Lüdrian. und lege
einen Schritt zu. Du kennst dich doch jetzt wieder aus hier. Wenn du dort oben
bei der alten Pappel bist, die der Herr Napoleon höchst eigenhändig gepflanzt
haben soll, dann siehst du die Türme von W., und es sind nur noch zehntausend
Meter bis dahin. Vorher aber kommt Budelbach und Leppenstädt." Er riß
sich zusammen und konnte in den Dörfern seine Bitte so beredt und mit so
patriotischer Begründung vortragen, daß er nicht nur ein Paar Schaftstiefel
erschnorrte, sondern sogar das im Aufruf des Landsturms von der Militär¬
behörde gewünschte Unterzeug in Gestalt eines wollenen Sweaters geschenkt
bekam. Nicht das Pfarrhaus von Leppenstädt hatte den Wurstzippel verdient,
vielmehr gegenüber das Kantorhaus. Die junge Frau Kantor hätte am Ende
noch mehr hergegeben, wenn der Mann mit dem Anfangsbuchstaben B. es nicht
so eilig gehabt hätte. Aber den drängte es, die Trittlinge ungestört unter¬
suchen zu können. Und wer weiß, ob sie nicht ein Paar gegriffen hatte, die
sie bei reiflicher Überlegung wieder zurücknehmen würde. Hinter der Hecke


Die Ungebundenen

sah er eine Kompagnie Soldaten üben. Eben standen sie noch, schnurgerade
ausgerichtet, in breitem Zug, da lösten sie sich auf das Kommando ihres berittenen
Führers und schwenkten in Sektionen zu viere, strammen Schritts in die Chaussee
ein. Hier aber hieß es „ohne Tritt marsch". Die Haltung des einzelnen löste
sich, die Gewehre wurden an den Riemen gehängt oder in beliebiger Lage
getragen, so daß sie ein Durcheinander ergaben, wie die Zweige des entblätterten
Waldes, und bald setzten Hunderte von kräftigen Soldatenstimmen zu einem
Marschlicd ein, daß die unwilligen Gliedmaßen des guten B. 2 auf einmal
gefügig machte, so daß es ihm gelang, eine ganze Weile im Tonbereich der
Truppe vor ihm zu bleiben und die Kilometersteine am Straßenrand zu vergessen.
Ja — er summte sogar im Takte mit und krächzte schließlich zwischen seinen
Zahnlücken dieses und jenes Textwort hervor, das sein trübes Gedächtnis behalten
hatte. Beim Lied vom guten Kameraden wurde ihm ganz warm ums Herz
und er sah das Leben, das ihn erwartete, plötzlich in einem neuen Licht. Er
sollte also auch nochmal mit andern, mit Kameraden, in gleichem Schritt und
Tritt marschieren dürfen?

Als die Truppe bei einer Straßenkreuzung von der Richtung abbog, die
der Landsturmmann zu nehmen hatte, blieb er lange stehen und sah ihr nach,
etwa wie ein Hund seinem Herrn nachsteht, wenn er ihn nicht weiter begleiten
darf. Er wäre am liebsten bis ans Ende der Welt dem Zuge dieser Rhythmen
gefolgt. Allein weiter zu marschieren wurde ihm jetzt erst recht sauer, aber so
war er aufgerüttelt worden aus seiner Stumpfheit, daß er seinen Schritten
einen Gedanken vorausschicken konnte, während er gestern noch nicht weiter hätte
denken können als bis zur nächsten Stunde oder bis zum nächsten Dorf.
„Donnerwetter!" dachte er, „morgen bist du auch darunter. Da haben die
jungen Leute, die dort marschieren, nichts mehr vor dir voraus. Auch dich
hat das Vaterland gerufen, weil es dich braucht. Erinnerst du dich, daß dich
überhaupt mal jemand gebraucht hat? Also sei froh, alter Lüdrian. und lege
einen Schritt zu. Du kennst dich doch jetzt wieder aus hier. Wenn du dort oben
bei der alten Pappel bist, die der Herr Napoleon höchst eigenhändig gepflanzt
haben soll, dann siehst du die Türme von W., und es sind nur noch zehntausend
Meter bis dahin. Vorher aber kommt Budelbach und Leppenstädt." Er riß
sich zusammen und konnte in den Dörfern seine Bitte so beredt und mit so
patriotischer Begründung vortragen, daß er nicht nur ein Paar Schaftstiefel
erschnorrte, sondern sogar das im Aufruf des Landsturms von der Militär¬
behörde gewünschte Unterzeug in Gestalt eines wollenen Sweaters geschenkt
bekam. Nicht das Pfarrhaus von Leppenstädt hatte den Wurstzippel verdient,
vielmehr gegenüber das Kantorhaus. Die junge Frau Kantor hätte am Ende
noch mehr hergegeben, wenn der Mann mit dem Anfangsbuchstaben B. es nicht
so eilig gehabt hätte. Aber den drängte es, die Trittlinge ungestört unter¬
suchen zu können. Und wer weiß, ob sie nicht ein Paar gegriffen hatte, die
sie bei reiflicher Überlegung wieder zurücknehmen würde. Hinter der Hecke


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[0417] Die Ungebundenen sah er eine Kompagnie Soldaten üben. Eben standen sie noch, schnurgerade ausgerichtet, in breitem Zug, da lösten sie sich auf das Kommando ihres berittenen Führers und schwenkten in Sektionen zu viere, strammen Schritts in die Chaussee ein. Hier aber hieß es „ohne Tritt marsch". Die Haltung des einzelnen löste sich, die Gewehre wurden an den Riemen gehängt oder in beliebiger Lage getragen, so daß sie ein Durcheinander ergaben, wie die Zweige des entblätterten Waldes, und bald setzten Hunderte von kräftigen Soldatenstimmen zu einem Marschlicd ein, daß die unwilligen Gliedmaßen des guten B. 2 auf einmal gefügig machte, so daß es ihm gelang, eine ganze Weile im Tonbereich der Truppe vor ihm zu bleiben und die Kilometersteine am Straßenrand zu vergessen. Ja — er summte sogar im Takte mit und krächzte schließlich zwischen seinen Zahnlücken dieses und jenes Textwort hervor, das sein trübes Gedächtnis behalten hatte. Beim Lied vom guten Kameraden wurde ihm ganz warm ums Herz und er sah das Leben, das ihn erwartete, plötzlich in einem neuen Licht. Er sollte also auch nochmal mit andern, mit Kameraden, in gleichem Schritt und Tritt marschieren dürfen? Als die Truppe bei einer Straßenkreuzung von der Richtung abbog, die der Landsturmmann zu nehmen hatte, blieb er lange stehen und sah ihr nach, etwa wie ein Hund seinem Herrn nachsteht, wenn er ihn nicht weiter begleiten darf. Er wäre am liebsten bis ans Ende der Welt dem Zuge dieser Rhythmen gefolgt. Allein weiter zu marschieren wurde ihm jetzt erst recht sauer, aber so war er aufgerüttelt worden aus seiner Stumpfheit, daß er seinen Schritten einen Gedanken vorausschicken konnte, während er gestern noch nicht weiter hätte denken können als bis zur nächsten Stunde oder bis zum nächsten Dorf. „Donnerwetter!" dachte er, „morgen bist du auch darunter. Da haben die jungen Leute, die dort marschieren, nichts mehr vor dir voraus. Auch dich hat das Vaterland gerufen, weil es dich braucht. Erinnerst du dich, daß dich überhaupt mal jemand gebraucht hat? Also sei froh, alter Lüdrian. und lege einen Schritt zu. Du kennst dich doch jetzt wieder aus hier. Wenn du dort oben bei der alten Pappel bist, die der Herr Napoleon höchst eigenhändig gepflanzt haben soll, dann siehst du die Türme von W., und es sind nur noch zehntausend Meter bis dahin. Vorher aber kommt Budelbach und Leppenstädt." Er riß sich zusammen und konnte in den Dörfern seine Bitte so beredt und mit so patriotischer Begründung vortragen, daß er nicht nur ein Paar Schaftstiefel erschnorrte, sondern sogar das im Aufruf des Landsturms von der Militär¬ behörde gewünschte Unterzeug in Gestalt eines wollenen Sweaters geschenkt bekam. Nicht das Pfarrhaus von Leppenstädt hatte den Wurstzippel verdient, vielmehr gegenüber das Kantorhaus. Die junge Frau Kantor hätte am Ende noch mehr hergegeben, wenn der Mann mit dem Anfangsbuchstaben B. es nicht so eilig gehabt hätte. Aber den drängte es, die Trittlinge ungestört unter¬ suchen zu können. Und wer weiß, ob sie nicht ein Paar gegriffen hatte, die sie bei reiflicher Überlegung wieder zurücknehmen würde. Hinter der Hecke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/417>, abgerufen am 02.07.2024.