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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Ungebundenen

die Bewohner dieser niedrigen Häuserreihen ebenso zu Deutschland gehörten, wie
die Bitterfelder und Hallenser, denn auch hier marschierten die Dreikäsehochs in
Papierhelmen und mit Holzschwertern hinter ihrem Trommler her, und keiner
wollte der Franzose sein, aber am allerwenigsten der Engländer.

So eroberte sich der Mann mit dem Anfangsbuchstaben "B" auf seiner
Fahrt nach der Stadt seines Landsturmbezirks beglückten Sinns ein größeres
Deutschland. -----

Aber es ist hier noch von einem zweiten "B" die Rede, und zu Ehren
dieses zweiten Herrn B. sei von vornherein festgestellt, daß er die Größe Deutschlands,
räumlich genommen, längst erkannt hatte, wie wenig er auch von seiner geistigen
Größe wissen mochte. Ein solcher Rechenfehler, wie ihn der erste Herr B.
begangen hatte, als er meinte in vier Stunden bis W. kommen zu können,
konnte diesem hier nicht unterlaufen, als er sich gleich ihm zur Gestellung dahin
aufmachte. In der Herberge, wo er zur Nacht geblieben war, sah er das Plakat
mit den Terminen angeschlagen, und wie er selbst, war auch der Herbergsvater,
der tadellos lesen konnte, der Meinung, daß B. sich schleunigst auf die Strümpfe,
oder vielmehr, da er barfuß zu reisen pflegte, auf die Sohlen machen müsse,
wenn er am andern Tag zur rechten Zeit in W. sein wolle. Bis dahin waren
es einundzwanzigtausend Meter. B. rollte in seiner Vorstellung die Landstraße,
die er zu gehen hatte, wie ein Fadenknäuel ab und hatte dabei das Gefühl der
Endlosigkeit, das ihm beinahe allen Mut zu der Wanderung genommen hätte.
Gottlob sah er in dem Faden verschiedene Knoten, die ihm bekannt vorkamen.
Vudelbach? War da nicht ein Bauernhof mit einer roten Hoftür, wo er mal
vor Jahren ein paar Trittlinge geschenkt bekommen hat? Er hielt es für seine
verdammte Pflicht, dort wieder vorzusprechen, denn ausdrücklich stand im Mobil¬
machungsbefehl, daß die Landsturmleute ein Paar guter Stiefel mitbringen sollten;
die gleichfalls gewünschte Unterwäsche bekam er vielleicht in Leppenstädt, wo ihn
damals der Gensdarm erwischte, gerade, als er beim Lehrer, nein, beim Pfarrer
anpochte. Er hatte sich die gute Adresse gerade erst in der Herberge für einen
Zipfel Roßwurst erstanden. Vielleicht konnte er sie jetzt noch benutzen. So sprach
er sich Mut zu, der arme B, Ur. 2, bevor er sich auf den Marsch machte.
Aber noch oft wurde ihm bei dem Gedanken, einen Termin einhalten zu müssen,
ganz elend zu Sinn. Ebenso wie der andre B. war er gegen jeden Zwang gewesen,
vor allem gegen solchen, den er sich selbst auferlegen sollte. Seine Devise
"Kommst du nicht heute, so kommst du morgen" hatte ihn nun schon im
L9. Lebensjahr auf seiner ruhelosen Wanderschaft durch Deutschlands Gaue
begleitet und ihn auch glücklich jeden Abend einen Ort finden lassen, an dem
er das müde Haupt zum Schlafe betten konnte, wenn es auch im Winter oft
weiter nichts als ein Strohschober und im Sommer eine Kcmalröhre war. Daß
er nun heute Abend ganz bestimmt in W. sein mußte, das schmerzte seinen Kopf
und lähmte, statt ihn zu beleben, feinen Schritt. Da kam ihm Kraft aus
demselben Born, aus dem B. 1 geschöpft hatte. Auf einem mächtigen Stoppelfeld


Die Ungebundenen

die Bewohner dieser niedrigen Häuserreihen ebenso zu Deutschland gehörten, wie
die Bitterfelder und Hallenser, denn auch hier marschierten die Dreikäsehochs in
Papierhelmen und mit Holzschwertern hinter ihrem Trommler her, und keiner
wollte der Franzose sein, aber am allerwenigsten der Engländer.

So eroberte sich der Mann mit dem Anfangsbuchstaben „B" auf seiner
Fahrt nach der Stadt seines Landsturmbezirks beglückten Sinns ein größeres
Deutschland. —---

Aber es ist hier noch von einem zweiten „B" die Rede, und zu Ehren
dieses zweiten Herrn B. sei von vornherein festgestellt, daß er die Größe Deutschlands,
räumlich genommen, längst erkannt hatte, wie wenig er auch von seiner geistigen
Größe wissen mochte. Ein solcher Rechenfehler, wie ihn der erste Herr B.
begangen hatte, als er meinte in vier Stunden bis W. kommen zu können,
konnte diesem hier nicht unterlaufen, als er sich gleich ihm zur Gestellung dahin
aufmachte. In der Herberge, wo er zur Nacht geblieben war, sah er das Plakat
mit den Terminen angeschlagen, und wie er selbst, war auch der Herbergsvater,
der tadellos lesen konnte, der Meinung, daß B. sich schleunigst auf die Strümpfe,
oder vielmehr, da er barfuß zu reisen pflegte, auf die Sohlen machen müsse,
wenn er am andern Tag zur rechten Zeit in W. sein wolle. Bis dahin waren
es einundzwanzigtausend Meter. B. rollte in seiner Vorstellung die Landstraße,
die er zu gehen hatte, wie ein Fadenknäuel ab und hatte dabei das Gefühl der
Endlosigkeit, das ihm beinahe allen Mut zu der Wanderung genommen hätte.
Gottlob sah er in dem Faden verschiedene Knoten, die ihm bekannt vorkamen.
Vudelbach? War da nicht ein Bauernhof mit einer roten Hoftür, wo er mal
vor Jahren ein paar Trittlinge geschenkt bekommen hat? Er hielt es für seine
verdammte Pflicht, dort wieder vorzusprechen, denn ausdrücklich stand im Mobil¬
machungsbefehl, daß die Landsturmleute ein Paar guter Stiefel mitbringen sollten;
die gleichfalls gewünschte Unterwäsche bekam er vielleicht in Leppenstädt, wo ihn
damals der Gensdarm erwischte, gerade, als er beim Lehrer, nein, beim Pfarrer
anpochte. Er hatte sich die gute Adresse gerade erst in der Herberge für einen
Zipfel Roßwurst erstanden. Vielleicht konnte er sie jetzt noch benutzen. So sprach
er sich Mut zu, der arme B, Ur. 2, bevor er sich auf den Marsch machte.
Aber noch oft wurde ihm bei dem Gedanken, einen Termin einhalten zu müssen,
ganz elend zu Sinn. Ebenso wie der andre B. war er gegen jeden Zwang gewesen,
vor allem gegen solchen, den er sich selbst auferlegen sollte. Seine Devise
„Kommst du nicht heute, so kommst du morgen" hatte ihn nun schon im
L9. Lebensjahr auf seiner ruhelosen Wanderschaft durch Deutschlands Gaue
begleitet und ihn auch glücklich jeden Abend einen Ort finden lassen, an dem
er das müde Haupt zum Schlafe betten konnte, wenn es auch im Winter oft
weiter nichts als ein Strohschober und im Sommer eine Kcmalröhre war. Daß
er nun heute Abend ganz bestimmt in W. sein mußte, das schmerzte seinen Kopf
und lähmte, statt ihn zu beleben, feinen Schritt. Da kam ihm Kraft aus
demselben Born, aus dem B. 1 geschöpft hatte. Auf einem mächtigen Stoppelfeld


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[0416] Die Ungebundenen die Bewohner dieser niedrigen Häuserreihen ebenso zu Deutschland gehörten, wie die Bitterfelder und Hallenser, denn auch hier marschierten die Dreikäsehochs in Papierhelmen und mit Holzschwertern hinter ihrem Trommler her, und keiner wollte der Franzose sein, aber am allerwenigsten der Engländer. So eroberte sich der Mann mit dem Anfangsbuchstaben „B" auf seiner Fahrt nach der Stadt seines Landsturmbezirks beglückten Sinns ein größeres Deutschland. —--- Aber es ist hier noch von einem zweiten „B" die Rede, und zu Ehren dieses zweiten Herrn B. sei von vornherein festgestellt, daß er die Größe Deutschlands, räumlich genommen, längst erkannt hatte, wie wenig er auch von seiner geistigen Größe wissen mochte. Ein solcher Rechenfehler, wie ihn der erste Herr B. begangen hatte, als er meinte in vier Stunden bis W. kommen zu können, konnte diesem hier nicht unterlaufen, als er sich gleich ihm zur Gestellung dahin aufmachte. In der Herberge, wo er zur Nacht geblieben war, sah er das Plakat mit den Terminen angeschlagen, und wie er selbst, war auch der Herbergsvater, der tadellos lesen konnte, der Meinung, daß B. sich schleunigst auf die Strümpfe, oder vielmehr, da er barfuß zu reisen pflegte, auf die Sohlen machen müsse, wenn er am andern Tag zur rechten Zeit in W. sein wolle. Bis dahin waren es einundzwanzigtausend Meter. B. rollte in seiner Vorstellung die Landstraße, die er zu gehen hatte, wie ein Fadenknäuel ab und hatte dabei das Gefühl der Endlosigkeit, das ihm beinahe allen Mut zu der Wanderung genommen hätte. Gottlob sah er in dem Faden verschiedene Knoten, die ihm bekannt vorkamen. Vudelbach? War da nicht ein Bauernhof mit einer roten Hoftür, wo er mal vor Jahren ein paar Trittlinge geschenkt bekommen hat? Er hielt es für seine verdammte Pflicht, dort wieder vorzusprechen, denn ausdrücklich stand im Mobil¬ machungsbefehl, daß die Landsturmleute ein Paar guter Stiefel mitbringen sollten; die gleichfalls gewünschte Unterwäsche bekam er vielleicht in Leppenstädt, wo ihn damals der Gensdarm erwischte, gerade, als er beim Lehrer, nein, beim Pfarrer anpochte. Er hatte sich die gute Adresse gerade erst in der Herberge für einen Zipfel Roßwurst erstanden. Vielleicht konnte er sie jetzt noch benutzen. So sprach er sich Mut zu, der arme B, Ur. 2, bevor er sich auf den Marsch machte. Aber noch oft wurde ihm bei dem Gedanken, einen Termin einhalten zu müssen, ganz elend zu Sinn. Ebenso wie der andre B. war er gegen jeden Zwang gewesen, vor allem gegen solchen, den er sich selbst auferlegen sollte. Seine Devise „Kommst du nicht heute, so kommst du morgen" hatte ihn nun schon im L9. Lebensjahr auf seiner ruhelosen Wanderschaft durch Deutschlands Gaue begleitet und ihn auch glücklich jeden Abend einen Ort finden lassen, an dem er das müde Haupt zum Schlafe betten konnte, wenn es auch im Winter oft weiter nichts als ein Strohschober und im Sommer eine Kcmalröhre war. Daß er nun heute Abend ganz bestimmt in W. sein mußte, das schmerzte seinen Kopf und lähmte, statt ihn zu beleben, feinen Schritt. Da kam ihm Kraft aus demselben Born, aus dem B. 1 geschöpft hatte. Auf einem mächtigen Stoppelfeld

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/416>, abgerufen am 02.07.2024.