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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Ungebundenen

einberufen hatte. Wenn er nicht für fahnenflüchtig gehalten werden wollte,
mußte er sich auf die Bahn setzen und sofort im Schnellzug nach W. zur Ge¬
stellung hinüberrutschen.

"Ich gehe auch in den Krieg", rief er beim Packen dem Fräulein drüben
zu, das in Hausmütterchenschürze am offenen Fenster auftauchte, um ein Staubtuch
auszuschlagen. Mit dieser Geste eines Abschiedsgrußes bekam er ein allerliebstes
Lachgrübchen zu sehen, was ihn froh stimmte, denn er schloß daraus, daß das
Fräulein gute Nachrichten aus dem Feld bekommen hatte. Er war überhaupt
fröhlich gestimmt wie selten in seinem Leben, und durch sein linkes Ohr drangen
ihm die Klänge von "Deutschland über alles", das Schulkinder in der Ferne
schmetterten, unmittelbar zum Herzen. Das rechte war durch einen dicken Ver¬
band versperrt, den er in diesem Augenblick am liebsten abgerissen hätte. Denn
das Vaterland war in Gefahr und konnte vielleicht auch seine schwache Kraft
gebrauchen, um den Feind zu werfen. Der Mann mit dem ungebundenen
Sinn und dem Anfangsbuchstaben "B" hatte zum erstenmal das beglückende
Gefühl, daß man ihn irgendwo erwartete, und er war sehr damit einverstanden,
daß es gerade das gemütliche, stille W. sein sollte, wo er erwartet wurde. In
vier Stunden bin ich drüben, rechnete er sich nach dem Kursbuch aus, dessen
letzte Ausgabe er sich kurz vor seiner Erkrankung gekauft hatte, und das noch
ohne jedes Eselsohr auf dem Schreibtisch bereit lag. Es wird ja wohl noch
Zeit genug sein vor dem Abmarsch ins Feld, dachte er, daß man ein Stück
Apfelkuchen verzehren kann, und er räkelte sich im Geist bereits auf dem ledernen
Sofa in der guten, alten Konditorei an der Kirche, deren Apfelkuchen im ganzen
Land berühmt war.

"Was sind Hoffnungen!" sagte er, auf dem Bahnhof angelangt, in
lächelnder Resignation. Das Kursbuch wurde das erste Opfer auf dem Altar
des Vaterlands. Und, als er dann statt im Speisewagen des V-Zugs in einem
uralten, aus dem Eisenbahnmuseum herbeigeholten Wagen dritter Klasse seinem
Reiseziel entgegengerattert wurde, da gelang ihm das zweite ebenso leicht. Er
schaltete das Bewußtsein seines aufs Neue schmerzenden Ohres ganz einfach aus
und versenkte sich mit Erstaunen in die Warnehmung, daß Deutschland seit
Beginn seiner Krankheit größer geworden war, auch, wenn man Belgien noch
nicht dazu rechnete. Jetzt stellte es nicht mehr das dünne Gespinst zweigeleisiger
Schnellzugslinien vor, mit ein paar Dutzend größerer Städte darin, sondern
war richtiges, massives, greifbares Land geworden, mit unendlichen Feldbreiten
und einer Masse Dörfer, Städte und Bahnstationen, die Herrn B. wie aus der
Erde gezaubert schienen. Viermal so viel Zeit als früher brauchte die Lokomotive,
um W. zu erreichen, und, was das Merkwürdigste war, keiner der Reisenden
nahm Ärgernis daran. Auch Herrn B. verging die Zeit im Fluge beim
Betrachten der schönen deutschen Lande, über die jetzt gerade die Erntemaschinen
geführt wurden. Also auch bei uns gibts Weizen, dachte er. Und in drei
Viertel Stunden Aufenthalt machte er in Gräfenhainichen die Entdeckung, daß


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Die Ungebundenen

einberufen hatte. Wenn er nicht für fahnenflüchtig gehalten werden wollte,
mußte er sich auf die Bahn setzen und sofort im Schnellzug nach W. zur Ge¬
stellung hinüberrutschen.

„Ich gehe auch in den Krieg", rief er beim Packen dem Fräulein drüben
zu, das in Hausmütterchenschürze am offenen Fenster auftauchte, um ein Staubtuch
auszuschlagen. Mit dieser Geste eines Abschiedsgrußes bekam er ein allerliebstes
Lachgrübchen zu sehen, was ihn froh stimmte, denn er schloß daraus, daß das
Fräulein gute Nachrichten aus dem Feld bekommen hatte. Er war überhaupt
fröhlich gestimmt wie selten in seinem Leben, und durch sein linkes Ohr drangen
ihm die Klänge von „Deutschland über alles", das Schulkinder in der Ferne
schmetterten, unmittelbar zum Herzen. Das rechte war durch einen dicken Ver¬
band versperrt, den er in diesem Augenblick am liebsten abgerissen hätte. Denn
das Vaterland war in Gefahr und konnte vielleicht auch seine schwache Kraft
gebrauchen, um den Feind zu werfen. Der Mann mit dem ungebundenen
Sinn und dem Anfangsbuchstaben „B" hatte zum erstenmal das beglückende
Gefühl, daß man ihn irgendwo erwartete, und er war sehr damit einverstanden,
daß es gerade das gemütliche, stille W. sein sollte, wo er erwartet wurde. In
vier Stunden bin ich drüben, rechnete er sich nach dem Kursbuch aus, dessen
letzte Ausgabe er sich kurz vor seiner Erkrankung gekauft hatte, und das noch
ohne jedes Eselsohr auf dem Schreibtisch bereit lag. Es wird ja wohl noch
Zeit genug sein vor dem Abmarsch ins Feld, dachte er, daß man ein Stück
Apfelkuchen verzehren kann, und er räkelte sich im Geist bereits auf dem ledernen
Sofa in der guten, alten Konditorei an der Kirche, deren Apfelkuchen im ganzen
Land berühmt war.

„Was sind Hoffnungen!" sagte er, auf dem Bahnhof angelangt, in
lächelnder Resignation. Das Kursbuch wurde das erste Opfer auf dem Altar
des Vaterlands. Und, als er dann statt im Speisewagen des V-Zugs in einem
uralten, aus dem Eisenbahnmuseum herbeigeholten Wagen dritter Klasse seinem
Reiseziel entgegengerattert wurde, da gelang ihm das zweite ebenso leicht. Er
schaltete das Bewußtsein seines aufs Neue schmerzenden Ohres ganz einfach aus
und versenkte sich mit Erstaunen in die Warnehmung, daß Deutschland seit
Beginn seiner Krankheit größer geworden war, auch, wenn man Belgien noch
nicht dazu rechnete. Jetzt stellte es nicht mehr das dünne Gespinst zweigeleisiger
Schnellzugslinien vor, mit ein paar Dutzend größerer Städte darin, sondern
war richtiges, massives, greifbares Land geworden, mit unendlichen Feldbreiten
und einer Masse Dörfer, Städte und Bahnstationen, die Herrn B. wie aus der
Erde gezaubert schienen. Viermal so viel Zeit als früher brauchte die Lokomotive,
um W. zu erreichen, und, was das Merkwürdigste war, keiner der Reisenden
nahm Ärgernis daran. Auch Herrn B. verging die Zeit im Fluge beim
Betrachten der schönen deutschen Lande, über die jetzt gerade die Erntemaschinen
geführt wurden. Also auch bei uns gibts Weizen, dachte er. Und in drei
Viertel Stunden Aufenthalt machte er in Gräfenhainichen die Entdeckung, daß


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[0415] Die Ungebundenen einberufen hatte. Wenn er nicht für fahnenflüchtig gehalten werden wollte, mußte er sich auf die Bahn setzen und sofort im Schnellzug nach W. zur Ge¬ stellung hinüberrutschen. „Ich gehe auch in den Krieg", rief er beim Packen dem Fräulein drüben zu, das in Hausmütterchenschürze am offenen Fenster auftauchte, um ein Staubtuch auszuschlagen. Mit dieser Geste eines Abschiedsgrußes bekam er ein allerliebstes Lachgrübchen zu sehen, was ihn froh stimmte, denn er schloß daraus, daß das Fräulein gute Nachrichten aus dem Feld bekommen hatte. Er war überhaupt fröhlich gestimmt wie selten in seinem Leben, und durch sein linkes Ohr drangen ihm die Klänge von „Deutschland über alles", das Schulkinder in der Ferne schmetterten, unmittelbar zum Herzen. Das rechte war durch einen dicken Ver¬ band versperrt, den er in diesem Augenblick am liebsten abgerissen hätte. Denn das Vaterland war in Gefahr und konnte vielleicht auch seine schwache Kraft gebrauchen, um den Feind zu werfen. Der Mann mit dem ungebundenen Sinn und dem Anfangsbuchstaben „B" hatte zum erstenmal das beglückende Gefühl, daß man ihn irgendwo erwartete, und er war sehr damit einverstanden, daß es gerade das gemütliche, stille W. sein sollte, wo er erwartet wurde. In vier Stunden bin ich drüben, rechnete er sich nach dem Kursbuch aus, dessen letzte Ausgabe er sich kurz vor seiner Erkrankung gekauft hatte, und das noch ohne jedes Eselsohr auf dem Schreibtisch bereit lag. Es wird ja wohl noch Zeit genug sein vor dem Abmarsch ins Feld, dachte er, daß man ein Stück Apfelkuchen verzehren kann, und er räkelte sich im Geist bereits auf dem ledernen Sofa in der guten, alten Konditorei an der Kirche, deren Apfelkuchen im ganzen Land berühmt war. „Was sind Hoffnungen!" sagte er, auf dem Bahnhof angelangt, in lächelnder Resignation. Das Kursbuch wurde das erste Opfer auf dem Altar des Vaterlands. Und, als er dann statt im Speisewagen des V-Zugs in einem uralten, aus dem Eisenbahnmuseum herbeigeholten Wagen dritter Klasse seinem Reiseziel entgegengerattert wurde, da gelang ihm das zweite ebenso leicht. Er schaltete das Bewußtsein seines aufs Neue schmerzenden Ohres ganz einfach aus und versenkte sich mit Erstaunen in die Warnehmung, daß Deutschland seit Beginn seiner Krankheit größer geworden war, auch, wenn man Belgien noch nicht dazu rechnete. Jetzt stellte es nicht mehr das dünne Gespinst zweigeleisiger Schnellzugslinien vor, mit ein paar Dutzend größerer Städte darin, sondern war richtiges, massives, greifbares Land geworden, mit unendlichen Feldbreiten und einer Masse Dörfer, Städte und Bahnstationen, die Herrn B. wie aus der Erde gezaubert schienen. Viermal so viel Zeit als früher brauchte die Lokomotive, um W. zu erreichen, und, was das Merkwürdigste war, keiner der Reisenden nahm Ärgernis daran. Auch Herrn B. verging die Zeit im Fluge beim Betrachten der schönen deutschen Lande, über die jetzt gerade die Erntemaschinen geführt wurden. Also auch bei uns gibts Weizen, dachte er. Und in drei Viertel Stunden Aufenthalt machte er in Gräfenhainichen die Entdeckung, daß 26*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/415>, abgerufen am 02.07.2024.