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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Ungebundenen

aber doch den körperlichen Wuchs gemein Hatte, sah er über die Köpfe der
Leute hinweg und las das Plakat, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Und der
erste Gedanke, den er dabei hatte, gehörte, zu seiner Schande sei es nicht ver¬
schwiegen, keineswegs dem Vaterland, sondern den Tränen seines hübschen
Gegenüber. Vielleicht kam das daher, weil er krank war und noch zu schwach,
um die ganze Größe des Augenblicks zu empfinden. Er hatte in seinem Bett
was davon läuten hören, daß Deutschlands Nachbarn mit ihren Schwertern
rasselten, aber seine Fieberphantasien hatten ihn weit fort von den Interessen
des Volks getragen und sich nur mit den Hoffnungen und Enttäuschungen
seines eigenen Lebens beschäftigt. Er war ein Ungebundener, ein Individualist
auch noch in dem Moment, wo er das Wort "Mobilmachung" las. Und
das war wohl der eigentliche Grund, weshalb er jetzt das Leuchten in den
Augen der Umstehenden übersah und sich nach dem weinenden Mädchen um¬
blickte.

"Mein Kind, ich muß marschieren, mein Kind, ich muß ins Feld", summte
Herr B. vor sich hin und sah im Geist den kleinen Leutenant vor sich, der
drüben immer mit so glücklicher Besitzermiene neben seinem Schatz aus dem
Fenster gelehnt hatte. Da fühlte er die paar von seiner Krankheit noch nicht
verzehrten Kräfte zu einem unbeschreiblich süßen Mitleid sich verdichten. Er
nahm sich vor, nun niemals mehr bei seinem Gegenüber um ein Lachgrübchen
zu betteln. Das war er dem wackeren Vaterlandsverteidiger schuldig. "Es
sei denn, ich müßte selbst marschieren" setzte er seinen Gedankengang fort; "dann
nehme ich mir noch so ein Auge voll Blondhaar und Mädchenschmiegsamkeit
mit ins Feld!" Aber, wie sorgfältig er auch das Plakat studierte, er fand
seinen Jahrgang noch nicht auf der Liste vermerkt, was ihm zum ärgerlichen
Bewußtsein brachte, daß er mittlerweile alt geworden war. Da fühlte er sich
plötzlich müde und schlich nach Hause in sein möbliertes Zimmer, um sich wieder
ins Bett zu legen. Vierzehn Tage schlief er so oder dämmerte in der Gleich¬
gültigkeit des Rekonvaleszenten dahin, bis ihm eines Morgens seine magere
Wirtin mit dem Kaffee, den ihre Gestalt versinnbildlichte, ihre Meinung vor¬
setzte, es müsse um Deutschland schlecht stehen, denn nun sei auch schon der
Landsturm zu den Waffen gerufen.

"Das gilt mir!" rief Herr B. und sprang aus dem Bett zu seinem Schreib¬
tisch. Er schüttete alle Kästen aus und untersuchte jede Tasche und Mappe, bis
er endlich seinen Militärpaß gefunden hatte. Längst hätte er sich hier melden
müssen, aber lohnte es sich denn bei ihm? Er konnte ja niemals wissen, ob
er nicht am nächsten Tag schon wieder sein Quartier und seinen Aufenthaltsort
wechseln mußte. "Ach du lieber Gott!" rief er aus. Die letzte Meldung war
in W. eingetragen, dem kleinen mitteldeutschen Nest, in dessen Nähe -er vor sechs
Jahren ein Junkerlein in Griechisch und Latein gedrillt hatte. Zum elften
Armeekorps gehörte er also, er, der sonst nirgends hingehörte, und hier im
Morgenblatt stand es, daß das elfte Armeekorps auch bereits den Landsturm


Die Ungebundenen

aber doch den körperlichen Wuchs gemein Hatte, sah er über die Köpfe der
Leute hinweg und las das Plakat, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Und der
erste Gedanke, den er dabei hatte, gehörte, zu seiner Schande sei es nicht ver¬
schwiegen, keineswegs dem Vaterland, sondern den Tränen seines hübschen
Gegenüber. Vielleicht kam das daher, weil er krank war und noch zu schwach,
um die ganze Größe des Augenblicks zu empfinden. Er hatte in seinem Bett
was davon läuten hören, daß Deutschlands Nachbarn mit ihren Schwertern
rasselten, aber seine Fieberphantasien hatten ihn weit fort von den Interessen
des Volks getragen und sich nur mit den Hoffnungen und Enttäuschungen
seines eigenen Lebens beschäftigt. Er war ein Ungebundener, ein Individualist
auch noch in dem Moment, wo er das Wort „Mobilmachung" las. Und
das war wohl der eigentliche Grund, weshalb er jetzt das Leuchten in den
Augen der Umstehenden übersah und sich nach dem weinenden Mädchen um¬
blickte.

„Mein Kind, ich muß marschieren, mein Kind, ich muß ins Feld", summte
Herr B. vor sich hin und sah im Geist den kleinen Leutenant vor sich, der
drüben immer mit so glücklicher Besitzermiene neben seinem Schatz aus dem
Fenster gelehnt hatte. Da fühlte er die paar von seiner Krankheit noch nicht
verzehrten Kräfte zu einem unbeschreiblich süßen Mitleid sich verdichten. Er
nahm sich vor, nun niemals mehr bei seinem Gegenüber um ein Lachgrübchen
zu betteln. Das war er dem wackeren Vaterlandsverteidiger schuldig. „Es
sei denn, ich müßte selbst marschieren" setzte er seinen Gedankengang fort; „dann
nehme ich mir noch so ein Auge voll Blondhaar und Mädchenschmiegsamkeit
mit ins Feld!" Aber, wie sorgfältig er auch das Plakat studierte, er fand
seinen Jahrgang noch nicht auf der Liste vermerkt, was ihm zum ärgerlichen
Bewußtsein brachte, daß er mittlerweile alt geworden war. Da fühlte er sich
plötzlich müde und schlich nach Hause in sein möbliertes Zimmer, um sich wieder
ins Bett zu legen. Vierzehn Tage schlief er so oder dämmerte in der Gleich¬
gültigkeit des Rekonvaleszenten dahin, bis ihm eines Morgens seine magere
Wirtin mit dem Kaffee, den ihre Gestalt versinnbildlichte, ihre Meinung vor¬
setzte, es müsse um Deutschland schlecht stehen, denn nun sei auch schon der
Landsturm zu den Waffen gerufen.

„Das gilt mir!" rief Herr B. und sprang aus dem Bett zu seinem Schreib¬
tisch. Er schüttete alle Kästen aus und untersuchte jede Tasche und Mappe, bis
er endlich seinen Militärpaß gefunden hatte. Längst hätte er sich hier melden
müssen, aber lohnte es sich denn bei ihm? Er konnte ja niemals wissen, ob
er nicht am nächsten Tag schon wieder sein Quartier und seinen Aufenthaltsort
wechseln mußte. „Ach du lieber Gott!" rief er aus. Die letzte Meldung war
in W. eingetragen, dem kleinen mitteldeutschen Nest, in dessen Nähe -er vor sechs
Jahren ein Junkerlein in Griechisch und Latein gedrillt hatte. Zum elften
Armeekorps gehörte er also, er, der sonst nirgends hingehörte, und hier im
Morgenblatt stand es, daß das elfte Armeekorps auch bereits den Landsturm


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[0414] Die Ungebundenen aber doch den körperlichen Wuchs gemein Hatte, sah er über die Köpfe der Leute hinweg und las das Plakat, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Und der erste Gedanke, den er dabei hatte, gehörte, zu seiner Schande sei es nicht ver¬ schwiegen, keineswegs dem Vaterland, sondern den Tränen seines hübschen Gegenüber. Vielleicht kam das daher, weil er krank war und noch zu schwach, um die ganze Größe des Augenblicks zu empfinden. Er hatte in seinem Bett was davon läuten hören, daß Deutschlands Nachbarn mit ihren Schwertern rasselten, aber seine Fieberphantasien hatten ihn weit fort von den Interessen des Volks getragen und sich nur mit den Hoffnungen und Enttäuschungen seines eigenen Lebens beschäftigt. Er war ein Ungebundener, ein Individualist auch noch in dem Moment, wo er das Wort „Mobilmachung" las. Und das war wohl der eigentliche Grund, weshalb er jetzt das Leuchten in den Augen der Umstehenden übersah und sich nach dem weinenden Mädchen um¬ blickte. „Mein Kind, ich muß marschieren, mein Kind, ich muß ins Feld", summte Herr B. vor sich hin und sah im Geist den kleinen Leutenant vor sich, der drüben immer mit so glücklicher Besitzermiene neben seinem Schatz aus dem Fenster gelehnt hatte. Da fühlte er die paar von seiner Krankheit noch nicht verzehrten Kräfte zu einem unbeschreiblich süßen Mitleid sich verdichten. Er nahm sich vor, nun niemals mehr bei seinem Gegenüber um ein Lachgrübchen zu betteln. Das war er dem wackeren Vaterlandsverteidiger schuldig. „Es sei denn, ich müßte selbst marschieren" setzte er seinen Gedankengang fort; „dann nehme ich mir noch so ein Auge voll Blondhaar und Mädchenschmiegsamkeit mit ins Feld!" Aber, wie sorgfältig er auch das Plakat studierte, er fand seinen Jahrgang noch nicht auf der Liste vermerkt, was ihm zum ärgerlichen Bewußtsein brachte, daß er mittlerweile alt geworden war. Da fühlte er sich plötzlich müde und schlich nach Hause in sein möbliertes Zimmer, um sich wieder ins Bett zu legen. Vierzehn Tage schlief er so oder dämmerte in der Gleich¬ gültigkeit des Rekonvaleszenten dahin, bis ihm eines Morgens seine magere Wirtin mit dem Kaffee, den ihre Gestalt versinnbildlichte, ihre Meinung vor¬ setzte, es müsse um Deutschland schlecht stehen, denn nun sei auch schon der Landsturm zu den Waffen gerufen. „Das gilt mir!" rief Herr B. und sprang aus dem Bett zu seinem Schreib¬ tisch. Er schüttete alle Kästen aus und untersuchte jede Tasche und Mappe, bis er endlich seinen Militärpaß gefunden hatte. Längst hätte er sich hier melden müssen, aber lohnte es sich denn bei ihm? Er konnte ja niemals wissen, ob er nicht am nächsten Tag schon wieder sein Quartier und seinen Aufenthaltsort wechseln mußte. „Ach du lieber Gott!" rief er aus. Die letzte Meldung war in W. eingetragen, dem kleinen mitteldeutschen Nest, in dessen Nähe -er vor sechs Jahren ein Junkerlein in Griechisch und Latein gedrillt hatte. Zum elften Armeekorps gehörte er also, er, der sonst nirgends hingehörte, und hier im Morgenblatt stand es, daß das elfte Armeekorps auch bereits den Landsturm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/414>, abgerufen am 02.07.2024.