Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der deutsche Staatsgedanke

Quellen schwerster Leiden werden, bis es endlich gelingt, die Staatsform zu
schaffen, deren die Nation zur Auswirkung ihrer Eigenart bedarf: der Trieb zur
Besonderung und die Empfänglichkeit für fremde Kultur. Sie haben das alte Reich
durch Zwietracht und Fremdländerei allmählich zu seiner tiefsten Erniedrigung ge¬
führt -- aber gerade sie werden für das starke Deutschland der Zukunft die besten
Waffen sein. Die Gründung des neuen Reiches bedeutet den Wendepunkt; sie
verbürgt dem deutschen Volke die Einheit und Macht, ohne die in tiefsten
Überlieferungen wurzelnde Stammesbesonderung anzutasten. So gelingt der
Wunderbau der deutschen Verfassung, die zum erstenmal den Gedanken der
Führung ohne Herrschaft ins Leben zu rufen weiß; Preußen ist nicht das
Oberhaupt der übrigen Staaten, sondern Erster unter Gleichen. Hier ist die
Formel, die auch Deutschlands Bundesgenossen von heute mit ihm dauernd zu
verknüpfen vermöchte, hier der neue Staatsgedanke, der berufen ist, die Systeme
der zentralistischen Herrschaft und der patriarchalischen Vorherrschaft zu brechen.
Was durch die harte Erziehung einer schweren Vergangenheit die Deutschen im
Reich zu verwirklichen gelernt, das gilt es nun in sinngemäßer Anpassung durch
die Welt auszubreiten. Hierfür aber ist wiederum jene zweite Fähigkeit
Bedingung, die den Deutschen so scharf von anderen, vor allem von den
Angelsachsen, unterscheidet. Herrschaft mag sich auf bloße Macht oder kluge
Berechnung stützen, Führung verlangt mehr: neben kultureller und moralischer
Überlegenheit, neben der Achtung vor der Sonderart die Fähigkeit, auch fremdes
Wesen zu erfassen und es verstehend zu durchdringen. Dem Volke, das diese
Eigenschaften in sich vereint, muß die Weltmacht der Zukunft zufallen; und
dies Volk ist das deutsche.

Zeichnet sich so die Idee des künftigen Reiches schon deutlich sichtbar dem
schärfer spähenden Auge in den dunkel geballten Wolken der Zeitereignisse ab,
so läßt sich seine Form freilich nicht voraus konstruieren. Politische Gebilde sind
Organismen, sie werden nicht gezimmert, sondern wachsen; und die Gesetze
des Wachstums behalten stets einen irrationalen Nest. Man mag sich einen
Bund völlig selbständiger, unabhängiger Staaten denken, die sich nur unbedingte
gegenseitige Unterstützung bei einer Gefährdung jedes einzelnen von ihnen ver¬
bürgen und auf das Recht, Sonderbündnisse zu schließen, verzichten. Alle
übrigen Angelegenheiten hätte jedes Bundesmitglied in voller Souveränität zu
erledigen; Streitfälle wären durch ein mit Machtmitteln ausgestattetes Schieds¬
gericht zu schlichten, ein ständiger Gesandtenrat könnte vielleicht die gemeinsame
Durchführung politischer und wirtschaftlicher Maßnahmen, soweit sie den einzelnen
Gliedern erwünscht ist, beraten.

Der führende Staat sähe es als seine Aufgabe an, die selbständige
materielle und geistige Entwicklung eines jeden Bundesgliedes ungestört zu lassen,
als erster auf der Wacht vor äußerer Beunruhigung des Bundesganzen zu stehen
und durch eine umfassende Kulturpolitik das, was er der Gesamtheit an Werten
zu bieten hat, in allen Teilen des Bundes zu verbreiten. Je loser das äußere


Der deutsche Staatsgedanke

Quellen schwerster Leiden werden, bis es endlich gelingt, die Staatsform zu
schaffen, deren die Nation zur Auswirkung ihrer Eigenart bedarf: der Trieb zur
Besonderung und die Empfänglichkeit für fremde Kultur. Sie haben das alte Reich
durch Zwietracht und Fremdländerei allmählich zu seiner tiefsten Erniedrigung ge¬
führt — aber gerade sie werden für das starke Deutschland der Zukunft die besten
Waffen sein. Die Gründung des neuen Reiches bedeutet den Wendepunkt; sie
verbürgt dem deutschen Volke die Einheit und Macht, ohne die in tiefsten
Überlieferungen wurzelnde Stammesbesonderung anzutasten. So gelingt der
Wunderbau der deutschen Verfassung, die zum erstenmal den Gedanken der
Führung ohne Herrschaft ins Leben zu rufen weiß; Preußen ist nicht das
Oberhaupt der übrigen Staaten, sondern Erster unter Gleichen. Hier ist die
Formel, die auch Deutschlands Bundesgenossen von heute mit ihm dauernd zu
verknüpfen vermöchte, hier der neue Staatsgedanke, der berufen ist, die Systeme
der zentralistischen Herrschaft und der patriarchalischen Vorherrschaft zu brechen.
Was durch die harte Erziehung einer schweren Vergangenheit die Deutschen im
Reich zu verwirklichen gelernt, das gilt es nun in sinngemäßer Anpassung durch
die Welt auszubreiten. Hierfür aber ist wiederum jene zweite Fähigkeit
Bedingung, die den Deutschen so scharf von anderen, vor allem von den
Angelsachsen, unterscheidet. Herrschaft mag sich auf bloße Macht oder kluge
Berechnung stützen, Führung verlangt mehr: neben kultureller und moralischer
Überlegenheit, neben der Achtung vor der Sonderart die Fähigkeit, auch fremdes
Wesen zu erfassen und es verstehend zu durchdringen. Dem Volke, das diese
Eigenschaften in sich vereint, muß die Weltmacht der Zukunft zufallen; und
dies Volk ist das deutsche.

Zeichnet sich so die Idee des künftigen Reiches schon deutlich sichtbar dem
schärfer spähenden Auge in den dunkel geballten Wolken der Zeitereignisse ab,
so läßt sich seine Form freilich nicht voraus konstruieren. Politische Gebilde sind
Organismen, sie werden nicht gezimmert, sondern wachsen; und die Gesetze
des Wachstums behalten stets einen irrationalen Nest. Man mag sich einen
Bund völlig selbständiger, unabhängiger Staaten denken, die sich nur unbedingte
gegenseitige Unterstützung bei einer Gefährdung jedes einzelnen von ihnen ver¬
bürgen und auf das Recht, Sonderbündnisse zu schließen, verzichten. Alle
übrigen Angelegenheiten hätte jedes Bundesmitglied in voller Souveränität zu
erledigen; Streitfälle wären durch ein mit Machtmitteln ausgestattetes Schieds¬
gericht zu schlichten, ein ständiger Gesandtenrat könnte vielleicht die gemeinsame
Durchführung politischer und wirtschaftlicher Maßnahmen, soweit sie den einzelnen
Gliedern erwünscht ist, beraten.

Der führende Staat sähe es als seine Aufgabe an, die selbständige
materielle und geistige Entwicklung eines jeden Bundesgliedes ungestört zu lassen,
als erster auf der Wacht vor äußerer Beunruhigung des Bundesganzen zu stehen
und durch eine umfassende Kulturpolitik das, was er der Gesamtheit an Werten
zu bieten hat, in allen Teilen des Bundes zu verbreiten. Je loser das äußere


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0401" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329629"/>
          <fw type="header" place="top"> Der deutsche Staatsgedanke</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1406" prev="#ID_1405"> Quellen schwerster Leiden werden, bis es endlich gelingt, die Staatsform zu<lb/>
schaffen, deren die Nation zur Auswirkung ihrer Eigenart bedarf: der Trieb zur<lb/>
Besonderung und die Empfänglichkeit für fremde Kultur. Sie haben das alte Reich<lb/>
durch Zwietracht und Fremdländerei allmählich zu seiner tiefsten Erniedrigung ge¬<lb/>
führt &#x2014; aber gerade sie werden für das starke Deutschland der Zukunft die besten<lb/>
Waffen sein. Die Gründung des neuen Reiches bedeutet den Wendepunkt; sie<lb/>
verbürgt dem deutschen Volke die Einheit und Macht, ohne die in tiefsten<lb/>
Überlieferungen wurzelnde Stammesbesonderung anzutasten. So gelingt der<lb/>
Wunderbau der deutschen Verfassung, die zum erstenmal den Gedanken der<lb/>
Führung ohne Herrschaft ins Leben zu rufen weiß; Preußen ist nicht das<lb/>
Oberhaupt der übrigen Staaten, sondern Erster unter Gleichen. Hier ist die<lb/>
Formel, die auch Deutschlands Bundesgenossen von heute mit ihm dauernd zu<lb/>
verknüpfen vermöchte, hier der neue Staatsgedanke, der berufen ist, die Systeme<lb/>
der zentralistischen Herrschaft und der patriarchalischen Vorherrschaft zu brechen.<lb/>
Was durch die harte Erziehung einer schweren Vergangenheit die Deutschen im<lb/>
Reich zu verwirklichen gelernt, das gilt es nun in sinngemäßer Anpassung durch<lb/>
die Welt auszubreiten. Hierfür aber ist wiederum jene zweite Fähigkeit<lb/>
Bedingung, die den Deutschen so scharf von anderen, vor allem von den<lb/>
Angelsachsen, unterscheidet. Herrschaft mag sich auf bloße Macht oder kluge<lb/>
Berechnung stützen, Führung verlangt mehr: neben kultureller und moralischer<lb/>
Überlegenheit, neben der Achtung vor der Sonderart die Fähigkeit, auch fremdes<lb/>
Wesen zu erfassen und es verstehend zu durchdringen. Dem Volke, das diese<lb/>
Eigenschaften in sich vereint, muß die Weltmacht der Zukunft zufallen; und<lb/>
dies Volk ist das deutsche.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1407"> Zeichnet sich so die Idee des künftigen Reiches schon deutlich sichtbar dem<lb/>
schärfer spähenden Auge in den dunkel geballten Wolken der Zeitereignisse ab,<lb/>
so läßt sich seine Form freilich nicht voraus konstruieren. Politische Gebilde sind<lb/>
Organismen, sie werden nicht gezimmert, sondern wachsen; und die Gesetze<lb/>
des Wachstums behalten stets einen irrationalen Nest. Man mag sich einen<lb/>
Bund völlig selbständiger, unabhängiger Staaten denken, die sich nur unbedingte<lb/>
gegenseitige Unterstützung bei einer Gefährdung jedes einzelnen von ihnen ver¬<lb/>
bürgen und auf das Recht, Sonderbündnisse zu schließen, verzichten. Alle<lb/>
übrigen Angelegenheiten hätte jedes Bundesmitglied in voller Souveränität zu<lb/>
erledigen; Streitfälle wären durch ein mit Machtmitteln ausgestattetes Schieds¬<lb/>
gericht zu schlichten, ein ständiger Gesandtenrat könnte vielleicht die gemeinsame<lb/>
Durchführung politischer und wirtschaftlicher Maßnahmen, soweit sie den einzelnen<lb/>
Gliedern erwünscht ist, beraten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1408" next="#ID_1409"> Der führende Staat sähe es als seine Aufgabe an, die selbständige<lb/>
materielle und geistige Entwicklung eines jeden Bundesgliedes ungestört zu lassen,<lb/>
als erster auf der Wacht vor äußerer Beunruhigung des Bundesganzen zu stehen<lb/>
und durch eine umfassende Kulturpolitik das, was er der Gesamtheit an Werten<lb/>
zu bieten hat, in allen Teilen des Bundes zu verbreiten. Je loser das äußere</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0401] Der deutsche Staatsgedanke Quellen schwerster Leiden werden, bis es endlich gelingt, die Staatsform zu schaffen, deren die Nation zur Auswirkung ihrer Eigenart bedarf: der Trieb zur Besonderung und die Empfänglichkeit für fremde Kultur. Sie haben das alte Reich durch Zwietracht und Fremdländerei allmählich zu seiner tiefsten Erniedrigung ge¬ führt — aber gerade sie werden für das starke Deutschland der Zukunft die besten Waffen sein. Die Gründung des neuen Reiches bedeutet den Wendepunkt; sie verbürgt dem deutschen Volke die Einheit und Macht, ohne die in tiefsten Überlieferungen wurzelnde Stammesbesonderung anzutasten. So gelingt der Wunderbau der deutschen Verfassung, die zum erstenmal den Gedanken der Führung ohne Herrschaft ins Leben zu rufen weiß; Preußen ist nicht das Oberhaupt der übrigen Staaten, sondern Erster unter Gleichen. Hier ist die Formel, die auch Deutschlands Bundesgenossen von heute mit ihm dauernd zu verknüpfen vermöchte, hier der neue Staatsgedanke, der berufen ist, die Systeme der zentralistischen Herrschaft und der patriarchalischen Vorherrschaft zu brechen. Was durch die harte Erziehung einer schweren Vergangenheit die Deutschen im Reich zu verwirklichen gelernt, das gilt es nun in sinngemäßer Anpassung durch die Welt auszubreiten. Hierfür aber ist wiederum jene zweite Fähigkeit Bedingung, die den Deutschen so scharf von anderen, vor allem von den Angelsachsen, unterscheidet. Herrschaft mag sich auf bloße Macht oder kluge Berechnung stützen, Führung verlangt mehr: neben kultureller und moralischer Überlegenheit, neben der Achtung vor der Sonderart die Fähigkeit, auch fremdes Wesen zu erfassen und es verstehend zu durchdringen. Dem Volke, das diese Eigenschaften in sich vereint, muß die Weltmacht der Zukunft zufallen; und dies Volk ist das deutsche. Zeichnet sich so die Idee des künftigen Reiches schon deutlich sichtbar dem schärfer spähenden Auge in den dunkel geballten Wolken der Zeitereignisse ab, so läßt sich seine Form freilich nicht voraus konstruieren. Politische Gebilde sind Organismen, sie werden nicht gezimmert, sondern wachsen; und die Gesetze des Wachstums behalten stets einen irrationalen Nest. Man mag sich einen Bund völlig selbständiger, unabhängiger Staaten denken, die sich nur unbedingte gegenseitige Unterstützung bei einer Gefährdung jedes einzelnen von ihnen ver¬ bürgen und auf das Recht, Sonderbündnisse zu schließen, verzichten. Alle übrigen Angelegenheiten hätte jedes Bundesmitglied in voller Souveränität zu erledigen; Streitfälle wären durch ein mit Machtmitteln ausgestattetes Schieds¬ gericht zu schlichten, ein ständiger Gesandtenrat könnte vielleicht die gemeinsame Durchführung politischer und wirtschaftlicher Maßnahmen, soweit sie den einzelnen Gliedern erwünscht ist, beraten. Der führende Staat sähe es als seine Aufgabe an, die selbständige materielle und geistige Entwicklung eines jeden Bundesgliedes ungestört zu lassen, als erster auf der Wacht vor äußerer Beunruhigung des Bundesganzen zu stehen und durch eine umfassende Kulturpolitik das, was er der Gesamtheit an Werten zu bieten hat, in allen Teilen des Bundes zu verbreiten. Je loser das äußere

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/401
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/401>, abgerufen am 02.07.2024.