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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Der deutsche Staatsgedanke

überlegenen staatlichen Kultur, sondern durch brutale Gewalt, die auch höher
stehende Nationen auf den eigenen tieferen Stand Herabdrücken will.

Wie anders steht das englische Weltreich da! Der gerechte Zorn über
seine entartete und gewissenlose Politik kann uns nicht blind dagegen machen,
welch stolzer Bau nach neuem Plane hier von einem germanischen Volke errichtet
worden ist. Wie in Englands innerer Entwicklung angeborener Unabhängig¬
keitssinn schon früh das Recht des einzelnen gegenüber der Regierungsgewalt
betonte, so hat es auch in seiner Kolonialpolitik zuerst bewußt mit dem System
der Zentralisation gebrochen. Besonders nach der bitteren Lehre des nord¬
amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sehen wir es in weitgehendem Maße
geneigt, einzelnen Teilen seines Riesenbesitzes ein bisher unerhörtes Maß von
Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu gewähren. Und auch dort, wo es
einen höheren Grad von Abhängigkeit für notwendig erachtete, hat es sich von
schematischer Gleichmacherei stets ferngehalten, gegebene örtliche, nationale,
geschichtliche Unterschiede klug bewahrend. So erscheint dem wohlwollenden
Beobachter das komplizierte System des britischen Reiches unter dem Bilde
einer Familie, in der die Mutter die Eigenart ihrer Kinder achtet und ihnen
je nach ihrer Reife größere oder geringere Freiheit läßt. Zweifellos ein neuer
und großer politischer Organisationsgedanke -- und nur ein solcher konnte dies
trotz allem unvergleichliche Staatengebilde schaffen, mit dem nach einem Worte
Kjellöns die planetarische Epoche der Menschheit im Ernst eingeleitet wurde.

Aber dies glänzende Bild verdunkelt sich bald vor dem geschärften Blicke
des Gegners. Britische Organisationskunst feiert ihre Triumphe, wo stamm¬
verwandte Siedler in öden oder von tiefstehenden Rassen besetzten Gebieten ein
Neuengland jenseits des Ozeans gegründet haben -- so in Australien, in Kanada.
Wo sie mit andersgearteter Kultur zusammentrifft, findet sie, trotz hervorragender
Leistungen im einzelnen, ihre Schranken an der insularen Verständnislosigkeit
des Engländers für fremde Eigenart. Das zeigt das irische Problem, das auch,
wenn Komo rulö nicht auf so hartnäckige Widerstände stieße, noch lange nicht
gelöst sein würde; das zeigt Südafrika, wo eine schlaue Versöhnungspolitik das
mit Gewalt niedergeschlagene Burenvolk, das durch den Schein der verlorenen
Freiheit für das Britenreich gewonnen werden sollte, in seinen besseren Ele¬
menten nicht getäuscht hat. In Indien vollends und auf dem Boden des Islams
vermochte England in einer Politik von bewundernswerter Klugheit durch eine
Mischung von Milde und Strenge, durch listiges Ausspielen der herrschenden
Gegensätze und durch Gewährung materieller Vorteile wohl seine Vorherrschaft
aufzurichten, nicht aber den lodernden Haß bei den denkenden Schichten der
unterworfenen Völker zu bannen, durch den, wenn nicht alles trügt, des größeren
Britanniens Schicksalsstunde nahe gerückt ist. Englands patriarchalischer Welt-
staatsgedanke kann nicht das System eines Jahrhunderts sein, das nach vollständiger
Überwindung des Weltbürgertums eine stärkere Entfaltung nationaler Eigenart und
nationalen Selbstbestimmungsdranges mit sich bringt, als sie je die Welt gesehen.


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Der deutsche Staatsgedanke

überlegenen staatlichen Kultur, sondern durch brutale Gewalt, die auch höher
stehende Nationen auf den eigenen tieferen Stand Herabdrücken will.

Wie anders steht das englische Weltreich da! Der gerechte Zorn über
seine entartete und gewissenlose Politik kann uns nicht blind dagegen machen,
welch stolzer Bau nach neuem Plane hier von einem germanischen Volke errichtet
worden ist. Wie in Englands innerer Entwicklung angeborener Unabhängig¬
keitssinn schon früh das Recht des einzelnen gegenüber der Regierungsgewalt
betonte, so hat es auch in seiner Kolonialpolitik zuerst bewußt mit dem System
der Zentralisation gebrochen. Besonders nach der bitteren Lehre des nord¬
amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sehen wir es in weitgehendem Maße
geneigt, einzelnen Teilen seines Riesenbesitzes ein bisher unerhörtes Maß von
Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu gewähren. Und auch dort, wo es
einen höheren Grad von Abhängigkeit für notwendig erachtete, hat es sich von
schematischer Gleichmacherei stets ferngehalten, gegebene örtliche, nationale,
geschichtliche Unterschiede klug bewahrend. So erscheint dem wohlwollenden
Beobachter das komplizierte System des britischen Reiches unter dem Bilde
einer Familie, in der die Mutter die Eigenart ihrer Kinder achtet und ihnen
je nach ihrer Reife größere oder geringere Freiheit läßt. Zweifellos ein neuer
und großer politischer Organisationsgedanke — und nur ein solcher konnte dies
trotz allem unvergleichliche Staatengebilde schaffen, mit dem nach einem Worte
Kjellöns die planetarische Epoche der Menschheit im Ernst eingeleitet wurde.

Aber dies glänzende Bild verdunkelt sich bald vor dem geschärften Blicke
des Gegners. Britische Organisationskunst feiert ihre Triumphe, wo stamm¬
verwandte Siedler in öden oder von tiefstehenden Rassen besetzten Gebieten ein
Neuengland jenseits des Ozeans gegründet haben — so in Australien, in Kanada.
Wo sie mit andersgearteter Kultur zusammentrifft, findet sie, trotz hervorragender
Leistungen im einzelnen, ihre Schranken an der insularen Verständnislosigkeit
des Engländers für fremde Eigenart. Das zeigt das irische Problem, das auch,
wenn Komo rulö nicht auf so hartnäckige Widerstände stieße, noch lange nicht
gelöst sein würde; das zeigt Südafrika, wo eine schlaue Versöhnungspolitik das
mit Gewalt niedergeschlagene Burenvolk, das durch den Schein der verlorenen
Freiheit für das Britenreich gewonnen werden sollte, in seinen besseren Ele¬
menten nicht getäuscht hat. In Indien vollends und auf dem Boden des Islams
vermochte England in einer Politik von bewundernswerter Klugheit durch eine
Mischung von Milde und Strenge, durch listiges Ausspielen der herrschenden
Gegensätze und durch Gewährung materieller Vorteile wohl seine Vorherrschaft
aufzurichten, nicht aber den lodernden Haß bei den denkenden Schichten der
unterworfenen Völker zu bannen, durch den, wenn nicht alles trügt, des größeren
Britanniens Schicksalsstunde nahe gerückt ist. Englands patriarchalischer Welt-
staatsgedanke kann nicht das System eines Jahrhunderts sein, das nach vollständiger
Überwindung des Weltbürgertums eine stärkere Entfaltung nationaler Eigenart und
nationalen Selbstbestimmungsdranges mit sich bringt, als sie je die Welt gesehen.


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[0399] Der deutsche Staatsgedanke überlegenen staatlichen Kultur, sondern durch brutale Gewalt, die auch höher stehende Nationen auf den eigenen tieferen Stand Herabdrücken will. Wie anders steht das englische Weltreich da! Der gerechte Zorn über seine entartete und gewissenlose Politik kann uns nicht blind dagegen machen, welch stolzer Bau nach neuem Plane hier von einem germanischen Volke errichtet worden ist. Wie in Englands innerer Entwicklung angeborener Unabhängig¬ keitssinn schon früh das Recht des einzelnen gegenüber der Regierungsgewalt betonte, so hat es auch in seiner Kolonialpolitik zuerst bewußt mit dem System der Zentralisation gebrochen. Besonders nach der bitteren Lehre des nord¬ amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sehen wir es in weitgehendem Maße geneigt, einzelnen Teilen seines Riesenbesitzes ein bisher unerhörtes Maß von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu gewähren. Und auch dort, wo es einen höheren Grad von Abhängigkeit für notwendig erachtete, hat es sich von schematischer Gleichmacherei stets ferngehalten, gegebene örtliche, nationale, geschichtliche Unterschiede klug bewahrend. So erscheint dem wohlwollenden Beobachter das komplizierte System des britischen Reiches unter dem Bilde einer Familie, in der die Mutter die Eigenart ihrer Kinder achtet und ihnen je nach ihrer Reife größere oder geringere Freiheit läßt. Zweifellos ein neuer und großer politischer Organisationsgedanke — und nur ein solcher konnte dies trotz allem unvergleichliche Staatengebilde schaffen, mit dem nach einem Worte Kjellöns die planetarische Epoche der Menschheit im Ernst eingeleitet wurde. Aber dies glänzende Bild verdunkelt sich bald vor dem geschärften Blicke des Gegners. Britische Organisationskunst feiert ihre Triumphe, wo stamm¬ verwandte Siedler in öden oder von tiefstehenden Rassen besetzten Gebieten ein Neuengland jenseits des Ozeans gegründet haben — so in Australien, in Kanada. Wo sie mit andersgearteter Kultur zusammentrifft, findet sie, trotz hervorragender Leistungen im einzelnen, ihre Schranken an der insularen Verständnislosigkeit des Engländers für fremde Eigenart. Das zeigt das irische Problem, das auch, wenn Komo rulö nicht auf so hartnäckige Widerstände stieße, noch lange nicht gelöst sein würde; das zeigt Südafrika, wo eine schlaue Versöhnungspolitik das mit Gewalt niedergeschlagene Burenvolk, das durch den Schein der verlorenen Freiheit für das Britenreich gewonnen werden sollte, in seinen besseren Ele¬ menten nicht getäuscht hat. In Indien vollends und auf dem Boden des Islams vermochte England in einer Politik von bewundernswerter Klugheit durch eine Mischung von Milde und Strenge, durch listiges Ausspielen der herrschenden Gegensätze und durch Gewährung materieller Vorteile wohl seine Vorherrschaft aufzurichten, nicht aber den lodernden Haß bei den denkenden Schichten der unterworfenen Völker zu bannen, durch den, wenn nicht alles trügt, des größeren Britanniens Schicksalsstunde nahe gerückt ist. Englands patriarchalischer Welt- staatsgedanke kann nicht das System eines Jahrhunderts sein, das nach vollständiger Überwindung des Weltbürgertums eine stärkere Entfaltung nationaler Eigenart und nationalen Selbstbestimmungsdranges mit sich bringt, als sie je die Welt gesehen. 25*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/399>, abgerufen am 03.07.2024.