Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der deutsche Staatsgedanke

punkte aus geleitet und in dessen Interesse wirksam. Je länger je mehr steigerte
sich die Tendenz zur Vereinheitlichung, bis ihre Kraft an dem Widerstande
eines jugendlichen, hochbegabten Volkes zerbrach, das sich in ungestümem
Selbständigkeitsdrange unter dies doch so sanfte Joch nicht beugen wollte. Die
Germanen schlugen das Römerreich in Trümmer; aber ein ihm ebenbürtiges
Staatsgebilde vermochten sie damals nicht aufzurichten.

Auch in des großen Karl kühner Schöpfung, mochte sie auch an die
römische Überlieferung anknüpfen, war der römische Staatsgedanke nicht wirksam,
und der Keim eines neuen, der in ihm lag, konnte sich nicht entfalten. Es
braucht nicht wiederholt zu werden, wie der gleiche deutsche Selbständigkeits¬
und Besonderungstrieb, an dem das alte Rom zerschellt war, die Macht der
Krone des gewaltigen Karolingers selbst im engeren deutschen Gebiet Schritt
um Schritt beschränkte; wie hätten deren Träger daran denken können, im
Umkreise der Nachbarvölker aus dem Idealbilds eines Oberhauptes der gesamten
Christenheit Wirklichkeit zu machen! So ward allmählich das heilige römische
Reich deutscher Nation jenes ohnmächtige, kaum durch sein Alter ehrwürdige
Gebilde, das schließlich vom Sturmhauche der Revolution mit Recht hinweg¬
gefegt wurde.

Erst in der späten Neuzeit ward, von rasch vorübergehenden weltgeschicht¬
lichen Episoden abgesehen, der Gedanke der Weltherrschaft wieder aus dem
Reich der Träume in das der politischen Wirklichkeit und Wirksamkeit zurück¬
geführt; aber seine Träger waren jetzt andere Völker. Frankreichs Anlauf
dazu vor hundert Jahren freilich war im wesentlichen das Werk eines einzelnen
und trug schon deshalb den Todeskeim in sich, aber auch sein Gedankengehalt
war über das römische Vereinheitlichungsprinzip nicht hinausgekommen. Von
Napoleon, dem Bewunderer Cäsars, war hierin ebensowenig zu erwarten, wie
von dem auch im Innern seit Jahrhunderten straff zentralisierten Staate. Aber
was vor fast zwei Jahrtausenden unter Barbaren und Dekadenten möglich
gewesen war, das mußte im modernen Westeuropa scheitern. Die lateinischen
Völker vermochten nicht das Staatsideal Roms durch etwas Neues zu ersetzen.

nachhaltiger und dauernder erheben nun zwei andere Mächte den Anspruch
auf Weltgeltung, beide gestützt auf gewaltige, wenn auch untereinander höchst
verschiedene Hilfsquellen: Rußland und England. Was jenes an staatlichen
Kulturgedanken zu bringen hat. das hat seine Geschichte, hat die Geschichte
Polens und Finnlands so deutlich gezeigt, daß mau sich nicht lange dabei auf¬
zuhalten braucht. Der jahrhundertalte Drang nach Konstantinopel, dem heiligen
Zarigrad, deutet überdies genügend an, daß das russische Staatsideal in einer
Fortsetzung des Byzantinerreiches gelegen ist, jenes zäheren, aber erstarrten
Restes römischer Weltherrschaft. Statt einer Weiterentwicklung des römischen
Staatsgedankens aber finden wir eine Herabziehung und Vergröberung durch
das Fortleben des mongolischen Despotismus. Auch hier das Streben nach
Gleichmachung und Vereinheitlichung, aber nicht durch die Ausbreitung einer


Der deutsche Staatsgedanke

punkte aus geleitet und in dessen Interesse wirksam. Je länger je mehr steigerte
sich die Tendenz zur Vereinheitlichung, bis ihre Kraft an dem Widerstande
eines jugendlichen, hochbegabten Volkes zerbrach, das sich in ungestümem
Selbständigkeitsdrange unter dies doch so sanfte Joch nicht beugen wollte. Die
Germanen schlugen das Römerreich in Trümmer; aber ein ihm ebenbürtiges
Staatsgebilde vermochten sie damals nicht aufzurichten.

Auch in des großen Karl kühner Schöpfung, mochte sie auch an die
römische Überlieferung anknüpfen, war der römische Staatsgedanke nicht wirksam,
und der Keim eines neuen, der in ihm lag, konnte sich nicht entfalten. Es
braucht nicht wiederholt zu werden, wie der gleiche deutsche Selbständigkeits¬
und Besonderungstrieb, an dem das alte Rom zerschellt war, die Macht der
Krone des gewaltigen Karolingers selbst im engeren deutschen Gebiet Schritt
um Schritt beschränkte; wie hätten deren Träger daran denken können, im
Umkreise der Nachbarvölker aus dem Idealbilds eines Oberhauptes der gesamten
Christenheit Wirklichkeit zu machen! So ward allmählich das heilige römische
Reich deutscher Nation jenes ohnmächtige, kaum durch sein Alter ehrwürdige
Gebilde, das schließlich vom Sturmhauche der Revolution mit Recht hinweg¬
gefegt wurde.

Erst in der späten Neuzeit ward, von rasch vorübergehenden weltgeschicht¬
lichen Episoden abgesehen, der Gedanke der Weltherrschaft wieder aus dem
Reich der Träume in das der politischen Wirklichkeit und Wirksamkeit zurück¬
geführt; aber seine Träger waren jetzt andere Völker. Frankreichs Anlauf
dazu vor hundert Jahren freilich war im wesentlichen das Werk eines einzelnen
und trug schon deshalb den Todeskeim in sich, aber auch sein Gedankengehalt
war über das römische Vereinheitlichungsprinzip nicht hinausgekommen. Von
Napoleon, dem Bewunderer Cäsars, war hierin ebensowenig zu erwarten, wie
von dem auch im Innern seit Jahrhunderten straff zentralisierten Staate. Aber
was vor fast zwei Jahrtausenden unter Barbaren und Dekadenten möglich
gewesen war, das mußte im modernen Westeuropa scheitern. Die lateinischen
Völker vermochten nicht das Staatsideal Roms durch etwas Neues zu ersetzen.

nachhaltiger und dauernder erheben nun zwei andere Mächte den Anspruch
auf Weltgeltung, beide gestützt auf gewaltige, wenn auch untereinander höchst
verschiedene Hilfsquellen: Rußland und England. Was jenes an staatlichen
Kulturgedanken zu bringen hat. das hat seine Geschichte, hat die Geschichte
Polens und Finnlands so deutlich gezeigt, daß mau sich nicht lange dabei auf¬
zuhalten braucht. Der jahrhundertalte Drang nach Konstantinopel, dem heiligen
Zarigrad, deutet überdies genügend an, daß das russische Staatsideal in einer
Fortsetzung des Byzantinerreiches gelegen ist, jenes zäheren, aber erstarrten
Restes römischer Weltherrschaft. Statt einer Weiterentwicklung des römischen
Staatsgedankens aber finden wir eine Herabziehung und Vergröberung durch
das Fortleben des mongolischen Despotismus. Auch hier das Streben nach
Gleichmachung und Vereinheitlichung, aber nicht durch die Ausbreitung einer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0398" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329626"/>
          <fw type="header" place="top"> Der deutsche Staatsgedanke</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1396" prev="#ID_1395"> punkte aus geleitet und in dessen Interesse wirksam. Je länger je mehr steigerte<lb/>
sich die Tendenz zur Vereinheitlichung, bis ihre Kraft an dem Widerstande<lb/>
eines jugendlichen, hochbegabten Volkes zerbrach, das sich in ungestümem<lb/>
Selbständigkeitsdrange unter dies doch so sanfte Joch nicht beugen wollte. Die<lb/>
Germanen schlugen das Römerreich in Trümmer; aber ein ihm ebenbürtiges<lb/>
Staatsgebilde vermochten sie damals nicht aufzurichten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1397"> Auch in des großen Karl kühner Schöpfung, mochte sie auch an die<lb/>
römische Überlieferung anknüpfen, war der römische Staatsgedanke nicht wirksam,<lb/>
und der Keim eines neuen, der in ihm lag, konnte sich nicht entfalten. Es<lb/>
braucht nicht wiederholt zu werden, wie der gleiche deutsche Selbständigkeits¬<lb/>
und Besonderungstrieb, an dem das alte Rom zerschellt war, die Macht der<lb/>
Krone des gewaltigen Karolingers selbst im engeren deutschen Gebiet Schritt<lb/>
um Schritt beschränkte; wie hätten deren Träger daran denken können, im<lb/>
Umkreise der Nachbarvölker aus dem Idealbilds eines Oberhauptes der gesamten<lb/>
Christenheit Wirklichkeit zu machen! So ward allmählich das heilige römische<lb/>
Reich deutscher Nation jenes ohnmächtige, kaum durch sein Alter ehrwürdige<lb/>
Gebilde, das schließlich vom Sturmhauche der Revolution mit Recht hinweg¬<lb/>
gefegt wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1398"> Erst in der späten Neuzeit ward, von rasch vorübergehenden weltgeschicht¬<lb/>
lichen Episoden abgesehen, der Gedanke der Weltherrschaft wieder aus dem<lb/>
Reich der Träume in das der politischen Wirklichkeit und Wirksamkeit zurück¬<lb/>
geführt; aber seine Träger waren jetzt andere Völker. Frankreichs Anlauf<lb/>
dazu vor hundert Jahren freilich war im wesentlichen das Werk eines einzelnen<lb/>
und trug schon deshalb den Todeskeim in sich, aber auch sein Gedankengehalt<lb/>
war über das römische Vereinheitlichungsprinzip nicht hinausgekommen. Von<lb/>
Napoleon, dem Bewunderer Cäsars, war hierin ebensowenig zu erwarten, wie<lb/>
von dem auch im Innern seit Jahrhunderten straff zentralisierten Staate. Aber<lb/>
was vor fast zwei Jahrtausenden unter Barbaren und Dekadenten möglich<lb/>
gewesen war, das mußte im modernen Westeuropa scheitern. Die lateinischen<lb/>
Völker vermochten nicht das Staatsideal Roms durch etwas Neues zu ersetzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1399" next="#ID_1400"> nachhaltiger und dauernder erheben nun zwei andere Mächte den Anspruch<lb/>
auf Weltgeltung, beide gestützt auf gewaltige, wenn auch untereinander höchst<lb/>
verschiedene Hilfsquellen: Rußland und England. Was jenes an staatlichen<lb/>
Kulturgedanken zu bringen hat. das hat seine Geschichte, hat die Geschichte<lb/>
Polens und Finnlands so deutlich gezeigt, daß mau sich nicht lange dabei auf¬<lb/>
zuhalten braucht. Der jahrhundertalte Drang nach Konstantinopel, dem heiligen<lb/>
Zarigrad, deutet überdies genügend an, daß das russische Staatsideal in einer<lb/>
Fortsetzung des Byzantinerreiches gelegen ist, jenes zäheren, aber erstarrten<lb/>
Restes römischer Weltherrschaft. Statt einer Weiterentwicklung des römischen<lb/>
Staatsgedankens aber finden wir eine Herabziehung und Vergröberung durch<lb/>
das Fortleben des mongolischen Despotismus. Auch hier das Streben nach<lb/>
Gleichmachung und Vereinheitlichung, aber nicht durch die Ausbreitung einer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0398] Der deutsche Staatsgedanke punkte aus geleitet und in dessen Interesse wirksam. Je länger je mehr steigerte sich die Tendenz zur Vereinheitlichung, bis ihre Kraft an dem Widerstande eines jugendlichen, hochbegabten Volkes zerbrach, das sich in ungestümem Selbständigkeitsdrange unter dies doch so sanfte Joch nicht beugen wollte. Die Germanen schlugen das Römerreich in Trümmer; aber ein ihm ebenbürtiges Staatsgebilde vermochten sie damals nicht aufzurichten. Auch in des großen Karl kühner Schöpfung, mochte sie auch an die römische Überlieferung anknüpfen, war der römische Staatsgedanke nicht wirksam, und der Keim eines neuen, der in ihm lag, konnte sich nicht entfalten. Es braucht nicht wiederholt zu werden, wie der gleiche deutsche Selbständigkeits¬ und Besonderungstrieb, an dem das alte Rom zerschellt war, die Macht der Krone des gewaltigen Karolingers selbst im engeren deutschen Gebiet Schritt um Schritt beschränkte; wie hätten deren Träger daran denken können, im Umkreise der Nachbarvölker aus dem Idealbilds eines Oberhauptes der gesamten Christenheit Wirklichkeit zu machen! So ward allmählich das heilige römische Reich deutscher Nation jenes ohnmächtige, kaum durch sein Alter ehrwürdige Gebilde, das schließlich vom Sturmhauche der Revolution mit Recht hinweg¬ gefegt wurde. Erst in der späten Neuzeit ward, von rasch vorübergehenden weltgeschicht¬ lichen Episoden abgesehen, der Gedanke der Weltherrschaft wieder aus dem Reich der Träume in das der politischen Wirklichkeit und Wirksamkeit zurück¬ geführt; aber seine Träger waren jetzt andere Völker. Frankreichs Anlauf dazu vor hundert Jahren freilich war im wesentlichen das Werk eines einzelnen und trug schon deshalb den Todeskeim in sich, aber auch sein Gedankengehalt war über das römische Vereinheitlichungsprinzip nicht hinausgekommen. Von Napoleon, dem Bewunderer Cäsars, war hierin ebensowenig zu erwarten, wie von dem auch im Innern seit Jahrhunderten straff zentralisierten Staate. Aber was vor fast zwei Jahrtausenden unter Barbaren und Dekadenten möglich gewesen war, das mußte im modernen Westeuropa scheitern. Die lateinischen Völker vermochten nicht das Staatsideal Roms durch etwas Neues zu ersetzen. nachhaltiger und dauernder erheben nun zwei andere Mächte den Anspruch auf Weltgeltung, beide gestützt auf gewaltige, wenn auch untereinander höchst verschiedene Hilfsquellen: Rußland und England. Was jenes an staatlichen Kulturgedanken zu bringen hat. das hat seine Geschichte, hat die Geschichte Polens und Finnlands so deutlich gezeigt, daß mau sich nicht lange dabei auf¬ zuhalten braucht. Der jahrhundertalte Drang nach Konstantinopel, dem heiligen Zarigrad, deutet überdies genügend an, daß das russische Staatsideal in einer Fortsetzung des Byzantinerreiches gelegen ist, jenes zäheren, aber erstarrten Restes römischer Weltherrschaft. Statt einer Weiterentwicklung des römischen Staatsgedankens aber finden wir eine Herabziehung und Vergröberung durch das Fortleben des mongolischen Despotismus. Auch hier das Streben nach Gleichmachung und Vereinheitlichung, aber nicht durch die Ausbreitung einer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/398
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/398>, abgerufen am 01.07.2024.